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Bereits zum fünften Mal trafen
sich – unter der bewährten Leitung von Prof. Dr. Pia SCHMID und PD Dr.
Edith GLASER – historisch arbeitende Erziehungswissenschaftlerinnen aller
Statusgruppen zu einer zweitägigen Arbeitstagung in Wittenberg. Vorgestellt
wurden in einem jeweils 20-minütigen Statement insgesamt zehn Projektvorhaben,
zumeist Qualifizierungsarbeiten (Dissertationen bzw. Habilitationen) aus der
Erziehungswissenschaft, aber auch aus der Geschichtswissenschaft, der Anglistik
und der Amerikanistik. An diese Beiträge schlossen sich kurze Kommentare
an, in denen die jeweiligen Expertinnen aufgefordert waren, zu den vorgetragenen
Thesen und (vorläufigen) Ergebnissen, zur Quellenauswahl und zur Methodik
Stellung zu beziehen, in einer Art und Weise, die der nachfolgenden Diskussion
Impulse verleihen sollte.
Den Auftakt bildete das Referat von Astrid WILKENS aus Frankfurt, „’Als
hätten wir keine rationalen Seelen wie die Männer auch’. Margaret
Cavendishs (1623-1673) cartesianisch motivierte Bildungsforderungen für
Frauen“. Die Referentin thematisierte in ihrem Beitrag Auswirkungen der Theorien
René Descartes’, vornehmlich seines Rationalitätspostulates, auf
die Bildungsvorstellungen englischer Frauen am Beispiel der Herzogin von
Newcastle, Margaret CAVENDISH. Auf der Basis des cartesianischen Begriffs
der allgemeinen menschlichen Vernunftfähigkeit, die CAVENDISH zufolge
die weibliche Vernunftbegabung einschloss, forderte die englische Aristokratin
in ihren zahlreichen Publikationen mehr Bildung für Frauen, vornehmlich
des eigenen adeligen Standes. Ihre Schriften sind verschiedenen Genren zuzuordnen:
neben einer Autobiographie verfasste sie sowohl Theaterstücke, die für
die gemeinsame Lektüre, nicht für Aufführungen gedacht waren,
als auch naturphilosophische Abhandlungen. Ausgehend von einer umfassenden
Kritik an der zeitgenössischen (Bildungs-)Situation von Frauen zeichnete
CAVENDISH in ihren diversen Theaterstücken ein durchweg positives Bild
der gelehrten Frau. Bildung – so die Philosophin – sei der einzige Weg zur
Tugend für beide Geschlechter. CAVENDISH als Cartesianerin zu bezeichnen,
sei jedoch nicht zutreffend, so Astrid WILKENS, da ihre Adaption der Descartes’schen
Theorien äußerst selektiv erfolgte. Das naturphilosophische Denken
der Herzogin unterschied sich doch in wesentlichen Zügen von Descartes´
Rationalismus. So ging CAVENDISH z.B. vom Vorhandensein einer „rationalen
Seele“ aus. Lediglich in punkto Bildung stimmten ihre Vorstellungen mit
denen Descartes’ überein. WILKENS sprach sich in ihrem Vortrag dafür
aus, CAVENDISH als eigenständige „Bildungsreformatorin“ anzuerkennen,
deren Bedeutung innerhalb der frühneuzeitlichen „Querelles des femmes“
allerdings noch herauszuarbeiten sei. In der anschließenden Diskussion
wurde festgehalten, dass die selektive Rezeption von Theorien gerade auch
von Frauen häufig zur Konstruktion eigener Autorität genutzt wurde
(vgl. z.B. die Rousseau-Rezeption von Frauen). Aufmerksam registriert wurde
die Tatsache, dass das ideengeschichtlich angelegte Projekt sich anderen als
den bekannten normativ-pädagogischen Quellen zugewandt hat. Das Interesse
Astrid WILKENS gilt pädagogischem Gedankengut in nicht explizit pädagogischen
Schriften, z.B. in Theaterstücken. Sie untersucht damit ein literarisches
Genre, das von der historisch-pädagogischen Frauen- und Geschlechterforschung
bis dato nicht berücksichtigt worden ist.
Der nachfolgende Beitrag von Rita CASALE, Frankfurt, über „Johann
Heinrich CAMPE und die tugendhafte zweite Natur“ führte den konstatierten
Genrewechsel fort. Anhand der Analyse von zwei frühen, nicht ausdrücklich
pädagogischen Schrif-ten Johann Heinrich CAMPES, seiner Dissertation,
„Nonnulla de vi consuetudinis. Quaestionibus hominianis addita“ (1768) und
des Werkes „Philosophischer Kommentar über die Worte des PLUTARCH: Die
Tugend ist eine lange Gewohnheit“ (1774), zeigte CASALE die Bedeutung des
Zusammenhanges von Ästhetik, Ethik und Pädagogik im 18. Jahrhundert
auf. CASALE ging von der Hypothese aus, „dass die Ästhetik das Erkenntnismaterial
lieferte, dass die moralische Gestaltung der Individuen durch Erziehung ermöglichte“.
Die daraus hervorgegangene moralische Erziehungslehre habe das ästhetische
Prinzip der Nachahmung der Natur, dessen Ursprung in der rhetorischen Tradition
liege, ersetzt durch die Ausbildung einer „zweiten Natur“ mittels der Gewohnheit.
Diese Verbindung von Ästhetik, Ethik und Pädagogik in den Frühschriften
CAMPES demonstrierte CASALE am Begriff der Tugend, wobei Campe Tugend nicht
mit dem „Hinweis auf das Bewusstsein oder auf ein innerliches Gefühl
der Sittlichkeit“ erklärt, sondern auf Begriffe wie „Gewohnheit“, „Übung“,
„Wiederholung“ und „Nachahmung“ zurückgreift. In Anlehnung an Henry
HOMES „Elements of Criticism“ (1762) handelt der Mensch tugendhaft aus Gewohnheit.
Aus Neigung, Übung und Wiederholung entsteht Fertigkeit und letztendlich
Tugend. Ziel der bildungstheoretischen- bzw. philosophischen Interpretation
Rita CASALES ist die Entwicklung einer neuen Lesart von CAMPES „Väterlichen
Rath für meine Tochter“. Die dort beschriebene Geschlechterordnung,
so lautet ihre These, werde nicht mittels einer Sonderanthropologie erklärt.
Geschlecht sei vielmehr als „zweite Natur“ zu verstehen. In der Diskussion
wurde angeregt, im Sinne einer Ausweitung der Frauenforschung zur Geschlechterforschung,
das „Gegenstück“ zum „Väterlichen Rath“, den „Theophron“, mit in
die Analyse einzubeziehen.
Anschließend stellte Anja MAY, ebenfalls Frankfurt, ihr Dissertationsprojekt
über „Erziehungsvorstellungen im Roman von Frauen und ihre Relation
zur pädagogischen Theorie um 1800: Die Konzeption der Tugend in der Geschichte
des Fräuleins von Sternheim“ vor. Die Referentin zeigte anhand der Konzeption
von Tugend, die ein zentrales Thema innerhalb der „Geschichte des Fräuleins
von Sternheim“ (1771) von Sophie von LA ROCHE darstellt, auf, dass zwischen
den Erziehungsvorstellungen im Roman und den zeitgenössischen bürgerlichen
Theorien zur weiblichen Erziehung und Bildung ein eigentümliches Spannungsverhältnis
besteht, das sich nicht in Begrifflichkeiten wie „theoretischer Vorlage“
und „literarischer Übersetzung“ fassen lässt. MAYS erklärtes
Ziel ist die Erbringung des Nachweises, dass der Roman als „eigenständiger
und kritischer Beitrag zu den aufklärerischen Diskussionen über
Mädchenerziehung und Frauenbildung betrachtet werden muss“. MAY interpretierte
dieses Spannungsverhältnis resp. die Widersprüchlichkeit der Aussagen
der Autorin als Schreibstrategie, die den Frauen die Möglichkeit geboten
habe, aktiv am herrschenden, vornehmlich von Männern geführten
Diskurs über das Wesen der Frau teilzunehmen. In der Diskussion wurde
thematisiert, dass die erste Generation von Frauenforscherinnen dieses gezielte
„doppelte Sprechen“ nicht wahrgenommen habe, sondern die Texte mit Hilfe
der „Repressionshypothese“ ausgelegt habe. Diskussionsbedarf bestand nach
Ansicht des Plenums allerdings bei der Frage, ob das „doppelte Sprechen“
als genuin weibliche Schreibstrategie vereinnahmt werden darf, oder ob es
nicht – unabhängig vom Geschlecht des Verfassers/der Verfasserin – eher
ein charakteristisches Kennzeichen des fiktionalen Diskurses darstellt.
Der Beitrag von Yvonne LEIMGRUBER, Halle-Wittenberg, „Ohne Beziehung läuft
nichts“. Eine Analyse der Netzwerke der schweizerischen Pädagogin Rosette
NIEDERER-KASTHOFER (1779-1857)“ beschrieb das weitverzweigte Netzwerk, welches
NIEDERER-KASTHOFER in ihrer 40-jährigen Laufbahn als Pädagogin,
Institutsleiterin und Publizistin aufbaute und auf vielfältige Weise
nutzte. Die Struktur der Beziehungen NIEDERER-KASTHOFERS sowie deren Inhalte
und Qualität wurden in dem Vortrag transparent gemacht. LEIMGRUBER ging
von der Prämisse aus, dass derartige Netzwerke „zur Erlangung von Zielen
aufgebaut und instrumentalisiert werden, und dass sie nach geordneten Mustern
strukturiert sind.“ Quellen aus dem Alltagsleben der Pädagogin, wie z.B.
Briefe und Tagebucheintragungen, Briefe von Arbeitskollegen, Bekannten und
Familien ihrer Zöglinge bilden die Basis von LEIMGRUBERS Untersuchung.
Vorläufig ließen sich – so die Referentin – Beziehungen pädagogischer,
ökonomischer, religiöser und familiärer Vernetzung unterscheiden.
Hinzu komme die Analyse der Beziehungen NIEDERER-KASTHOFERS zu ihren Schülerinnen.
LEIMGRUBER betonte die Vielzahl der Handlungsmöglichkeiten der Pädagogin,
die sie sich ihr durch ihr strategisches Geschick als Unternehmerin eröffneten,
zu einer Zeit, in der Frauen sich weitgehenden gesellschaftlichen und kulturellen
Einschränkungen zu unterwerfen hatten. In ihrem Vortrag arbeitete LEIMGRUBER
hauptsächlich mit den sogenannten W-Fragen (wer, wann, warum, wozu, womit),
die HistorikerInnen traditionell an ihre Quellen richten. Überlegenswert
wäre, so wurde angeregt, die theoretischen Grundlagen soziologischer
Netzwerkanalyse (z.B. Barry WELLMANN) in die Arbeit mit einzubeziehen.
In dem nachfolgenden Beitrag präsentierte Katja MÜNCHOW, Halle-Wittenberg,
die regionalgeschichtliche Studie „Die Anfänge der öffentlichen
Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert und ihre Wechselbeziehung zur frühen
Frauenbewegung – Exemplarische Untersuchung der Entwicklungsprozesse im Raum
Bitterfeld und Halle“. Ziel des Projektes ist die exemplarische Erfassung
und Analyse der Wechselbeziehung zwischen Demokratiebewegung, früher
Frauenbewegung und Kindergartenbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts
anhand der Region Halle-Bitterfeld. Die Untersuchung ist im Schnittfeld von
Historischer Pädagogik, Frauengeschichte und Politikgeschichte angesiedelt.
Die einzelnen Bewegungen seien, so die Aussage der Referentin, unterschiedlich
gut erforscht, das Projekt ziele jedoch auf die inhaltlichen und personellen
Verknüpfungen, die sich zwischen den drei Bewegungen ergäben. MÜNCHOWS
Vortrag betonte die personellen Verflechtungen zwischen einzelnen Mitgliedern
der Bewegungen, vornehmlich zwischen FRÖBEL, HILDENHAGEN und Amalie KRÜGER,
worüber die Frage nach Verflechtungen konzeptioneller Art zu kurz kam.
Nachfragen ergaben sich nach der Wahl des geographischen Raumes und nach
den Quellen bzw. Quellengattungen, wobei in der Diskussion offen blieb, auf
welche theoretischen Konzepte die vorgestellte Untersuchung zurückgreifen
sollte.
Inga PINHARD, Heidelberg, stellte ihr Dissertationsvorhaben „Jane ADDAMS
– Demokratie, Erfahrung, Erziehung“ zur Diskussion. Das Ziel ihrer Arbeit
liegt in der „systematische[n] Erschließung des Werkes und der (deutschen)
Rezeption von Jane ADDAMS, mit der Absicht, es für aktuelle Diskussionen
zugänglich zu machen“. Rezipiert wurde ADDAMS vor allem in der sozialpädagogisch
tätigen Fraktion der bürgerlichen Frauenbewegung Deutschlands.
Ein Vergleich von Jane ADDAMS mit Alice SALOMON wäre daher ausgesprochen
interessant, ist aber im Rahmen dieses Forschungsprojekts wohl nicht leistbar.
Ausgehend von dem sozialen, historischen und politischen Kontext, der die
Basis für ADDAMS’ Wirken bildete, sollen die anthropologischen und gesellschaftlichen
Prämissen und Visionen einer neuen sozialen Ethik der amerikanischen
Feministin und Sozialphilosophin rekonstruiert werden. PINHARD formulierte
die These, dass Jane ADDAMS als „autonome Gesellschafts- und Erzie-hungstheoretikerin“
verstanden werden müsse, die zum einen eine feministische Theorie des
kritischen Pragmatismus entwickelt habe, und zum anderen in ihrem sozialen,
pädagogischen und politischem Handeln umgesetzt habe. Diese These wurde
äußerst kontrovers diskutiert, indem zu bedenken gegeben wurde,
dass neue theoretische Ansätze immer in Abgrenzung zu und Weiterentwicklung
von bereits vorhandenen Theorien entstehen. Die Frage sei, ob das Insistieren
auf Autonomie, eine Haltung, die auch in Astrid WILKENS’ Beitrag aufgefallen
war, mit der Tendenz zusammenhänge, weibliche Klassiker in der Historischen
Pädagogik zu generieren. Der Versuch, „Klassikerinnen“ im Kanon der
Erziehungswissenschaft zu etablieren, wurde von den Diskussionsteilnehmerinnen
außerordentlich ambivalent bewertet.
Henriette SCHMITZ, Fulda, will in ihrem Dissertationsprojekt „Weiblichkeit
und soziale Differenz – Einflussfaktoren der beruflichen Bildung um 1900“
eine vielbeklagte Forschungslücke schließen. Zwar gibt es in der
Bildungsgeschichte mittlerweile eine Vielzahl wissenschaftlicher Literatur
zur Bildungssituation von (jungen) Mädchen, nicht jedoch zu erwachsenen
Frauen, die sich „in das für Frauen neue Feld der qualifizierten Berufstätigkeit
hineinbegeben wollten oder mussten“. Die Auseinandersetzung mit der These,
dass nicht alleine die Ableistung der allgemeinen Schulpflicht (in den diversen
Schulformen) wesentlich war für den weiteren Werdegang, sondern dass
durch darüber hinaus gehende qualifizierte berufliche Bildung die Lebensentwürfe
von Frauen sowie ihre Position im öffentlichen Raum maßgeblich
beeinflusst wurden, ist eine wesentliche Intention SCHMITZ’. Frauenbildung,
soziale Herkunft und Berufstätigkeit sind nach Ansicht der Referentin
eng miteinander verknüpfte Kategorien, deren Zusammenhang in dem Projekt
grundlegend analysiert werden solle. Einen weiteren Schwerpunkt stellt die
exemplarische Analyse der privaten berufsbildenden Schule Schwarzerden dar.
Ursprünglich konzipiert als ein Projekt, dass jüdische Jugendliche
(Jungen und Mädchen) auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiten
wollte, wurde die Schule 1927 von den beiden langjährigen Leiterinnen
Marie BUCHHOLD und Elisabeth VOGLER in eine Ausbildungsstätte für
Gymnastiklehrerinnen umgewandelt. Anhand von Tagebüchern, Veröffentlichungen
und narrativen Interviews will SCHMITZ die Lebensentwürfe ehemaliger
Schülerinnen transparent machen. Besonderes Augenmerk gilt der individuellen
Bedeutung der qualifizierten Berufsausbildung. Darüber hinaus möchte
SCHMITZ anhand von Schulunterlagen (Lehrplänen, Schultagebüchern,
Schuldokumenten etc.) auf die Bedeutungen und verschiedenen Interpretationen
von Weiblichkeit und beruflicher Bildung im Schulkontext aufmerksam machen
sowie untersuchen, ob Verallgemeinerungen von Bedeutungen auszumachen sind.
Hierbei soll der Zeitraum von der Schulgründung bis nach 1945 berücksichtigt
werden. In der Diskussion wurde angeregt, auch der Frage nachzugehen, mit
welchen Strategien es den Leiterinnen der Einrichtung gelungen sei, die Schule
in der NS-Zeit als staatlich anerkannte Anstalt zu halten und welche Konsequenzen
die Anpassung für Schülerinnen und Lehrerinnen hatte. Immerhin
hatte es in der Satzung der Schule 1929 noch geheißen, dass Mitarbeiterinnen
und Schülerinnen „unabhängig von der Zugehörigkeit zu sozialen
und nationalen Gruppen, Rassen, Religionen und Weltanschauungen aufgenommen“
würden.
Heike SCHAARSCHMIDT, Halle-Wittenberg, zeichnete in ihrem Promotionsvorhaben
„Von der Krankenschwester zu Oberin – Berufsverläufe und Pflege in
den 70/80er Jahren im Ost/West-Vergleich“ Berufsverläufe weiblicher
Führungskräfte in der institutionalisierten Krankenpflege nach.
Leitungshandeln und -verhalten neh-men den zentralen Platz der Auswertung
ein. Ziel der Untersuchung ist „die empirisch hermeneutische Rekonstruktion
professionellen Handelns von Führungskräften mitsamt seinen institutionellen
und biographischen Rahmungen“. Mit Hilfe von narrativen Interviews soll die
Entwicklung der Berufsidentität unter den gesellschafts-politischen
und institutionell-strukturellen Bedingungen der ehemaligen DDR in den 70er
und 80er Jahren und der Bundesrepublik im gleichen Zeitraum rekonstruiert
werden. Auf der Basis biographisch bedingter Dispositionen sollen Handlungsmuster
im Führungsverhalten resp. kontrastierende Typen der Handlungsorientierungen
aus biographieanalytischer Perspektive herausgearbeitet werden. Im Zentrum
der Untersuchung stehen Frauen, an deren Professionalisierungswegen sich
die Entwicklungsprozesse im betreffenden Zeitraum sowie der zweifache Wandel
der institutionellen Bedingungen (individueller Transformationsprozess bei
gleichzeitiger Modernisierung des Gesundheitswesens) wiederfinden lassen.
Rosemarie GODEL-GAßNER, Ludwigsburg, widmete ihren Beitrag der „Geschichte
der mittleren Mädchenbildung in Baden und Württemberg von 1871
bis 1933 als Teil der allgemeinen Entwicklungsgeschichte der baden-württembergischen
Realschule“. Die These, dass der gegenwärtigen Realschule in Baden-Württemberg
zugrunde liegende, für beide Geschlechter beanspruchte Bildungskonzept
sei auf die „Koinzidenz zweier je nach Geschlecht zunächst ganz unterschiedlicher
mittlerer Bildungskonzepte zurückzuführen“, bildet den Ausgangspunkt
der Dissertation GODEL-GAßNERS. Die Referentin skizzierte zunächst
die verschiedenen Entwicklungslinien der Mädchen- bzw. Knabenrealschule
in Baden und Würtemberg und wies nach, dass die scheinbare Marginalität
der mädchenspezifischen Wurzeln der gegenwärtigen baden-württembergischen
Realschule aus einer vornehmlich androzentrisch ausgerichteten Geschichtsschreibung
resultiert. Im Vergleich zu Preußen weisen die beiden südwestdeutschen
Länder entscheidende Unterschiede auf. Der Südwesten löste
die drängende „Mädchenbildungsfrage“, so GODEL-GAßNER, mit
einer Doppelstrategie: „Zum einen forcierte man früher als in Preußen
die Institutionalisierung des öffentlichen Mädchenschulwesens, zum
anderen entsprach man dem steigenden Bildungsbedürfnis durch eine relativ
großzügige Zulassung der Mädchen zum Knabenschulwesen“. Baden
und Württemberg können somit als eine „Wiege der Koedukation“ gesehen
werden – wobei zwischen der geduldeten, passiven Anwesenheit der Mädchen
in mittleren Knabenschulen (Koinstruktion) und tatsächlicher Koedukation
differenziert werden muss. Im Unterschied zu Preußen, das den eigenständigen,
nach Geschlechtern getrennten Ausbau des öffentlichen mittleren Mädchenschulwesens
favorisierte, erfolgte in Baden und Württemberg also eine frühe
Integration, wobei die Relevanz pragmatischer Gründe für diese
Entscheidung außer Frage steht. So sicherte der Anteil der Schülerinnen
einer (Knaben-)Schule deren Fortbestand und erübrigte darüber hinaus
kostenträchtige Neugründungen von öffentlichen Mädchen-schulen.
In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass die Erforschung des mittleren
(Mädchen-)Schulwesens in der Bildungsgeschichte noch ausstehe, das
Projekt also eine vorhandene Forschungslücke schließe. Darüber
hinaus hätten regionalgeschichtliche Studien angesichts des in der „allgemeinen“
Bildungsgeschichte immer noch vorherrschenden Borussismus per se ihre Berechtigung.
Zum Abschluss der Tagung referierte Susanne MAURER, Tübingen/Jena
über die „Rekonstruktion der Dimension ‚Erfahrung’ in der historischen
Forschung“. In dem geschichtstheoretischen und -methodischen Beitrag galt
ihr Hauptinteresse der feministischen Geschichtsschreibung, die sie als „Arbeit
am gesellschaftlichen Gedächtnis“ versteht. Dabei vertritt sie in Anlehnung
an Georges DUBY die Auffassung, Geschichte sei als „kontrollierter Traum“
zu sehen. Die besondere Schwierigkeit bei der Geschichtsschreibung liege
darin, „ein ausgewogenes Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Strenge
(Quellenkritik, stabile Fundierung von Aussagen, Exaktheit, Genauigkeit und
Textkontrolle) und Faszination zu finden. Aufgabe der Historiographie sei
es ‚nicht zuletzt, den Leser zum Träumen zu bringen, wie der Historiker
seinerseits träumt’“. Einerseits werde hier, so MAURER, der Konstruktionscharakter
der Geschichtsschreibung thematisiert wie aber auch deren feste Bindung an
die Zeugnisse der Vergangenheit betont. Die kontrovers geführte Diskussion
entzündete sich vor allem am Begriff der Phantasie. Während einerseits
argumentiert wurde, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihrer Phantasie
methodische Zügel anzulegen hätten, wurde andererseits darauf insistiert,
dass Geschichtsschreibung ohne Phantasie, verstanden als die Fähigkeit,
Gedächtnisinhalte mit neuen, innovativen Vorstellungen zu verbinden,
nicht möglich sei.
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