Rezensent(in): | Matter, Sonja |
Rezensiertes Werk: | Sköld, Johanna; Shurlee Swain (Hrsg.): Apologies and the legacy of abuse of children in 'care': international perspectives. - Basingstoke [u.a.]: Palgrave Macmillan, 2015. - XII, 217 S. ; (Palgrave studies in the history of childhood) ; ISBN 978-1-13745-754-7 |
Erscheinungsjahr: | 11/2015 |
zusätzl. Angaben zum Rezensenten: | Historisches Institut, Universität Bern
E-Mail: sonja.matter@hist.unibe.ch |
Text der Rezension: | Seit den 1990er-Jahren avancierte die Geschichte von fremdplatzierten Kindern in zahlreichen westlichen Ländern zu einem Politikum: Die traumatischen Erfahrungen und Misshandlungen, die Menschen vielfach im Rahmen ihrer Fremdplatzierung in Kinderheimen oder Pflegefamilien erlebt hatten, sollten nicht mehr länger verschwiegen werden. Verschiedene Staaten, aber auch kirchliche und private Institutionen setzten Kommissionen ein, die die Fremdplatzierung in historischer Perspektive aufarbeiteten. Zahlreiche Forschungsprojekte laufen noch oder werden neu initiiert. Gleichwohl ist der Zeitpunkt reif, in einer international vergleichenden Perspektive die politischen und wissenschaftlichen Implikationen zu reflektieren, die mit Forderungen einer "transitional justice" im Bereich der Verletzung von Kinderrechten verbunden sind. Der von den Historikerinnen Johanna Sköld und Shurlee Swain herausgegebene Sammelband kommt denn auch einem großen Forschungsdesirat nach. Zwar erschienen in den letzten Jahren mehrere Publikationen, die das Thema der "transitional justice" aus einer inter- und transnationalen Perspektive untersuchten.[1] International vergleichende Studien, die sich auf die Aufarbeitung von Kinderrechtsverletzungen im Kontext von Fremdplatzierungen beziehen, fehlen hingegen noch weitgehend. Ausgangspunkt des Sammelbands war ein 2011 in New York durchgeführtes internationales und interdisziplinäres Kolloquium. Aus diesem ging das "International Network on Studies of Inquiries into Child Abuse, Politics of Apology and Historical Representation of Children in Out-of-Home Care" hervor.[2] Der Sammelband, der weitgehend auf Arbeiten der Mitglieder dieses Netzwerkes basiert, ist in drei Teile gegliedert.
Der zweite Teil des Sammelbandes fokussiert die nationalen Besonderheiten und diskutiert die Aufarbeitungsprozesse in Regionen, die bislang international wenig Beachtung fanden, so unter anderem Norwegen, die Niederlande, Schottland und Dänemark. Wie letzteres Beispiel zeigt, gingen auch von kleineren Ländern wichtige Impulse für die Erforschung von Kinderrechtsverletzungen aus: Dänemark war einer der ersten Staaten, die die Anwendung psychopharmazeutischer Medikamente an Kindern und Jugendlichen in Heimen untersuchten. Zudem gingen die Forschenden des "Welfare Museum of Svenborg" in ihrer Forschung zu dänischen Kinderheimen neue Wege. Wie Maria Rytter und Jacob Knage Rasmussen aufzeigen, bezogen sie sich nicht nur auf Archivquellen, Fotografien und Interviews mit ehemals fremdplatzierten Kindern, sondern auch auf Objekte. Solche Objekte - große Bekanntheit erhielt etwa ein Gymnastikpferd - wurden einerseits zu wichtigen Beweismitteln, da dank forensischer Analysen eindeutig auf Blutspuren und damit auf massive körperliche Misshandlungen geschlossen werden konnte. Andererseits kommt Objekten eine große Symbolkraft zu, um auf das Leiden der Opfer von Misshandlungen aufmerksam zu machen. Der letzte Teil setzt sich mit den verschiedenen professionellen Gruppierungen auseinander, die in Aufarbeitungsprozessen zur Misshandlung von fremdplatzierten Kindern involviert sind: Historiker, Archivarinnen und Sozialarbeitende. Nell Musgrove fokussiert auf die Historiker und Historikerinnen und problematisiert, dass diese in historischen Auftragsforschungen zu Verletzungen von Kinderrechten mindestens zwischen drei Ansprüchen zu navigieren haben: Zwischen ihrem eigenen Professions- und Wissenschaftsverständnis, den Ansprüchen der Auftraggebenden und denen der ehemals Fremdplatzierten. Zudem würden die vielfach eng gesteckten Zeiträume es erschweren, nach der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung gegenüber praktizierten Kindesmisshandlungen zu fragen und Kontinuitäten bis zur Gegenwart aufzuzeigen. Auf eine für Archivare und Historikerinnen weitere zentrale Problematik machen auch Johanna Sköld und Åsa Jensen aufmerksam: Die Erzählungen der ehemals fremdplatzierten Personen und die Narrationen der archivierten Fallakten sind häufig widersprüchlich und ergänzend zugleich. Historiker und Historikerinnen, die eigentlich längst nicht mehr im Sinne Rankes herauszufinden versuchen, "wie es wirklich gewesen ist", geraten indes unter Umständen bei der Prüfung von finanziellen Entschädigungsberechtigungen in die Position, an der Klärung genau dieser Frage mitwirken zu müssen. Sollen Archivarinnen und Historiker in Entschädigungsprozessen einen fundierten Beitrag leisten, gilt es von der Prüfung einzelner Fallakten abzuweichen und einen mehr historisch-kontextualisierenden Ansatz zu verfolgen. Auch im Beitrag von Shurlee Swain werden für die Geschichtswissenschaft zentrale Aspekte angeschnitten: Kritisch diskutiert sie, dass Forschende, die Interviews mit Opfern von Misshandlungen führen, sich intensiver mit dem Problem der indirekten Traumatisierung beschäftigen müssen. Der vorliegende Sammelband ist für alle - seien es Historikerinnen, Sozialarbeiter, Juristinnen, Aktivisten oder Politikerinnen - die in die Aufarbeitung von Misshandlungen fremdplatzierter Kinder involviert sind oder sich mit Fragen rund um Entschuldigungen und Entschädigungen im Bereich der Zwangsfürsorge beschäftigen, ein unabdingbares Referenzwerk.
Anmerkungen:
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Fussnote: | Diese Rezension wurde redaktionell betreut von Michael Geiss. © 03.11.2015 by HBO, alle Rechte vorbehalten, all rights reserved. Sie möchten ein Buch zur Rezension vorschlagen oder selbst eines für HBO besprechen? Dann wenden Sie sich bitte per e-mail an: mgeiss@ife.uzh.ch oder scholz@dipf.de. Wenn Sie über neu erscheinende Rezensionen infomiert werden wollen, können Sie sich in die Mailingliste Paed-Hist-L von HBO subskribieren lassen. |
Schlagwörter: | Bildungsgeschichte; Rezension; Westliche Welt; Kinderheim; Kindesmisshandlung; Sexueller Missbrauch; Strafverfolgung |
Eingetragen von: | barkowski@dipf.de |
Erfassungsdatum: | 03. 11. 2015 |
Korrekturdatum: | 03. 11. 2015 |