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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Grundig de Vazquez, Katja
Rezensiertes Werk: Vergnioux, Alain (Hrsg.): Grandes controverses en éducation. - Bern [u.a.] : Lang, 2013. - 290 S. ; (Exploration : Education: histoire et pensée) ; ISBN: 978-3-0343-1259-2 = 3-0343-1259-8
Erscheinungsjahr: 02/2015
zusätzl. Angaben zum Rezensenten: Institut für Pädagogik, Universität Duisburg-Essen
E-Mail: katja.grundig-de-vazquez@uni-due.de
Text der Rezension:

Die Autoren des vorliegenden Bandes um den Herausgeber Alain Vergnioux sind der Problematik der Beständigkeit erziehungstheoretischer Kontroversen um Grundfragen und Leitmotive pädagogischer Diskurse kritisch nachgegangen. Sie haben diese systematisch aufgearbeitet, um einen klareren Blick auf Themen und Dynamiken aktueller erziehungswissenschaftlicher Diskurse zu ermöglichen und deren Verankerung im Kontinuum erziehungstheoretischer Debatten bewusster zu machen. Die im Band versammelten Beiträge sind dabei Resultat eines erziehungsphilosophisch ausgerichteten Forschungsseminars, das Erziehungstheoretikern der Universitäten Caen, Nantes und Rouen Raum und Rahmen zur Reflektion solcher Grandes controverses en éducation geboten hat. Im Ergebnis steht ein Sammelband, dessen Erkenntnisse nicht nur über eine – an sich schon interessante – französische Perspektive auf die Entwicklung erziehungswissenschaftlicher Diskurse deutlich hinausweisen, sondern der auch durch seine Systematik überzeugt. Das Buch ist in drei Teile untergliedert, deren Ordnung einen argumentativen Strang erkennen lassen, der die einzelnen Beiträge nachvollziehbar zueinander in Beziehung setzt. In der Einleitung geht Alain Vergnioux unter Bezugnahme auf Daniel Hameline[1] von der These aus, dass jede erziehungswissenschaftliche Strömung gleichzeitig eine entsprechende Gegenströmung hervorrufe. Erziehungstheoretische Diskurse haben notwendig eine Legitimierungsfunktion, wobei die sich daraus ergebenden Kontroversen nicht primär die Aufgabe haben, einen thematischen Konflikt zu lösen. Vielmehr müssen sie als eine Möglichkeit zur Erkenntnis durch vielseitiges Beschauen eines Problems verstanden werden, wobei womöglich der letzte Schluss offen bleiben muss, um weiterhin durch das Gegenüberstellen kontroverser Positionen kritisches Denken herauszufordern.

Um die Dynamik und grundlegende Struktur solcher Erkenntnisprozesse erhellen zu können, setzen sich die einzelnen Beiträge des Bandes exemplarisch mit erziehungstheoretischen Streitfragen auseinander. In der ersten thematischen Einheit Figures emblématiques werden Kontroversen vorgestellt, die zeitlose pädagogisch-philosophische Problematiken bearbeiten. In der zweiten Einheit Antinomies pédagogiques liegt der Fokus auf pädagogischen Themen, die asymmetrisch polemisiert (vgl. S. 7) werden, und zwar derart, dass eine Seite zweier sich gegenüberstehender theoretischer Positionen argumentativ elaboriert werde, um die jeweilige Gegenposition als „la source de toutes les difficultés“ (S. 7) darzustellen. Die Beiträge der dritten Einheit Genèses et longue durée vollziehen die Entstehung, Entwicklung und Veränderung bestimmter pädagogischer Streitfragen im Zuge eines geschichtlichen Verlaufs nach. Die beiden Beiträge von Jean-Marc Lamarre und Didier Moreau eröffnen den Diskurs mit einem Blick auf emblematische Debatten über Erziehung und Bildung, die sie bemerkenswerterweise im deutschsprachigen Raum identifiziert haben. Lamarre vollzieht den exegetischen Streit zwischen Erasmus und Luther um die Existenz und die Verfasstheit eines freien Willens nach und stellt somit die erzieherischen Grundfragen nach der Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein Handeln und nach der Möglichkeit seiner Einflussnahme auf das eigene Tun. Die Kontroverse der historischen Positionen Erasmus und Luthers erweise sich für moderne pädagogische Problematiken als relevant, denn ein Nachdenken über Erziehung unter der Prämisse eines freien Willens habe die Entstehung der Moderne und die Herausbildung eines modernen Erziehungsbegriffs erst möglich gemacht (vgl. S. 42 u. 49). Didier Moreau widmet sich den unterschiedlichen Bildungsbegriffen von Schiller und Herder und thematisiert mit dieser klassischen Kontroverse die Frage, ob allgemeingültige, zeitlose und in sich wertige ideelle Bildungsinhalte postuliert werden können. Michel Fabre und Dominique Ottavi setzen sich mit den erziehungstheoretischen Gedanken Hannah Arendts[2] auseinander, der sie grundlegende Bedeutung für die Entwicklung pädagogischer Kontroversen um die Sinnhaftigkeit und Berechtigung reformpädagogischer Bestrebungen zumessen, da ihre erziehungstheoretischen Positionen von Gegnern der Éducation Nouvelle herangezogen werden. Sie hinterfragen kritisch, ob Arendts pädagogisches Denken eine hinreichend originäre und fachlich dichte theoretische Grundlage für die Entfaltung einer solchen „argumentation anti-pédagogique“ (S. 76) biete.

Laurence Thouroude, Jean-Yves Bodergat und Jean Houssaye widmen sich den pädagogischen Antinomien und beleuchten dabei drei aktuelle Kontroversen. Thouroude vollzieht am Beispiel der Entwicklung in Frankreich die historische und begriffliche Entwicklung von Konzepten einer Abweichung von einer als „Gesundheit“ verstandenen Norm nach und schlägt die Brücke zu aktuellen Debatten um schulische Inklusion, die einerseits aus der Überwindung von Berührungsängsten mit dem Anderen und einem erweiterten Verständnis von Normalität resultierten, die andererseits aber oftmals aus einer falsch verstandenen political correctness heraus zu unkritisch geführt würden. Bodergat stellt einem idealen Konzept Schüler den Schüler als reale Person entgegen und fragt nach Schnittstellen und nach Konsequenzen für den Umgang zwischen Lehrer und Schüler im Unterricht. Houssaye setzt sich mit der Frage nach dem Umgang mit einer diagnostizierten Krise der französischen Pädagogik auseinander, die gegenwärtig auf zweierlei Weise beantwortet werde: Französische Erziehungstheoretiker forderten zur Lösung der Krise entweder eine Rückkehr zur oder eine Abkehr von der traditionellen Pädagogik. Indem er besonders die Argumentation erziehungstheoretischer und bildungspolitischer Befürworter einer traditionellen Pädagogik nachvollzieht und auf Widersprüche zwischen einem Ruf nach Neuerungen im Bildungswesen und konservativen Bestrebungen hinweist, hinterfragt er beide Positionen in ihrer Absolutheit.

In der dritten thematischen Einheit wird die französische Kontroverse um die traditionelle Pädagogik aus erziehungsgeschichtlichem Blickwinkel wieder aufgegriffen. Alain Trouvé und Pierre Kahn setzen sich mit den Positionen der sogenannten républicain oder neo-républicain auseinander und hinterfragen kritisch die Sinnhaftigkeit der neo-republikanischen Polemik (Trouvé). Sie analysieren die Entwicklung der republikanischen Pädagogik und weisen nach, dass der gegenwärtige elitäre und konservative französische pädagogische Neo-Republikanismus sich seiner eigenen republikanischen Wurzeln entfremdet hat, da er sich über die reformerischen Leitgedanken der ursprünglichen republikanischen Pädagogik in den Bereichen des Erziehungswesens und der Erziehungswissenschaft weitestgehend nicht im Klaren ist (Kahn). So bleiben Schnittpunkte republikanischer und reformerischer Ansätze unerkannt und die Kontroverse gestaltet sich wenig produktiv.

Die historische Verwurzelung aktueller erziehungstheoretischer und bildungspolitischer Diskurse und die Bedeutung eines Bewusstseins dieser Geschichtlichkeit wird auch von Youenn Michel und Alain Vergnioux, sowie von Philippe Foray nachvollzogen. Michel und Vergnioux zeichnen in ihrem gemeinsamen Beitrag den Verlauf der Kontroverse um einen kostenlosen Zugang zur (Schul-)Bildung vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert nach und arbeiten zentrale und immer wiederkehrende Motive dieses Diskurses heraus. Foray beleuchtet die modernen Debatten zur Frage, ob es muslimischen Schülerinnen erlaubt sein soll, im Unterricht einen Schleier zu tragen und setzt sich ausgehend von dieser Thematik auch aus entwicklungsgeschichtlicher Perspektive mit der Problematik der Laïzität staatlicher Schulen in Frankreich auseinander.
Die Erkenntnisse der Beiträge des vorliegenden Bandes betreffen die Grundlagen und das Wesen erziehungswissenschaftlicher Diskurse und Forschung und schließen eine Lücke in der entsprechenden Diskursanalyse. Wie Didier Morau in der abschließenden Zusammenfassung überzeugend darstellt, wohnen den Diskursen um erziehungstheoretische Grundfragen generell zwei Charakteristika inne: Sie haben weder einen klar bestimmbaren Anfangspunkt, noch können Sie durch unwiderlegbare empirische Nachweise einer Position endgültig beantwortet werden, denn sie stellen sich in unterschiedlichen zeitlichen und kulturellen Kontexten notwendig immer wieder neu und sind zudem, wie die entsprechenden Diskurse, metaphysisch verwurzelt (vgl. S. 279 f.). Daraus lässt sich ableiten, dass eine Erziehungswissenschaft, die ihrem Gegenstand gerecht werden will, immer über rein empirische Zugänge hinausgehen muss, da diese auf das unmittelbar Momentane zurückgeworfen sind. Die Erziehungswissenschaft legitimiert sich gerade durch und nicht trotz der Endlosigkeit und Wiederkehr ihrer Diskurse, die in ihrer Kontinuität, teils problematischen Dynamik und Geschichtlichkeit notwendig erkannt und durchdrungen werden müssen, um in aktuellen Kontexten zu Erkenntnissen zu führen, beziehungsweise um in ihrer derzeitigen Form und der Logik ihrer Argumentation verstanden zu werden; was im Übrigen auch davor bewahrt, die gegenwärtige Erziehung als in besonderem Maße krisenhaft misszuverstehen.

Anmerkungen:
[1] Daniel Hameline, Courants et contre-courants dans la pédagogie contemporaine Courants et contre-courants dans la pédagogie contemporaine, Paris 2000.


[2] Im Mittelpunkt steht dabei Arendts Beitrag "Die Krise in der Erziehung" in französischer Übersetzung:
Hannah Arendt,La crise de l’éducation, in: La crise de la culture, Paris 1954/1972, S. 223–252.

Fussnote:

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von Michael Geiss.

© 09.02.2015 by HBO, alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Rezension; Pädagogik; Erziehungsphilosophie; Erziehungspraxis; Kontroverse
Eingetragen von: barkowski@dipf.de
Erfassungsdatum: 09. 02. 2015
Korrekturdatum: 09. 02. 2015