Text der Rezension: |
Ein eigenartiges Buch: Sein
Titel versammelt Grundbegriffe, die für Kultur und Erziehungswissenschaft
des Abendlandes zentral sind, aber heute nur noch selten derart geballt
vereint werden; die Autorin verspricht dennoch, diese gewichtigen Themen
vom 17. bis ins 21. Jahrhundert zu behandeln, also von der Konstitutionsphase
der Moderne bis über die Gegenwart hinaus; orientiert an der These
von der “Unzulänglichkeit heutiger Wissenschaftsorientierung“ wird
zudem schon in der Einleitung nicht nur eine nahezu apokalyptische Verfallsdiagnose
der gegenwärtigen Welt - als Ergebnis unbefragter bzw. falscher “Wissenschaftsorientierung“
- gegeben, sondern auch die Suche nach “Faktoren“ versprochen, “die eine
andere Art von Wirklichkeit definieren“ (S. 17).
Der Aufbau des Buches bietet
dann drei Teile, in denen kritische Retrospektive, konstruktiver Neuentwurf
und Systematik einander folgen. Die kritische Retrospektive (Teil 1, S.
27-263) bezieht sich auf die “Historische Entwicklung von Wissenschaftsorientierungen
in der Pädagogik“ seit dem neuzeitlichen Sündenfall, wie man
den Startpunkt bei Descartes und dem “Cartesianismus“ nach Meinung der
Autorin verstehen muß. Kontrapunktisch liest sie dann Comenius und
die Pansophie, es folgen Kapitel über Rousseaus “Naturalismus“, Humboldts
“Neuhumanismus“, Deweys “Pragmatismus“, Skinners “Behaviorismus“, über
die “Geisteswissenschaftliche Pädagogik“, die “kritisch-rationale
Eruiehungswissenschaft“, die “Kritische Erziehungswissenschaft“ (mit Habermas
und Schaller) und die “Antipädagogik“, bevor nach einem Hinweis auf
“Neuere Überlegungen zu Wissenschaft und Pädagogik“ (von Postman
bis zur Frauenforschung) die “Ansätze“ zusammengefaßt und in
einem Schaubild geordnet werden.
Ihre Methode nennt die Autorin
in diesem Teil die der “Wissenschaftsforschung“, wie sie als empirische
Disziplin im 20. Jahrhundert entfaltet worden sei; konkret liefern die
Kapitel jeweils in gleicher Sequenz Hinweise auf das “Welt- und Menschenbild“,
auf den Wissenschaftsbegriff, auf das Verständnis von Wahrheit und
Wirklichkeit, auf Untersuchungs- und “Anwendungsgebiete“ sowie auf die
(implizite oder explizite) “pädagogische Methode“, d.h. die “praktische
Umsetzung in Erziehung, Unterricht und/oder Lehre“ des jeweiligen “Ansatzes“
(vgl. S. 27). Da wird also viel versprochen, der Leser erhält im Detail
aber kaum mehr als knappe Paraphrasen und viele Zitate zu den Autoren und
Schulen bzw. Richtungen (die ja auch nicht umstandslos alle der Pädagogik
oder der Erziehungswissenschaft zurechenbar sind). Die Darstellung erhebt
keinen Originalitätsanspruch, sieht man davon ab, daß analytisch
zunächst die dichotome Konstruktion regiert, die schon die einleitende
Verfallsdiagnose instrumentierte. Manche Darstellung ist im Detail problematisch,
z.B. das Descartes-Kapitel, unkritisch, z.B. bei Comenius, oder falsch,
wie die erneute Zurechnung von W.Brezinka zum kritischen Rationalismus
Poppers; manches ist auch nur kurios, z.B. die Verknüpfung von Luhmann
mit dem Behaviorismus Skinners (S. 124 ff. - ohne auch nur einen einzigen
Titel Luhmanns authentisch zu zitieren oder in der Literatur zu nennen).
Die Pointe ist jeweils einfach: Wissenschaft wird im Blick auf die gegebene
oder eine (unterstellt positive) kontrafaktische Entwicklung von Welt,
Bildung und Erziehung referiert und bezogen - und von hier aus diskutiert
oder problematisiert.
Dem Begriff besserer Wissenschaft
bzw. Bildung und Pädagogik gelten auch die Texte in Teil 2 (S. 264-403),
in dem die Ergebnisse von “Expertengesprächen“ wiedergegeben werden.
Diese Experten, insgesamt vier (sic 4!) aus den USA und Deutschland, die
alle “praxsiorientiert“ (S. 22) arbeiten, äußern sich auf Fragen,
in denen ebenfalls Urteile über die aktuelle und erwartete soziale
und pädagogisch-praktische Relevanz von Wissenschaften und über
ihr Verständnis von Pädagogik/Bildung/Erziehung provoziert werden
(nach der Methode der “natural investigation“, wie die Gesprächsvorbereitung
und -führung bezeichnet wird). Dem weiten Wissenschaftsbegriff, der
Teil 1 regiert, entspricht das Selbstverständnis der Befragten in
Teil 2: “I don`t see myself as a scientist“, sagt beispielsweise der erste
Befragte, und entsprechend fallen die Urteile über Wissenschaft bzw.
die eigenen Projektionen aus: Kritisch gegenüber exakten Wissenschaften,
positiv gestimmt für eine Wissenschaft, die als holistisch, praxisbezogen,
anwendungsorientiert, humanistisch, menschenfreundlich, fortschrittlich
bezeichnet werden kann (etc.). Die Autorin versucht trotz der erkennbaren
Beliebigkeit in der Auswahl der Gesprächsteilnehmer auch hier ein
Fazit, das in systematischer und konstruierender Weise freilich erst Teil
3 bietet: “Wegweiser zu zukunftsweisenden Orientierungen in Pädagogik,
Wissenschaft und Bildung“ (S. 404 ff.).
Diese Orientierungen werden
jetzt, etwas überraschend, als Synthesen aus den kritisierten und
aus alternativen Konzepten von Wissenschaft vorgestellt, in vier Gruppen
gebündelt und jeweils mit den unterstellten Konsequenzen für
“Pädagogik `morgen`“ verbunden: “sozialhumanistisch kritische Orientierung“,
“nomothetische und idiographische Orientierung“, “emanzipatorische menschenzentrierte
Orientierung“ und “fortschrittliche menschenfreundliche Orientierung“.
Die Einzelheiten mag man den Tabellen und Übersichten entnehmen, mir
scheinen die Details diffus und die Unterscheidungen wenig trennscharf
(z.B. “`fortschrittlich und menschenfreundlich` wird in dieser Orientierung
gleichgesetzt mit vorwärtstreibend und pädagogisch, d.h. nützlich
für den Menschen generell und kinderfreundlich und lehrerfreundlich
im pädagogischen Bereich“ - S. 429); die konstruktiven Optionen sind
schlicht voluntaristisch, die Verknüpfung mit bekannten pädagogischen
Konzepten von Wagenschein bis zum “integrativen“ Lernen ist nicht selten
so willkürlich wie Urteile über einzelne Erziehungswissenschaftler
(z.B.: “Elisabeth Flitner wendet sich ebenfalls gegen den Rationalismus.“
- S. 13, wenn E.F.s Analysen von Hegel und Max Weber zitiert werden).
Jedenfalls, die neuen Orientierungen
sollen Abhilfe versprechen gegen die Übel, die der falschen Wissenschaftsorientierung
zugeschrieben werden, und an die die Autorin abschließend noch einmal
erinnert: “mangelnde Humanität, Krieg, Wirtschaftskrisen, Einschränkung
menschlicher Fähigkeiten wie Liebe, Kreativität und Handlungskompetenz,
Allergien, Tod durch Drogen, Seuchen, Zerstörung der Natur und die
Möglichkeit des Weltuntergangs ... als Folgen der Ausrichtung auf
Quantifizierbarkeit, Standards der Objektivität, einen falschen Wahrheitsbegriff,
wegen fehlenden übergreifenden Sinns und von Wertungen, der Nichtbeachtung
von Subjektivität und praktischer Fähigkeiten sowie der Ignorierung
der sozialen Wirklichkeit und gesellschaftlichen Relevanz.“ (S. 404)
Kritik versagt gegenüber
solchen Argumentformen und Denkstrategien so wie wahrscheinlich auch die
Erinnerung wenig helfen wird, daß weder Wissenschaftsforschung so
verstanden werden kann oder praktiziert wird, wie das hier geschieht, noch
die abendländisch-westliche Tradition auf diese höchst lückenhaft-willkürliche
Sequenz von Descartes und Comenius bis zu den deutschen Pädagogen
des 20. Jahrhunderts kondensiert werden sollte (auch wenn man, Kant zu
Ehren, vielleicht sagen darf, daß er Glück gehabt hat, nicht
genannt worden zu sein). Man muß sich wohl im Konsens mit Krisendiagnosen
und apokalyptischen Szenarien befinden, um Zugang zu dem Text zu finden,
und wohl auch mit “Pädagogik Wissenschaft Bildung“ die großen
Hoffnungen verbinden, die den Fluchtpunkt der hier vorgelegten Überlegungen
bilden, um Nutzen daraus zu ziehen. Hilfreich für die Lektüre
ist in jedem Fall große und mit selbstsicherer Emphase verbundene
Distanz zu präzisen Begriffen von Wissenschaft und Forschung und ihren
Möglichkeiten sowie die Neigung, Machtfragen, politische Probleme
und Konflikte allein im Bilde der “verwissenschaftlichten Zivilisation“
zu begreifen. Dann mag man sich auf “Pädagogik Wissenschaft Bildung“
so einlassen, wie es die Autorin tut. Hoffentlich schützt es nicht
nur gegen alternative Lernerfahrungen, wie es der Band schon bestätigt,
sondern immunisiert auch gegen Enttäuschungen, die wohl unausweichlich
sind. |