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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Wochnik, Markus
Rezensiertes Werk: Berner, Esther; Gonon, Philipp (Hrsg.): History of vocational education and training in Europe : cases, concepts and challenges. - Bern [u.a.]: Peter Lang, 2016. - 599 S. - (Studies in vocational and continuing education ; vol. 14) ; (Studien zur Berufs- und Weiterbildung ; vol. 14) ; ISBN 978-3-0343-2120-4
Erscheinungsjahr: 02/2017
zusätzl. Angaben zum Rezensenten: Institut für Berufsbildung (IBB), Universität Kassel
E-Mail: wochnik@uni-kassel.de
Text der Rezension:

Esther Berner und Philipp Gonon legen einen Sammelband zur Geschichte der beruflichen Bildung in Europa vor. Er besteht wesentlich aus Beiträgen einer Konferenz, auf der man sich im Oktober 2014 - erstmalig seit längerer Zeit - ausgiebig und ausschließlich mit der Geschichte beruflicher Bildung in Europa auseinandergesetzt hat. Gerade vor dem Hintergrund der globalen Finanzkrise seit 2008, deren Einfluss auf Arbeits- und Ausbildungsmarkt und aktueller Herausforderungen für die beruflichen Bildungsstrukturen wie der Digitalisierung in Europa lohnt sich ein analytischer Blick in die Entwicklungsgeschichte verschiedener europäischer Länder. Dabei sind Deutschland, die Schweiz, England, Frankreich und die skandinavischen Staaten in diesem Band mehrfach vertreten. Südeuropa ist mit jeweils einem Beitrag zu Spanien und Italien leider unterrepräsentiert, obwohl ein Blick in diese Staaten (auch Griechenland und Portugal) einträglich wäre, da sie von der Krise besonders betroffen waren und sind. Strukturiert ist der Sammelband nach den drei übergeordneten Themenbereichen "Cases", "Concepts" und "Challenges", er setzt sich aus insgesamt 28 Beiträgen zusammen. Elf der Artikel sind den "Concepts" zugeordnet, zehn dem Bereich "Cases" und die restlichen sieben den "Challenges".

Im Bereich "Concepts" wird durch die Vielzahl und den Variantenreichtum der Beiträge eine hervorragende Übersicht zu den verschiedenen theoretischen Ansätzen in Bezug auf die Auseinandersetzung mit historischen Fragestellungen zur Entwicklung beruflicher Bildung und ihrer Modelle in Europa geboten. Auch die sehr unterschiedlichen thematischen Zielsetzungen, Fragestellungen und Blickwinkel geben einen guten Überblick über die aktuelle Forschung. Die für die historische Berufsbildungsforschung teils innovativen theoretischen Ausrichtungen reichen von Foucault, über Legitimationsansätze bis zu neo-institutionalistischen Ansätzen. Zusätzlich wird diskutiert, welche Materialien bzw. Quellen, beispielsweise Bilder, für eine historische Analyse gewinnbringend herangezogen werden können.

Die Beiträge in "Concepts" verdeutlichen, dass die Entwicklung beruflicher Bildung nicht allein an ökonomische Bedürfnisse geknüpft war und ist. Vielmehr haben Staatsbildung und soziale wie kulturelle Integration enormen Einfluss auf die Entwicklung beruflicher Bildungsmodelle ausgeübt. Besonders deutlich wird dies in "The Political Economy of Educational and Vocational Training in Western Europe from a Historical Perspective" von Marius R. Busemeyer, der durch den Vergleich der Entwicklung in Schweden, Großbritannien und Deutschland aufzeigt, wie unterschiedliche politische Zielrichtungen und Ideen Einfluss auf die Ausgestaltung beruflicher Bildung haben konnten, auch wenn die jeweiligen Ausgangssituationen am Ende des Zweiten Weltkriegs sehr ähnlich waren. Selbst innerhalb eines Staates konnte es zu sehr divergierenden Entwicklungen kommen, wie Esther Berner, Philipp Gonon und Christian Imdorf in "The Genesis of Vocational Education in Switzerland from the Perspective of Justification Theory" am Beispiel von Genf und Luzern aufzeigen. Unterschiede entstanden hier durch die spezifischen Qualifikationsanforderungen der jeweils vorherrschenden Industrie, aber auch durch voneinander abweichenden Strategien der Sozialpartner.

Immer wieder wird in den Artikeln auf das Verhältnis von allgemeiner und beruflicher Bildung hingewiesen, sowie auf das von akademischer und nicht-akademischer Berufsbildung. Gerade durch den Umstand, dass in den betrachteten Ländern diese Zuordnungen aus unterschiedlichen Gründen stark variieren, können die Erkenntnisse aus der historischen Perspektive hilfreiche Hinweise für die aktuelle Diskussion in Bezug auf Zugänge, Übergänge, Transfer von Leistungen und Anerkennungspraktiken liefern. In diesem Kontext ist auch die im Band oft angesprochene Frage relevant, wer die jeweilige Zielgruppe der Angebote beruflicher Bildung sein soll(te) und welche übergeordneten politischen Ziele dadurch verfolgt wurden und werden.

Anhand von Fallanalysen wird im Teil "Cases" die Entwicklung verschiedener Organisationsstrukturen im Bereich beruflicher Bildung in den Fokus gerückt. Die ersten drei Beiträge zum Fall Frankreich verdeutlichen, wie die Betrachtung einzelner Teilfragen zu beruflichen Bildungsmodellen das Verständnis der Gesamtentwicklung erhellen kann. Auch der Beitrag von Christian Helms Jørgensen und anderen, "Same, but different - The Emergence of VET in three Nordic Countries", in dem die Entwicklungen in Dänemark, Norwegen und Schweden verglichen werden, bietet interessante Erkenntnisse, wie voneinander abweichende Politikverständnisse und daraus resultierende Unterschiede in der Bewertung der Aufgaben von Bildung und Berufsbildung erkennbaren Einfluss auf die Systementwicklung ausüben. Dies kann über die betrachteten Staaten hinaus dazu beitragen, die Formen beruflicher Bildung generell besser verstehen zu können. Zusätzlich bieten die restlichen Fälle immer wieder die Möglichkeit, Fragen zu identifizieren, die für die Diskussion anderer als der besprochenen Fälle relevant sein können. Erfreulicherweise werden auch Themen behandelt, denen oft (zu) wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie beispielsweise Auszubildendenproteste zwischen 1950 und 1980 in der Schweiz im Beitrag von Philipp Eigenmann und Michael Geiss "There Is No Outside to the System".

Die häufig zitierte Unterscheidung beruflicher Bildungsmodelle in die drei "klassischen" Typen, das liberal-marktwirtschaftliche Modell (England), das etatistisch-bürokratische (Frankreich) und das dual-korporatistische (Deutschland) nach Greinert,[1] bietet in vielen Fällen zwar die Möglichkeit einer ersten Einordnung, bei genauerer Analyse wird jedoch klar, dass sich in den meisten europäischen Staaten eher eine Mischung aus Teilen dieser drei Grundsysteme entwickelt zu haben scheint, wie Marja-Leena Stentström und Maarit Virolainen in ihrem Artikel "Towards the Enhancement of School-Based VET in Finland" erläutern. Diese Feststellung ist zwar nicht neu oder überraschend, kann aber in den hier dargestellten Fällen detailliert nachvollzogen werden. Vor dem Hintergrund des aktuell diskutierten "Exports" des deutschen dualen Ausbildungsmodells ist ein Blick in diese Falldarstellungen äußerst lohnenswert, da das an mehreren Stellen thematisierte "policy borrowing" und "policy learning" anhand von historischen Beispielen auf unterschiedliche Erfolge in Bezug auf die Transferfähigkeit verweist. Erweiternd könnten hier die Überlegungen von Pressmann und Wildavsky[2] zur Implementation von Angeboten und Strukturen herangezogen werden.

Das oben erwähnte Verhältnis zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung aufgreifend, plädiert Friedhelm Schütte in "Educational Systems Research: Intention, Scope, Desiderata" im dritten Teil des Bandes für eine verstärkte Auseinandersetzung mit historischen Fragen, die das Bildungssystem in seiner Gesamtheit und weniger einzelne Teilsysteme betrachten. So könnten vorhandenen Erkenntnislücken in Bezug auf Einbindung und Abhängigkeiten und sich daraus ergebende Entwicklungen geschlossen werden, denn gerade durch die Ausgestaltung des Gesamtbildungssystems würden Entwicklungslinien einzelner Teilsysteme in den einzelnen Staaten maßgeblich beeinflusst. Berufliche Bildung sei also nicht als losgelöst von allgemeiner Bildung zu betrachten.

Den Themenkomplex Gender und Berufsbildung erörtern Simone Haasler mit "The German VET System and Labour Market Segregation by Gender" und in Ansätzen auch Håkan Høst in "The Integration of Female-Dominated VET Programmes in Health and Social Care into the Common Collective Skills System in Norway". In Deutschland werden Frauen häufiger in rein schulisch organisierten und nicht in dual strukturierten Berufen ausgebildet. Damit einher gehen geringere Aufstiegs- und Weiterbildungs- sowie eingeschränkte Beschäftigungsperspektiven. Dies gilt aber nicht nur für jene beruflichen Tätigkeiten, die in hohem Maße von Frauen ausgeübt werden, wie z.B. Pflege- und Assistenzberufe, sondern auch für diejenigen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind. Diese Entwicklung hängt laut Haas historisch auch mit dem durch Sozial- und Steuerpolitik geförderten Versorgermodell zusammen. Einige der Beiträge in diesem Abschnitt hätten auch dem zweiten Teil "Cases" zugeordnet werden können, eine klare Unterscheidung der beiden Teile ist meines Erachtens nur teilweise möglich.

Der vorliegende Band veranschaulicht auf eindrückliche Weise, dass es ohne die historische Analyse der Entwicklungen beruflicher Bildung in all ihren Facetten nicht möglich ist, den in Europa vorhandenen Variantenreichtum an Modellen und Systemen zu verstehen und in den jeweiligen Kontexten fortentwickeln zu können. Beispielsweise vor dem Hintergrund der Harmonisierungsbestrebungen im Bereich beruflicher Bildung von Seiten der Europäischen Union[3] gilt es dies zu bedenken. Insbesondere unter "Concepts" bietet der Band eine Palette an wertvollen theoretischen Ansätzen für zukünftige historische Analysen der Berufsbildung.

Anmerkungen:
[1] Wolf-Dietrich Greinert, Berufsqualifizierung und dritte industrielle Revolution. Eine historischvergleichende Studie zur Entwicklung der klassischen Ausbildungssysteme, Baden-Baden 1999.

[2] Jeffrey L. Pressmann / Aaron Wildavsky, Implementation. Berkeley 1984.

[3] Ingrid Drexler, Das Duale System und Europa. Ein Gutachten im Auftrag von ver.di und IG Metall: 2005, https://www.verdi-bw-hessen.de/upload/m4a79d898de198_verweis6.pdf (11.01.2017) (11.01.2017)

Fussnote:

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von Elija Horn.

© 06.02.2017 by HBO, alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Rezension; Europa; Berufsbildung; Geschichte
Eingetragen von: barkowski@dipf.de
Erfassungsdatum: 06. 02. 2017
Korrekturdatum: 06. 02. 2017