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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Kleinau, Elke; Mattern, Christina
Titel: Frauen und Geschlechterforschung in der Historischen Pädagogik
Erscheinungsjahr: 2002
Text des Beitrages:

 
Bereits zum fünften Mal trafen sich – unter der bewährten Leitung von Prof. Dr. Pia SCHMID und PD Dr. Edith GLASER – historisch arbeitende Erziehungswissenschaftlerinnen aller Statusgruppen zu einer zweitägigen Arbeitstagung in Wittenberg. Vorgestellt wurden in einem jeweils 20-minütigen Statement insgesamt zehn Projektvorhaben, zumeist Qualifizierungsarbeiten (Dissertationen bzw. Habilitationen) aus der Erziehungswissenschaft, aber auch aus der Geschichtswissenschaft, der Anglistik und der Amerikanistik. An diese Beiträge schlossen sich kurze Kommentare an, in denen die jeweiligen Expertinnen aufgefordert waren, zu den vorgetragenen Thesen und (vorläufigen) Ergebnissen, zur Quellenauswahl und zur Methodik Stellung zu beziehen, in einer Art und Weise, die der nachfolgenden Diskussion Impulse verleihen sollte.
Den Auftakt bildete das Referat von Astrid WILKENS aus Frankfurt, „’Als hätten wir keine rationalen Seelen wie die Männer auch’. Margaret Cavendishs (1623-1673) cartesianisch motivierte Bildungsforderungen für Frauen“. Die Referentin thematisierte in ihrem Beitrag Auswirkungen der Theorien René Descartes’, vornehmlich seines Rationalitätspostulates, auf die Bildungsvorstellungen englischer Frauen am Beispiel der Herzogin von Newcastle, Margaret CAVENDISH. Auf der Basis des cartesianischen Begriffs der allgemeinen menschlichen Vernunftfähigkeit, die CAVENDISH zufolge die weibliche Vernunftbegabung einschloss, forderte die englische Aristokratin in ihren zahlreichen Publikationen mehr Bildung für Frauen, vornehmlich des eigenen adeligen Standes. Ihre Schriften sind verschiedenen Genren zuzuordnen: neben einer Autobiographie verfasste sie sowohl Theaterstücke, die für die gemeinsame Lektüre, nicht für Aufführungen gedacht waren, als auch naturphilosophische Abhandlungen. Ausgehend von einer umfassenden Kritik an der zeitgenössischen (Bildungs-)Situation von Frauen zeichnete CAVENDISH in ihren diversen Theaterstücken ein durchweg positives Bild der gelehrten Frau. Bildung – so die Philosophin – sei der einzige Weg zur Tugend für beide Geschlechter. CAVENDISH als Cartesianerin zu bezeichnen, sei jedoch nicht zutreffend, so Astrid WILKENS, da ihre Adaption der Descartes’schen Theorien äußerst selektiv erfolgte. Das naturphilosophische Denken der Herzogin unterschied sich doch in wesentlichen Zügen von Descartes´ Rationalismus. So ging CAVENDISH z.B. vom Vorhandensein einer „rationalen Seele“ aus. Lediglich in punkto Bildung stimmten ihre Vorstellungen mit denen Descartes’ überein. WILKENS sprach sich in ihrem Vortrag dafür aus, CAVENDISH als eigenständige „Bildungsreformatorin“ anzuerkennen, deren Bedeutung innerhalb der frühneuzeitlichen „Querelles des femmes“ allerdings noch herauszuarbeiten sei. In der anschließenden Diskussion wurde festgehalten, dass die selektive Rezeption von Theorien gerade auch von Frauen häufig zur Konstruktion eigener Autorität genutzt wurde (vgl. z.B. die Rousseau-Rezeption von Frauen). Aufmerksam registriert wurde die Tatsache, dass das ideengeschichtlich angelegte Projekt sich anderen als den bekannten normativ-pädagogischen Quellen zugewandt hat. Das Interesse Astrid WILKENS gilt pädagogischem Gedankengut in nicht explizit pädagogischen Schriften, z.B. in Theaterstücken. Sie untersucht damit ein literarisches Genre, das von der historisch-pädagogischen Frauen- und Geschlechterforschung bis dato nicht berücksichtigt worden ist.
Der nachfolgende Beitrag von Rita CASALE, Frankfurt, über „Johann Heinrich CAMPE und die tugendhafte zweite Natur“ führte den konstatierten Genrewechsel fort. Anhand der Analyse von zwei frühen, nicht ausdrücklich pädagogischen Schrif-ten Johann Heinrich CAMPES, seiner Dissertation, „Nonnulla de vi consuetudinis. Quaestionibus hominianis addita“ (1768) und des Werkes „Philosophischer Kommentar über die Worte des PLUTARCH: Die Tugend ist eine lange Gewohnheit“ (1774), zeigte CASALE die Bedeutung des Zusammenhanges von Ästhetik, Ethik und Pädagogik im 18. Jahrhundert auf. CASALE ging von der Hypothese aus, „dass die Ästhetik das Erkenntnismaterial lieferte, dass die moralische Gestaltung der Individuen durch Erziehung ermöglichte“. Die daraus hervorgegangene moralische Erziehungslehre habe das ästhetische Prinzip der Nachahmung der Natur, dessen Ursprung in der rhetorischen Tradition liege, ersetzt durch die Ausbildung einer „zweiten Natur“ mittels der Gewohnheit. Diese Verbindung von Ästhetik, Ethik und Pädagogik in den Frühschriften CAMPES demonstrierte CASALE am Begriff der Tugend, wobei Campe Tugend nicht mit dem „Hinweis auf das Bewusstsein oder auf ein innerliches Gefühl der Sittlichkeit“ erklärt, sondern auf Begriffe wie „Gewohnheit“, „Übung“, „Wiederholung“ und „Nachahmung“ zurückgreift. In Anlehnung an Henry HOMES „Elements of Criticism“ (1762) handelt der Mensch tugendhaft aus Gewohnheit. Aus Neigung, Übung und Wiederholung entsteht Fertigkeit und letztendlich Tugend. Ziel der bildungstheoretischen- bzw. philosophischen Interpretation Rita CASALES ist die Entwicklung einer neuen Lesart von CAMPES „Väterlichen Rath für meine Tochter“. Die dort beschriebene Geschlechterordnung, so lautet ihre These, werde nicht mittels einer Sonderanthropologie erklärt. Geschlecht sei vielmehr als „zweite Natur“ zu verstehen. In der Diskussion wurde angeregt, im Sinne einer Ausweitung der Frauenforschung zur Geschlechterforschung, das „Gegenstück“ zum „Väterlichen Rath“, den „Theophron“, mit in die Analyse einzubeziehen.
Anschließend stellte Anja MAY, ebenfalls Frankfurt, ihr Dissertationsprojekt über „Erziehungsvorstellungen im Roman von Frauen und ihre Relation zur pädagogischen Theorie um 1800: Die Konzeption der Tugend in der Geschichte des Fräuleins von Sternheim“ vor. Die Referentin zeigte anhand der Konzeption von Tugend, die ein zentrales Thema innerhalb der „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“ (1771) von Sophie von LA ROCHE darstellt, auf, dass zwischen den Erziehungsvorstellungen im Roman und den zeitgenössischen bürgerlichen Theorien zur weiblichen Erziehung und Bildung ein eigentümliches Spannungsverhältnis besteht, das sich nicht in Begrifflichkeiten wie „theoretischer Vorlage“ und „literarischer Übersetzung“ fassen lässt. MAYS erklärtes Ziel ist die Erbringung des Nachweises, dass der Roman als „eigenständiger und kritischer Beitrag zu den aufklärerischen Diskussionen über Mädchenerziehung und Frauenbildung betrachtet werden muss“. MAY interpretierte dieses Spannungsverhältnis resp. die Widersprüchlichkeit der Aussagen der Autorin als Schreibstrategie, die den Frauen die Möglichkeit geboten habe, aktiv am herrschenden, vornehmlich von Männern geführten Diskurs über das Wesen der Frau teilzunehmen. In der Diskussion wurde thematisiert, dass die erste Generation von Frauenforscherinnen dieses gezielte „doppelte Sprechen“ nicht wahrgenommen habe, sondern die Texte mit Hilfe der „Repressionshypothese“ ausgelegt habe. Diskussionsbedarf bestand nach Ansicht des Plenums allerdings bei der Frage, ob das „doppelte Sprechen“ als genuin weibliche Schreibstrategie vereinnahmt werden darf, oder ob es nicht – unabhängig vom Geschlecht des Verfassers/der Verfasserin – eher ein charakteristisches Kennzeichen des fiktionalen Diskurses darstellt.
Der Beitrag von Yvonne LEIMGRUBER, Halle-Wittenberg, „Ohne Beziehung läuft nichts“. Eine Analyse der Netzwerke der schweizerischen Pädagogin Rosette NIEDERER-KASTHOFER (1779-1857)“ beschrieb das weitverzweigte Netzwerk, welches NIEDERER-KASTHOFER in ihrer 40-jährigen Laufbahn als Pädagogin, Institutsleiterin und Publizistin aufbaute und auf vielfältige Weise nutzte. Die Struktur der Beziehungen NIEDERER-KASTHOFERS sowie deren Inhalte und Qualität wurden in dem Vortrag transparent gemacht. LEIMGRUBER ging von der Prämisse aus, dass derartige Netzwerke „zur Erlangung von Zielen aufgebaut und instrumentalisiert werden, und dass sie nach geordneten Mustern strukturiert sind.“ Quellen aus dem Alltagsleben der Pädagogin, wie z.B. Briefe und Tagebucheintragungen, Briefe von Arbeitskollegen, Bekannten und Familien ihrer Zöglinge bilden die Basis von LEIMGRUBERS Untersuchung. Vorläufig ließen sich – so die Referentin – Beziehungen pädagogischer, ökonomischer, religiöser und familiärer Vernetzung unterscheiden. Hinzu komme die Analyse der Beziehungen NIEDERER-KASTHOFERS zu ihren Schülerinnen. LEIMGRUBER betonte die Vielzahl der Handlungsmöglichkeiten der Pädagogin, die sie sich ihr durch ihr strategisches Geschick als Unternehmerin eröffneten, zu einer Zeit, in der Frauen sich weitgehenden gesellschaftlichen und kulturellen Einschränkungen zu unterwerfen hatten. In ihrem Vortrag arbeitete LEIMGRUBER hauptsächlich mit den sogenannten W-Fragen (wer, wann, warum, wozu, womit), die HistorikerInnen traditionell an ihre Quellen richten. Überlegenswert wäre, so wurde angeregt, die theoretischen Grundlagen soziologischer Netzwerkanalyse (z.B. Barry WELLMANN) in die Arbeit mit einzubeziehen.
In dem nachfolgenden Beitrag präsentierte Katja MÜNCHOW, Halle-Wittenberg, die regionalgeschichtliche Studie „Die Anfänge der öffentlichen Kleinkinderziehung im 19. Jahrhundert und ihre Wechselbeziehung zur frühen Frauenbewegung – Exemplarische Untersuchung der Entwicklungsprozesse im Raum Bitterfeld und Halle“. Ziel des Projektes ist die exemplarische Erfassung und Analyse der Wechselbeziehung zwischen Demokratiebewegung, früher Frauenbewegung und Kindergartenbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts anhand der Region Halle-Bitterfeld. Die Untersuchung ist im Schnittfeld von Historischer Pädagogik, Frauengeschichte und Politikgeschichte angesiedelt. Die einzelnen Bewegungen seien, so die Aussage der Referentin, unterschiedlich gut erforscht, das Projekt ziele jedoch auf die inhaltlichen und personellen Verknüpfungen, die sich zwischen den drei Bewegungen ergäben. MÜNCHOWS Vortrag betonte die personellen Verflechtungen zwischen einzelnen Mitgliedern der Bewegungen, vornehmlich zwischen FRÖBEL, HILDENHAGEN und Amalie KRÜGER, worüber die Frage nach Verflechtungen konzeptioneller Art zu kurz kam. Nachfragen ergaben sich nach der Wahl des geographischen Raumes und nach den Quellen bzw. Quellengattungen, wobei in der Diskussion offen blieb, auf welche theoretischen Konzepte die vorgestellte Untersuchung zurückgreifen sollte.
Inga PINHARD, Heidelberg, stellte ihr Dissertationsvorhaben „Jane ADDAMS – Demokratie, Erfahrung, Erziehung“ zur Diskussion. Das Ziel ihrer Arbeit liegt in der „systematische[n] Erschließung des Werkes und der (deutschen) Rezeption von Jane ADDAMS, mit der Absicht, es für aktuelle Diskussionen zugänglich zu machen“. Rezipiert wurde ADDAMS vor allem in der sozialpädagogisch tätigen Fraktion der bürgerlichen Frauenbewegung Deutschlands. Ein Vergleich von Jane ADDAMS mit Alice SALOMON wäre daher ausgesprochen interessant, ist aber im Rahmen dieses Forschungsprojekts wohl nicht leistbar. Ausgehend von dem sozialen, historischen und politischen Kontext, der die Basis für ADDAMS’ Wirken bildete, sollen die anthropologischen und gesellschaftlichen Prämissen und Visionen einer neuen sozialen Ethik der amerikanischen Feministin und Sozialphilosophin rekonstruiert werden. PINHARD formulierte die These, dass Jane ADDAMS als „autonome Gesellschafts- und Erzie-hungstheoretikerin“ verstanden werden müsse, die zum einen eine feministische Theorie des kritischen Pragmatismus entwickelt habe, und zum anderen in ihrem sozialen, pädagogischen und politischem Handeln umgesetzt habe. Diese These wurde äußerst kontrovers diskutiert, indem zu bedenken gegeben wurde, dass neue theoretische Ansätze immer in Abgrenzung zu und Weiterentwicklung von bereits vorhandenen Theorien entstehen. Die Frage sei, ob das Insistieren auf Autonomie, eine Haltung, die auch in Astrid WILKENS’ Beitrag aufgefallen war, mit der Tendenz zusammenhänge, weibliche Klassiker in der Historischen Pädagogik zu generieren. Der Versuch, „Klassikerinnen“ im Kanon der Erziehungswissenschaft zu etablieren, wurde von den Diskussionsteilnehmerinnen außerordentlich ambivalent bewertet.
Henriette SCHMITZ, Fulda, will in ihrem Dissertationsprojekt „Weiblichkeit und soziale Differenz – Einflussfaktoren der beruflichen Bildung um 1900“ eine vielbeklagte Forschungslücke schließen. Zwar gibt es in der Bildungsgeschichte mittlerweile eine Vielzahl wissenschaftlicher Literatur zur Bildungssituation von (jungen) Mädchen, nicht jedoch zu erwachsenen Frauen, die sich „in das für Frauen neue Feld der qualifizierten Berufstätigkeit hineinbegeben wollten oder mussten“. Die Auseinandersetzung mit der These, dass nicht alleine die Ableistung der allgemeinen Schulpflicht (in den diversen Schulformen) wesentlich war für den weiteren Werdegang, sondern dass durch darüber hinaus gehende qualifizierte berufliche Bildung die Lebensentwürfe von Frauen sowie ihre Position im öffentlichen Raum maßgeblich beeinflusst wurden, ist eine wesentliche Intention SCHMITZ’. Frauenbildung, soziale Herkunft und Berufstätigkeit sind nach Ansicht der Referentin eng miteinander verknüpfte Kategorien, deren Zusammenhang in dem Projekt grundlegend analysiert werden solle. Einen weiteren Schwerpunkt stellt die exemplarische Analyse der privaten berufsbildenden Schule Schwarzerden dar. Ursprünglich konzipiert als ein Projekt, dass jüdische Jugendliche (Jungen und Mädchen) auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiten wollte, wurde die Schule 1927 von den beiden langjährigen Leiterinnen Marie BUCHHOLD und Elisabeth VOGLER in eine Ausbildungsstätte für Gymnastiklehrerinnen umgewandelt. Anhand von Tagebüchern, Veröffentlichungen und narrativen Interviews will SCHMITZ die Lebensentwürfe ehemaliger Schülerinnen transparent machen. Besonderes Augenmerk gilt der individuellen Bedeutung der qualifizierten Berufsausbildung. Darüber hinaus möchte SCHMITZ anhand von Schulunterlagen (Lehrplänen, Schultagebüchern, Schuldokumenten etc.) auf die Bedeutungen und verschiedenen Interpretationen von Weiblichkeit und beruflicher Bildung im Schulkontext aufmerksam machen sowie untersuchen, ob Verallgemeinerungen von Bedeutungen auszumachen sind. Hierbei soll der Zeitraum von der Schulgründung bis nach 1945 berücksichtigt werden. In der Diskussion wurde angeregt, auch der Frage nachzugehen, mit welchen Strategien es den Leiterinnen der Einrichtung gelungen sei, die Schule in der NS-Zeit als staatlich anerkannte Anstalt zu halten und welche Konsequenzen die Anpassung für Schülerinnen und Lehrerinnen hatte. Immerhin hatte es in der Satzung der Schule 1929 noch geheißen, dass Mitarbeiterinnen und Schülerinnen „unabhängig von der Zugehörigkeit zu sozialen und nationalen Gruppen, Rassen, Religionen und Weltanschauungen aufgenommen“ würden.
Heike SCHAARSCHMIDT, Halle-Wittenberg, zeichnete in ihrem Promotionsvorhaben „Von der Krankenschwester zu Oberin – Berufsverläufe und Pflege in den 70/80er Jahren im Ost/West-Vergleich“ Berufsverläufe weiblicher Führungskräfte in der institutionalisierten Krankenpflege nach. Leitungshandeln und -verhalten neh-men den zentralen Platz der Auswertung ein. Ziel der Untersuchung ist „die empirisch hermeneutische Rekonstruktion professionellen Handelns von Führungskräften mitsamt seinen institutionellen und biographischen Rahmungen“. Mit Hilfe von narrativen Interviews soll die Entwicklung der Berufsidentität unter den gesellschafts-politischen und institutionell-strukturellen Bedingungen der ehemaligen DDR in den 70er und 80er Jahren und der Bundesrepublik im gleichen Zeitraum rekonstruiert werden. Auf der Basis biographisch bedingter Dispositionen sollen Handlungsmuster im Führungsverhalten resp. kontrastierende Typen der Handlungsorientierungen aus biographieanalytischer Perspektive herausgearbeitet werden. Im Zentrum der Untersuchung stehen Frauen, an deren Professionalisierungswegen sich die Entwicklungsprozesse im betreffenden Zeitraum sowie der zweifache Wandel der institutionellen Bedingungen (individueller Transformationsprozess bei gleichzeitiger Modernisierung des Gesundheitswesens) wiederfinden lassen.
Rosemarie GODEL-GAßNER, Ludwigsburg, widmete ihren Beitrag der „Geschichte der mittleren Mädchenbildung in Baden und Württemberg von 1871 bis 1933 als Teil der allgemeinen Entwicklungsgeschichte der baden-württembergischen Realschule“. Die These, dass der gegenwärtigen Realschule in Baden-Württemberg zugrunde liegende, für beide Geschlechter beanspruchte Bildungskonzept sei auf die „Koinzidenz zweier je nach Geschlecht zunächst ganz unterschiedlicher mittlerer Bildungskonzepte zurückzuführen“, bildet den Ausgangspunkt der Dissertation GODEL-GAßNERS. Die Referentin skizzierte zunächst die verschiedenen Entwicklungslinien der Mädchen- bzw. Knabenrealschule in Baden und Würtemberg und wies nach, dass die scheinbare Marginalität der mädchenspezifischen Wurzeln der gegenwärtigen baden-württembergischen Realschule aus einer vornehmlich androzentrisch ausgerichteten Geschichtsschreibung resultiert. Im Vergleich zu Preußen weisen die beiden südwestdeutschen Länder entscheidende Unterschiede auf. Der Südwesten löste die drängende „Mädchenbildungsfrage“, so GODEL-GAßNER, mit einer Doppelstrategie: „Zum einen forcierte man früher als in Preußen die Institutionalisierung des öffentlichen Mädchenschulwesens, zum anderen entsprach man dem steigenden Bildungsbedürfnis durch eine relativ großzügige Zulassung der Mädchen zum Knabenschulwesen“. Baden und Württemberg können somit als eine „Wiege der Koedukation“ gesehen werden – wobei zwischen der geduldeten, passiven Anwesenheit der Mädchen in mittleren Knabenschulen (Koinstruktion) und tatsächlicher Koedukation differenziert werden muss. Im Unterschied zu Preußen, das den eigenständigen, nach Geschlechtern getrennten Ausbau des öffentlichen mittleren Mädchenschulwesens favorisierte, erfolgte in Baden und Württemberg also eine frühe Integration, wobei die Relevanz pragmatischer Gründe für diese Entscheidung außer Frage steht. So sicherte der Anteil der Schülerinnen einer (Knaben-)Schule deren Fortbestand und erübrigte darüber hinaus kostenträchtige Neugründungen von öffentlichen Mädchen-schulen. In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass die Erforschung des mittleren (Mädchen-)Schulwesens in der Bildungsgeschichte noch ausstehe, das Projekt also eine vorhandene Forschungslücke schließe. Darüber hinaus hätten regionalgeschichtliche Studien angesichts des in der „allgemeinen“ Bildungsgeschichte immer noch vorherrschenden Borussismus per se ihre Berechtigung.
Zum Abschluss der Tagung referierte Susanne MAURER, Tübingen/Jena über die „Rekonstruktion der Dimension ‚Erfahrung’ in der historischen Forschung“. In dem geschichtstheoretischen und -methodischen Beitrag galt ihr Hauptinteresse der feministischen Geschichtsschreibung, die sie als „Arbeit am gesellschaftlichen Gedächtnis“ versteht. Dabei vertritt sie in Anlehnung an Georges DUBY die Auffassung, Geschichte sei als „kontrollierter Traum“ zu sehen. Die besondere Schwierigkeit bei der Geschichtsschreibung liege darin, „ein ausgewogenes Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Strenge (Quellenkritik, stabile Fundierung von Aussagen, Exaktheit, Genauigkeit und Textkontrolle) und Faszination zu finden. Aufgabe der Historiographie sei es ‚nicht zuletzt, den Leser zum Träumen zu bringen, wie der Historiker seinerseits träumt’“. Einerseits werde hier, so MAURER, der Konstruktionscharakter der Geschichtsschreibung thematisiert wie aber auch deren feste Bindung an die Zeugnisse der Vergangenheit betont. Die kontrovers geführte Diskussion entzündete sich vor allem am Begriff der Phantasie. Während einerseits argumentiert wurde, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihrer Phantasie methodische Zügel anzulegen hätten, wurde andererseits darauf insistiert, dass Geschichtsschreibung ohne Phantasie, verstanden als die Fähigkeit, Gedächtnisinhalte mit neuen, innovativen Vorstellungen zu verbinden, nicht möglich sei.

Erfassungsdatum: 20. 12. 2002
Korrekturdatum: 02. 04. 2004