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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Alphei, Cord
Rezensiertes Werk: Wild, Frank: Askese und asketische Erziehung als pädagogisches Problem : zur Theorie und Praxis der frühen Landerziehungsheimbewegung in Deutschland zwischen 1898 und 1933 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XI, Bd. 729), Frabkfurt a.M.: Peter Lang, 1997, 471 S.; zugl. Diss. Univ. Giessen 1997; ISBN 3-631-32049-3; ca. 118,- DM
Erscheinungsjahr: 1999
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Dr. Cord Alphei
Reckler@rz.uni-hildesheim.de
Text der Rezension:

 
Die hier zu besprechende Giessener Dissertation von Frank Wild über "Askese und asketische Erziehung als pädagogisches Problem" versteht sich, wie der Untertitel ausweist, als eine Untersuchung "zur Theorie und Praxis der frühen Landerziehungsheimbewegung in Deutschland zwischen 1898 und 1933". Der Behandlung der Themenstellung im engeren Sinne gewissermaßen vorgeschaltet ist eine ausführliche Erörterung der historischen Traditionslinien asketisch ausgerichteter Erziehungskonzepte, ebenso wie eine eingehende Problematisierung der Begriffe Reformpädagogik und Askese. Wild kommt zu dem Schluß, daß auch dann, wenn die bis vor einiger Zeit gängige Periodisierung der Reformpädagogik aufgegeben oder etwa nach Oelkers neu gefaßt wird, die Landerziehungsheimbewegung zwischen 1898 und 1933 weiterhin als Bestandteil der Reformpädagogik zu gelten hat und zudem als konkrete Umsetzung asketischer Prinzipien in die Erziehungswirklichkeit aufzufassen ist, mithin ein tertium comparationis beider Ausgangsbegriffe darstellt. Denn nicht pädagogische Theoriebildung oder einzelne Theoreme an sich, sondern nur deren reale Ausformungen im Bereich des erzieherischen Handelns selbst ermöglichen es schließlich, die Tragfähigkeit und tatsächlichen Auswirkungen eines pädagogischen Entwurfes zu überprüfen. Die ideengeschichtlichen Wurzeln der Landerziehungsheimbewegung findet der Verf. hauptsächlich in der calvinistischen Überformung des Luthertums und in verschiedenen Strömungen des Pietismus. Hier bezieht er sich - methodologisch vor allem an Max Weber, Werner Sombart und Ernst Troeltsch orientiert - nicht zuletzt auf die bedeutsamen Beiträge von Greschat, Lehmann u.a. zur neueren Pietismusforschunng. Die in diesem Zusammenhang angestrebte Verbindung historisch-sozialwissenschaftlicher, theologischer und erziehungswissenschaftlicher Theorieansätze und deren Focussierung auf den konkreten Untersuchungsgegenstand erscheint dabei durchweg überzeugend.
Dieser theoretischen Herleitung entsprechend unterscheidet Wild einen "erziehungsphilosophischen Strang" und einen "zweckrational-organisatorischen Strang" seiner Untersuchung. In erziehungsphilosophischer Hinsicht werden die weltanschaulichen Positionen und Blickrichtungen der wichtigsten Exponenten der deutschen Landerziehungsheimbewegung aufgezeigt, in zweckrational-organisatorischer Hinsicht dagegen Möglichkeiten und Grenzen der praktischen Umsetzung kritisch betrachtet. Beide Hauptgesichtspunkte der Analyse finden sich wieder in der Ausdifferenzierung von sieben Modellen. Gemeinsam ist allen sieben Modellen die Idee einer asketischen Erziehung, deren jeweilige Ausformung die vom Verf. gewählten pointierten Überschriften charakterisieren:
1. Modell Lietz/Andreesen: "Askese und Werkethik", 2.Modell Wyneken: "Askese und Messianismus", 3.Modell Geheeb: "Askese und Humanität", 4.Modell Luserke: "Askese und rhythmisierende Existenz", 5. Modell Kramer/Lehmann: "Askese und `Gläubiger Realismus`", 6. Modell Uffrecht: "Askese und die Ästhetik des Schicksals",
7. Modell Nelson/Specht: "Askese und ethischer Radikalismus".
Die eingehende Darstellung dieser Modelle nimmt den Hauptteil des Buches ein. Jeder dieser sieben Unterabschnitte enthält einleitend einen biographischen Abriß, die Herausarbeitung der typologisch verwertbaren Elemente der Erziehungsphilosophie einerseits und der organisatorischen Zweckrationalität andererseits. Besonderes Gewicht kommt dabei der politisch-weltanschaulichen Dimension im Denken und Handeln der einzelnen Heimerzieher zu. Die Palette reicht hier bekanntlich von der neupietistisch und deutsch-national motivierten Ausrichtung mit durchaus antisemitischer Konnotation, wie sie bei Lietz besonders deutlich wird, über das humanitär-basisdemokratische Modell eines Geheeb und die auf einer undogmatischen Auslegung des Herrenhutertums beruhenden Konzeption Kramers bis hin zu der sozialistischen Ideen verpflichteten "Willenserziehung" bei Nelson und Specht. Hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang, daß Wild neben der Darstellung der Heimverfassungen auch wesentliche Bestandteile der Lehrplangestaltung und Unterrichtsorganisation mitbehandelt. In einem dritten Teil analysiert der Verf. das Motiv der asketischen Erziehung in den deutschen Landerziehungsheimen nochmals hinsichtlich ihrer typischen Merkmale, die durch Leitbegriffe wie etwa den des pädagogischen "Heiligen", des "Führers", der "Jugendkultur" oder der Verbindung von "Leben und Arbeit" auch quellensprachlich konturiert werden. Unter der Überschrift "Asketische Erziehung - Movens der frühen Landerziehungsheimbewegung" werden die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit schließlich zusammengefaßt. Ein Anhang (S.451-471) enthält u.a. Tagespläne ausgewählter Heime, Aufnahmebedingungen, Bestimmungen für die Eltern sowie Skizzen zur Laienspielbühne und zur Vormittagsarbeit in Luserkes Schule am Meer. Wie aus dem Quellen- und Literaturverzeichnis, das durch mehrfache Untergliederung etwas unhandlich wirkt, zu entnehmen ist, wurden - von wenigen Ausnahmen abgesehen - ganz überwiegend nur gedruckte Quellen verwertet. Dies mag insofern gerechtfertigt erscheinen, als ja die Landerziehungsheimbewegung einen ausgeprägten Hang zur Selbstdokumentation zeigt. Insgesamt ist das Buch von Frank Wild ein instruktiver Beitrag zur Geschichte der deutschen Reformpädagogik, der sich durchweg auf hohem Reflexionsniveau befindet.

Erfassungsdatum: 27. 04. 1999
Korrekturdatum: 02. 04. 2004