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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Busch, Friedrich W.
Rezensiertes Werk: Cloer, Ernst: Theoretische Pädagogik in der DDR: eine Bilanzierung von aussen. Weinheim: Deutscher Studien Verl. 1998 (Bibliothek für Bildungsforschung, Bd.7), 308 S., ISBN 3-89271-758
Erscheinungsjahr: 1999
Text der Rezension:    

 


Cloer, Ernst: Theoretische Pädagogik in der DDR. Eine Bilanzierung von aussen.  
Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1998  
(Bibliothek für Bildungsforschung, Bd. 7)  
Br., 308 S., ISBN 3-89271-758-3; DM 68,-  
 

Rezensiert für HBO von  
Prof. Dr. Friedrich W. Busch (FWBUSCH@hrz1.uni-oldenburg.de) 
Universität Oldenburg, Arbeitsstelle Bildungsforschung  
 

Der Hildesheimer Erziehungswissenschaftler Ernst Cloer gehört zu den wenigen, die sich mit Fragen und Sachverhalten der Entwicklung der Pädagogik in Deutschland seit 1945 kontinuierlich beschäftigt haben. Aus der Bochumer "Schule der Vergleichenden Erziehungswissenschaft" Oskar Anweilers kommend, hat er sich im Rahmen der vergleichenden pädagogischen DDR-Forschung - jener speziell in Deutschland unter den Bedingungen der Teilung entwickelten Teildisziplin der Vergleichenden Erziehungswissenschaft - mit der Analyse der Entwicklung der Pädagogik (in) der DDR schon früh einen Schwerpunkt geschaffen; nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist dies zu einem zentralen Forschungsschwerpunkt einer noch zu schreibenden Bildungsgeschichte der DDR geworden. Neben dieser durch etliche Veröffentlichungen nachgewiesenen Kompetenz kommt bei Cloer noch hinzu, dass er sich auch in die methodologische Diskussion um die (Neu)Vermessung des Gegenstandes der Vergleichenden und Historischen Bildungsforschung eingemischt und sie mit vermittelnden Diskussionsbeiträgen beeinflusst hat. Cloer weiss auch - im Unterschied zu manchen Autoren, die sich erst nach 1990 mit der Pädagogik, der Bildungspolitik und den Erziehungsverhältnissen in der SBZ/DDR zu befassen begannen - wovon er redet, wenn er sich zur Rekonstruktionsnotwendigkeit der Wissenschaftsgeschichte der Pädagogik äussert; deren Gelingen macht er u. a. davon abhängig, dass in dieses Vorhaben auch "ehemalige Repräsentanten der DDR-Pädagogik" einbezogen werden (vgl. hierzu Cloer/Wernstedt (Hg.): Pädagogik in der DDR. Eröffnung einer notwendigen Bilanzierung, Weinheim 1994).  

Mit seiner hier anzuzeigenden Veröffentlichung "Theoretische Pädagogik in der DDR. Eine Bilanzierung von aussen" fasst Cloer nun das zusammen, was er in einem fast 25-jährigen Forschungsprozess als seinen Beitrag zur Bildungsgeschichte der DDR - bezogen auf die universitäre Pädagogik und ihre Teildisziplinen - verstehen kann. Der Band enthält insgesamt 11 Studien, die zwischen 1973 und 1997/98 entstanden sind; acht sind bereits an anderer Stelle erschienen, rechtfertigen aber den Wiederabdruck - teilweise mit Aktualisierungen versehen -, weil auf diesem Weg der Nachvollzug der Forschungsargumentation möglich und die vermittelnde Position deutlich wird, die Cloer innerhalb der sehr unterschiedlichen konzeptionellen Ansätze bisher vorliegender Beiträge zur Bildungsgeschichte der DDR und der Rekonstruktion von - vermutet bedeutsamen - Theoriekontroversen in der Pädagogik der DDR einnimmt. (Das Adjektiv "theoretisch" im Titel ist nicht gerechtfertigt und wohl nur gewählt worden, um das Buch von einer Veröffentlichung Cloers aus dem Jahre 1994 zu unterscheiden.) Cloer entfaltet seinen Ansatz in der Studie mit dem Titel "Die Pädagogik in der DDR - ein monolithisches Gebilde? Differenzierung tut not: das Nebeneinander von Staatspädagogik und reflektierenden Pädagogik-Ansätzen" (S. 71-93). Bei diesem Text handelt es sich um das Resümee der 1993 von Cloer und Wernstedt auf einer Tagung in Hildesheim angeregten "Eröffnung einer notwendigen Bilanzierung" der Entwicklung, des Stellenwertes und der "Leistungen" einer wie immer (noch) zu charakterisierenden DDR-Pädagogik. Von "Eröffnung" der Bilanzierung wird zurecht gesprochen, auch wenn seit 1990 bereits eine Reihe von Autoren im Umfeld der Rekonstruktion der DDR-Pädagogik sich zu Wort gemeldet haben. Die in einzelnen dieser "Wortmeldungen" geäusserten Auffassungen und Thesen waren Cloer zu weitreichend und "voreilig". Das veranlasste ihn zu dem aus meiner Sicht verdienstvollen Versuch, "Massgaben für die Bilanzierung pädagogischer Theorieentwicklung" (S. 74ff) zu formulieren und zur Diskussion anzubieten. Nach Cloer ist daher für alle Bilanzierungsversuche zur DDR-Pädagogik bedeutsam, dass die "Ansätze von Pluralisierung" gesichert und der "Lehrkörper" und die "Lehrgestalt" einbezogen werden, dass sie "theoriegeleitet" sind, den "Zusammenhang von personaler Lebensgeschichte und Wissenschaftsgeschichte" berücksichtigen und dass die "Bilanzierung von aussen" durch die "von innen" ergänzt wird. Weil Cloer im Zusammenhang mit meiner - von ihm anerkennend angesprochenen - Arbeit als Gründungsdekan an der Technischen Universität Dresden (1991 bis 1993) den Eindruck gewonnen zu haben glaubt, ich würde mich gegen die Einbeziehung der ehemaligen Repräsentanten der DDR-Pädagogik, damit gegen die Einbeziehung der Bilanzierung von innen aussprechen, will ich klarstellen, dass dies nicht der Fall ist. Als ich am 9. Juli 1993 meine Bilanz einer 20-monatigen Gründungsarbeit in Dresden zog (vgl. F. W. Busch: Erinnerungen auf dem Wege der Erneuerung, Oldenburg 1993, und Wege entstehen beim Gehen, Dresden 1993), berichtete die Tagespresse wenige Tage zuvor über die in Hildesheim stattgefundene Tagung zur "Eröffnung der Bilanzierung". Und da dort nur ehemalige Repräsentanten der DDR-Pädagogik (von Edgar Drefenstedt über Karl-Heinz Günther und Gerhart Neuner bis zu Christa Uhlig) referierten, habe ich Zweifel an solcher Art von Bilanzierungen geäussert. Dass die Zweifel nicht unberechtigt waren, zeigen einige weitere inzwischen vorliegende Veröffentlichungen etwa von Gerhart Neuner und Karl-Heinz Günther.  

An den oben angesprochenen "Massgaben" orientieren sich auch die Studien von Ernst Cloer soweit sie nach 1990 entstanden sind. Dabei ist der den Band eröffnende Text "Bildungspolitik, Pädagogik und Erziehungsverhältnisse in der DDR als Gegenstand der historischen Bildungsforschung in den 90er Jahren" (S. 3-41) wichtig, weil er u. a. auch die Anregungen aufgreift, die von den - aus der Sicht der Erziehungswissenschaft - Nachbardisziplinen Politik- und Geschichtswissenschaft sowie Soziologie für den Diskurs über die "Erforschung der DDR" und die Lösung der "Aufgaben der Vereinigung" ausgegangen sind. Vor diesem Hintergrund zeigt Cloer dann derzeitige Forschungsdesiderate auf, die von der von ihm nun so genannten "Historischen Bildungsforschung zur DDR" - aus dem vormaligen Feld der Vergleichenden Bildungsforschung bezogen auf die DDR hervorgegangen - aufgegriffen werden sollten. Zu wünschen wäre, dass die diversen Drittmittelgeber, die sich zur Förderung der sog. "Transformationsforschung" entschieden haben, sich nicht nur auf die augenscheinlich konjunkturträchtigen Themen bei der Mittelvergabe konzentrieren, sondern auch den eher vernachlässigten Aspekten (Orte der Selbstbildung, Bildungsarbeit, lokale Wissenschaftskulturen) Fördermittel einräumen.  

Dass Untersuchungen zur vermuteten Pluralität pädagogischer Denkformen für die Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte Pädagogik (in der DDR) bedeutsam sind, ist sicher unbestritten. Cloers Studie "Universitäre Pädagogik in der frühen DDR - ausschliesslich Legitimationswissenschaft? Untersuchungen zur Pluralität pädagogischer Denkformen" (S. 45-70) ist ein guter Beleg für den in diesem Punkt von mir festgestellten Konsens. Ob diese Vorhaben aber unter der Sammelüberschrift "Vergessene Theoriekontroversen", wie sie die um Dietrich Benner versammelte Berliner Foschergruppe verwendet, zu führen sind (vgl. Benner/Sladek: Vergessene Theoriekontroversen in der Pädagogik der SBZ und DDR 1946-1991, Weinheim 1998), ist aus meiner Sicht eher fragwürdig. In der DDR sind vorhandene "Kontroversen" nicht vergessen worden, sondern sehr früh schon durch die im Deutshen Pädagogischen Zentralinstitut (DPZI) bzw. in der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW) institutionalisierte und als parteinahe nur milde gekennzeichnete Pädagogik unterdrückt worden; in der pädagogischen DDR-Forschung wurden sie zudem nicht übersehen, sondern auf deren Vorhandensein in den 50er Jahren ist von verschiedenen Autoren hingewiesen worden - und dies ohne die heute aufgrund der inzwischen zugänglichen Archive neue Quellenlage.  

Auf zwei Studien, die Cloer zur Erforschung "lokaler Wissenschaftskulturen" (in der DDR) ebenfalls in diesem Band vorlegt, soll abschliessend noch hingewiesen werden, weil darin sowohl Forschungsdesiderate aufgegriffen werden, als auch eine der von Cloer vorgeschlagenen "Massgaben", nämlich die Berücksichtigung des Zusammenhangs von Lebens- und Wissenschaftsgeschichte exemplifiziert wird. Den Lokalbezug stellt die Universität Halle-Wittenberg dar, die Professoren Hans-Herbert Becker, Hans Ahrbeck und Friedrich Winnefeld sind die personenbezogenen Beispiele. Beide Studien liefern zunächst eine Fülle von interessanten Detailinformationen, die möglich wurden durch die Auswertung bisher unzugänglicher Materialien und Quellen. Sie greifen darüber hinaus aber auch methodisch/methodologische Aspekte auf, die für die Rekonstruktion der "Bildungsgeschichte der DDR" bedeutsam sind: von der Diskussion der "Erkenntnisinteressen" über "Periodisierungsfragen" bis zur "Hermeneutik" der grauen Literatur. Bei seinem Versuch, insbesondere das "pädagogische Denken" Hans Herbert Beckers vor "voreiligen Schlüssen" zu bewahren bzw. solche Forscher, die dieses Denken in die Nähe der "Sowjetisierung" rücken könnten, aufzuklären, kann Cloer auf die Vorlesungstexte Beckers zur "Systematischen Pädagogik" aus dem Jahr 1951/52 zurückgreifen, allerdings nur dadurch dann feststellen oder "rekonstruieren", dass Becker sich nicht der "Übernahme der Sowjetpädagogik" - wie die meisten seiner damaligen Fachkollegen - anschloss, sondern kontroverse Positionen zu marxistischen Grundlegungsversuchen artikulierte. Die Frage, mit welchem Grad an Öffentlichkeitswirksamkeit dies möglich war, wird auch heute kaum zu beantworten sein.  

Im Zuge der insbesondere von Berliner Forschergruppen mit Neugier betriebenen "Bilanzierung", "Rekonstruktion" und Aufarbeitung der "Bildungsgeschichte der DDR" werden im Vorfeld von neuen Forschungsvorhaben noch eine Menge von Fragen formuliert und Hypothesen aufgestellt werden. Wenn diese jedoch nicht rückbezogen werden auf das Wissen und die Erkenntnisse, die eine kritisch-reflektierte, auf die DDR bezogene vergleichende Bildungsforschung schon vor der Vereinigung und vor der Öffnung bislang verschlossener Archive zur Verfügung stellte, wird es wieder zu voreiligen Antworten und situationsbezogenen Einschätzungen kommen, die dann wenig mit wissenschaftlicher Aufarbeitung der Bildungsgeschichte der DDR zu tun haben. Cloer hat mit seiner Veröffentlichung eine wichtige Orientierung für schon angelaufene oder zukünftig geplante Forschungsvorhaben auf diesem Gebiet geliefert. Insofern ist sie allen, die auf diesem Gebiet forschen oder zu forschen gedenken, nachdrücklich zur Lektüre zu empfehlen.  
 
 

Erfassungsdatum: 19. 02. 1999
Korrekturdatum: 02. 04. 2004