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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Tenorth, Heinz-Elmar
Rezensiertes Werk: Feldmann, Birgitt: Pädagogik, Wissenschaft, Bildung : vom 17. ins 21. Jahrhundert. - Weinheim: Deutscher Studienverlag, 1997. - 480 S.; Br.; ISBN 3-89271-749-4
Erscheinungsjahr: 1999
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth
heinz-elmar.tenorth@rz.hu-berlin.de
Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Allgemeine Pädagogik, Abt. Historische Erziehungswissenschaft
Text der Rezension:

 
Ein eigenartiges Buch: Sein Titel versammelt Grundbegriffe, die für Kultur und Erziehungswissenschaft des Abendlandes zentral sind, aber heute nur noch selten derart geballt vereint werden; die Autorin verspricht dennoch, diese gewichtigen Themen vom 17. bis ins 21. Jahrhundert zu behandeln, also von der Konstitutionsphase der Moderne bis über die Gegenwart hinaus; orientiert an der These von der “Unzulänglichkeit heutiger Wissenschaftsorientierung“ wird zudem schon in der Einleitung nicht nur eine nahezu apokalyptische Verfallsdiagnose der gegenwärtigen Welt - als Ergebnis unbefragter bzw. falscher “Wissenschaftsorientierung“ - gegeben, sondern auch die Suche nach “Faktoren“ versprochen, “die eine andere Art von Wirklichkeit definieren“ (S. 17). 
Der Aufbau des Buches bietet dann drei Teile, in denen kritische Retrospektive, konstruktiver Neuentwurf und Systematik einander folgen. Die kritische Retrospektive (Teil 1, S. 27-263) bezieht sich auf die “Historische Entwicklung von Wissenschaftsorientierungen in der Pädagogik“ seit dem neuzeitlichen Sündenfall, wie man den Startpunkt bei Descartes und dem “Cartesianismus“ nach Meinung der Autorin verstehen muß. Kontrapunktisch liest sie dann Comenius und die Pansophie, es folgen Kapitel über Rousseaus “Naturalismus“, Humboldts “Neuhumanismus“, Deweys “Pragmatismus“, Skinners “Behaviorismus“, über die “Geisteswissenschaftliche Pädagogik“, die “kritisch-rationale Eruiehungswissenschaft“, die “Kritische Erziehungswissenschaft“ (mit Habermas und Schaller) und die “Antipädagogik“, bevor nach einem Hinweis auf “Neuere Überlegungen zu Wissenschaft und Pädagogik“ (von Postman bis zur Frauenforschung) die “Ansätze“ zusammengefaßt und in einem Schaubild geordnet werden.
Ihre Methode nennt die Autorin in diesem Teil die der “Wissenschaftsforschung“, wie sie als empirische Disziplin im 20. Jahrhundert entfaltet worden sei; konkret liefern die Kapitel jeweils in gleicher Sequenz Hinweise auf das “Welt- und Menschenbild“, auf den Wissenschaftsbegriff, auf das Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit, auf Untersuchungs- und “Anwendungsgebiete“ sowie auf die (implizite oder explizite) “pädagogische Methode“, d.h. die “praktische Umsetzung in Erziehung, Unterricht und/oder Lehre“ des jeweiligen “Ansatzes“ (vgl. S. 27). Da wird also viel versprochen, der Leser erhält im Detail aber kaum mehr als knappe Paraphrasen und viele Zitate zu den Autoren und Schulen bzw. Richtungen (die ja auch nicht umstandslos alle der Pädagogik oder der Erziehungswissenschaft zurechenbar sind). Die Darstellung erhebt keinen Originalitätsanspruch, sieht man davon ab, daß analytisch zunächst die dichotome Konstruktion regiert, die schon die einleitende Verfallsdiagnose instrumentierte. Manche Darstellung ist im Detail problematisch, z.B. das Descartes-Kapitel, unkritisch, z.B. bei Comenius, oder falsch, wie die erneute Zurechnung von W.Brezinka zum kritischen Rationalismus Poppers; manches ist auch nur kurios, z.B. die Verknüpfung von Luhmann mit dem Behaviorismus Skinners (S. 124 ff. - ohne auch nur einen einzigen Titel Luhmanns authentisch zu zitieren oder in der Literatur zu nennen). Die Pointe ist jeweils einfach: Wissenschaft wird im Blick auf die gegebene oder eine (unterstellt positive) kontrafaktische Entwicklung von Welt, Bildung und Erziehung referiert und bezogen - und von hier aus diskutiert oder problematisiert.
Dem Begriff besserer Wissenschaft bzw. Bildung und Pädagogik gelten auch die Texte in Teil 2 (S. 264-403), in dem die Ergebnisse von “Expertengesprächen“ wiedergegeben werden. Diese Experten, insgesamt vier (sic 4!) aus den USA und Deutschland, die alle “praxsiorientiert“ (S. 22) arbeiten, äußern sich auf Fragen, in denen ebenfalls Urteile über die aktuelle und erwartete soziale und pädagogisch-praktische Relevanz von Wissenschaften und über ihr Verständnis von Pädagogik/Bildung/Erziehung provoziert werden (nach der Methode der “natural investigation“, wie die Gesprächsvorbereitung und -führung bezeichnet wird). Dem weiten Wissenschaftsbegriff, der Teil 1 regiert, entspricht das Selbstverständnis der Befragten in Teil 2: “I don`t see myself as a scientist“, sagt beispielsweise der erste Befragte, und entsprechend fallen die Urteile über Wissenschaft bzw. die eigenen Projektionen aus: Kritisch gegenüber exakten Wissenschaften, positiv gestimmt für eine Wissenschaft, die als holistisch, praxisbezogen, anwendungsorientiert, humanistisch, menschenfreundlich, fortschrittlich bezeichnet werden kann (etc.). Die Autorin versucht trotz der erkennbaren Beliebigkeit in der Auswahl der Gesprächsteilnehmer auch hier ein Fazit, das in systematischer und konstruierender Weise freilich erst Teil 3 bietet: “Wegweiser zu zukunftsweisenden Orientierungen in Pädagogik, Wissenschaft und Bildung“ (S. 404 ff.). 
Diese Orientierungen werden jetzt, etwas überraschend, als Synthesen aus den kritisierten und aus alternativen Konzepten von Wissenschaft vorgestellt, in vier Gruppen gebündelt und jeweils mit den unterstellten Konsequenzen für “Pädagogik `morgen`“ verbunden: “sozialhumanistisch kritische Orientierung“, “nomothetische und idiographische Orientierung“, “emanzipatorische menschenzentrierte Orientierung“ und “fortschrittliche menschenfreundliche Orientierung“. Die Einzelheiten mag man den Tabellen und Übersichten entnehmen, mir scheinen die Details diffus und die Unterscheidungen wenig trennscharf (z.B. “`fortschrittlich und menschenfreundlich` wird in dieser Orientierung gleichgesetzt mit vorwärtstreibend und pädagogisch, d.h. nützlich für den Menschen generell und kinderfreundlich und lehrerfreundlich im pädagogischen Bereich“ - S. 429); die konstruktiven Optionen sind schlicht voluntaristisch, die Verknüpfung mit bekannten pädagogischen Konzepten von Wagenschein bis zum “integrativen“ Lernen ist nicht selten so willkürlich wie Urteile über einzelne Erziehungswissenschaftler (z.B.: “Elisabeth Flitner wendet sich ebenfalls gegen den Rationalismus.“ - S. 13, wenn E.F.s Analysen von Hegel und Max Weber zitiert werden).
Jedenfalls, die neuen Orientierungen sollen Abhilfe versprechen gegen die Übel, die der falschen Wissenschaftsorientierung zugeschrieben werden, und an die die Autorin abschließend noch einmal erinnert: “mangelnde Humanität, Krieg, Wirtschaftskrisen, Einschränkung menschlicher Fähigkeiten wie Liebe, Kreativität und Handlungskompetenz, Allergien, Tod durch Drogen, Seuchen, Zerstörung der Natur und die Möglichkeit des Weltuntergangs ... als Folgen der Ausrichtung auf Quantifizierbarkeit, Standards der Objektivität, einen falschen Wahrheitsbegriff, wegen fehlenden übergreifenden Sinns und von Wertungen, der Nichtbeachtung von Subjektivität und praktischer Fähigkeiten sowie der Ignorierung der sozialen Wirklichkeit und gesellschaftlichen Relevanz.“ (S. 404)
Kritik versagt gegenüber solchen Argumentformen und Denkstrategien so wie wahrscheinlich auch die Erinnerung wenig helfen wird, daß weder Wissenschaftsforschung so verstanden werden kann oder praktiziert wird, wie das hier geschieht, noch die abendländisch-westliche Tradition auf diese höchst lückenhaft-willkürliche Sequenz von Descartes und Comenius bis zu den deutschen Pädagogen des 20. Jahrhunderts kondensiert werden sollte (auch wenn man, Kant zu Ehren, vielleicht sagen darf, daß er Glück gehabt hat, nicht genannt worden zu sein). Man muß sich wohl im Konsens mit Krisendiagnosen und apokalyptischen Szenarien befinden, um Zugang zu dem Text zu finden, und wohl auch mit “Pädagogik Wissenschaft Bildung“ die großen Hoffnungen verbinden, die den Fluchtpunkt der hier vorgelegten Überlegungen bilden, um Nutzen daraus zu ziehen. Hilfreich für die Lektüre ist in jedem Fall große und mit selbstsicherer Emphase verbundene Distanz zu präzisen Begriffen von Wissenschaft und Forschung und ihren Möglichkeiten sowie die Neigung, Machtfragen, politische Probleme und Konflikte allein im Bilde der “verwissenschaftlichten Zivilisation“ zu begreifen. Dann mag man sich auf “Pädagogik Wissenschaft Bildung“ so einlassen, wie es die Autorin tut. Hoffentlich schützt es nicht nur gegen alternative Lernerfahrungen, wie es der Band schon bestätigt, sondern immunisiert auch gegen Enttäuschungen, die wohl unausweichlich sind.

Erfassungsdatum: 16. 04. 1999
Korrekturdatum: 08. 03. 2011