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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Krause, Sabine
Rezensiertes Werk: Meybohm, Ivonne: Erziehung zum Zionismus : der Jüdische Wanderbund Blau-Weiß als Versuch einer praktischen Umsetzung des Programms der Jüdischen Renaissance. - Frankfurt am Main [u.a.] : Lang, 2009. - 132 S. ; (Zivilisationen & Geschichte ; 2) ; ISBN: 978-3-631-58481-1
Erscheinungsjahr: 05/2012
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Institut für Bildungswissenschaft, Abteilung Theorie und Empirie der Bildung und Erziehung, Universität Wien

E-Mail: sabine.krause@univie.ac.at
Text der Rezension:

Mit Erziehung zum Zionismus. Der Jüdische Wanderbund Blau-Weiß als Versuch einer praktischen Umsetzung des Programms der Jüdischen Renaissance verspricht Ivonne Meybohm zu analysieren, „welche Dispositionen der Jugendlichen durch die Erziehung im Blau-Weiß verändert, also in diesem Fall beseitigt oder neu geschaffen werden sollten.“ (S. 12) Der angelegte Erziehungsbegriff folgt Wolfgang Brezinka, der Erziehung als Versuch bezeichnet, „andere Menschen so zu beeinflussen, daß sie Persönlichkeitsverfassungen erwerben, die von den Handelnden (und/oder ihren Auftraggebern) für wertvoll oder sozial erwünscht gehalten werden.“ [1] Meybohm möchte zudem die „zionistische Indoktrination“ als „kognitive Ergänzung“ zu den „auf die Praxis ausgelegten Methoden“ der Jugendbewegung herausarbeiten (S. 13). Untersuchungsgegenstand sind die vom Wanderbund herausgegebenen Blau-Weiß-Blätter, weitere zeitgenössische Zeitschriftenaufsätze, ein Aktenbestand des Central Zionist Archive Jerusalem sowie umfangreiche Sekundärliteratur insbesondere zur zionistischen Bewegung. Als Untersuchungsmethode gibt die Autorin ein diskursanalytisches Verfahren an.

Im ersten Kapitel Zwischen Zionismus und Jugendbewegung widmet sich die Autorin der historischen Einordnung des Blau-Weiß’. Die Positionierung des Wanderbundes und seiner Mitglieder innerhalb der zionistische(n) Bewegung(en) in Deutschland in den ersten Jahr-zehnten des 20. Jahrhunderts stellt den ersten Teil der Verortung dar. Mit Jehuda Reinharz wird eine Folge von drei Generationen von Zionisten in Deutschland entworfen: die erste Generation von etwa 1897 bis etwa 1910 als Generation der „doppelten Loyalität als Deut-sche und Zionisten“ (S. 27) [2]; die zweite Generation (etwa 1910–1918) wird als „Distanz-Generation“ bezeichnet, in welcher es zu einem Bruch sowohl mit der ersten Generation wie auch mit dem Liberalismus kam und in welcher zugleich eine Distanz zwischen zionistischer Gruppe und Deutschtum aufgebaut werden sollte (S. 27f.) [3]; die dritte Generation schließlich (etwa 1918–1933) war die Generation des praktischen Zionismus einschließlich landwirtschaftlicher Ausbildung und Siedlungsprojekten in Palästina (S. 30f.) [4]. Für die erste Phase des Blau-Weiß’ stellt Meybohm fest, dass die Unterscheidung der ersten beiden Generationen hier in dieser Deutlichkeit nicht gezogen werden kann, da die zweite Generation der Anschauung der ersten in vielerlei Hinsicht folgte und es damit nicht unbedingt zum Bruch zwischen den Generationen kam (vgl. S. 29). Die Gründung des Wanderbundes Blau-Weiß wird als Aktion der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) aufgefasst und mit Verweisen auf Sitzungsprotokolle und Interviews belegt. Nach Meybohm diente der Bund auch der Rekrutierung von Nachwuchs für die ZVfD (S. 21) sowie innerhalb jüdischer Studentenverbindungen (S. 40f.), zu denen ein enges Verhältnis bestand.

Ein Vergleich des Wanderbundes Blau-Weiß mit der Wandervogelbewegung macht den zweiten Teil dieses Kapitels aus. Die Autorin arbeitet den spannenden Befund heraus, dass gerade Aufbau und Form der Jugendbewegung eine gute Möglichkeit geboten hätten, zionis-tische Ziele zu verfolgen, da diese Tugenden erforderten, die auch zum Aufbau eines jüdi-schen Staates notwendig gewesen seien (S. 46).

Dem Hauptziel der Arbeit widmet sich das dritte Kapitel, welches zugleich das umfangreichste ist: Erziehung zum Zionismus – die Umsetzung der Vorgaben der Jüdischen Renaissance? Argumentiert wird in diesem Kapitel mit dem Terminus „jüdische Erziehung“, worunter die Autorin „eine Umschreibung des Sachverhalts zionistischer Indoktrination“ (S. 55) versteht. Eine tatsächliche Anlehnung an den Erziehungsbegriff Brezinkas erfolgt insofern, als dass Erziehungsmittel und Erziehungsmethoden des Wanderbundes in diesem Kapitel Gegenstand der Untersuchung sind, die der Veränderung der Dispositionen der Jugendlichen dienen sollten. Inwiefern es sich nun um Erziehung oder Indoktrination handelt ist dabei uneindeutig, da beide Begriffe hier nebeneinander stehen. Erstes Ziel der Erziehung im Blau-Weiß war eine Rückbesinnung auf die Natur, die sich in einem tatsächlichen Zurück zur Natur in Form von Wandern sowie einer Abkehr vom städtischen Bürgerleben wiederfand. Insofern war der jüdische Wanderbund analog zur Wandervogelbewegung konzipiert. Auch andere (Stil-)Elemente der deutschen Jugendbewegung wie das Singen oder eine einheitliche Kleidung wurden wertgeschätzt und übernommen. Ergänzt wurde dies durch ein Wiederbeleben jüdischer Traditionen, die in dieser gesellschaftlichen Gruppe nicht mehr aktiv verfolgt wurden. Zu dieser Wiederbelebung gehörten religiös begründete Aspekte wie eine koschere Kochweise, aber auch die Umdeutung und Neubewertung kultureller Feste.

In der Betrachtung zu kurz gekommen sind Momente des Scheiterns (beispielsweise an der hebräischen Sprache oder am jüdischen Kalender) und Zweifelns seitens der Jugendlichen. Diese für Erziehungs- und Bildungsprozesse sowie für die Identitätsbildung konstitutiven Momente hätten in ihrer Betrachtung eine aufschlussreiche Möglichkeit geboten, der Veränderung der Dispositionen der Jugendlichen nachzuspüren, die mit der „jüdischen Erzie-hung“ oder „zionistischen Indoktrination“ ja erreicht werden sollte.

Im vierten Kapitel wird dann ein kurzer Abriss der Zeit ab 1918 gegeben, die die bündische Phase des Blau-Weiß darstellt. In aller Knappheit wird doch schlüssig eine Veränderung der Linie des Blau-Weiß zum praktischen Zionismus gezeichnet, die in verschiedenen Siedlungsversuchen in Palästina gipfelt. In dieser Zeit löste man sich von einem Programm der „jüdischen Renaissance“, ebenso wie es zum Bruch mit „zionistischer Indoktrination“ kam (S. 97f.).

Eine Schwachstelle der Veröffentlichung ist der scheinbar unbedarfte Umgang mit Begrifflichkeiten. Die Autorin unterlässt es, die Konzepte „Indoktrination“ oder „(kollektive) Identität“ zu klären. Dies wäre wünschenswert gewesen, da es die inhaltlichen Ausführungen zu beiden Konzepten merklich gestützt hätte und zugleich zielführend in Hinblick auf die Forschungsfragen hätte sein können. Die Aufnahme der ausführlich dargestellten Generationen von Zionisten nach Reinharz könnte ebenso eine vielversprechende Möglichkeit zur Deutung der Ereignisse im und um den Blau-Weiß bieten. Das Verhaftetsein in Deutschland, das sich Distinguieren von anderen Auswanderergruppen in Palästina sowie das schließliche Scheitern der Siedlungsprojekte des Blau-Weiß lassen sich in mancherlei Hinsicht auf die deutschen zionistischen Generationen beziehen.

In ihrem Umgang mit dem Quellenmaterial weißt die Arbeit einige Ahistorizitäten auf, die gerade in der gewählten Analysemethode des diskursanalytischen Verfahrens problematisch sind. Insgesamt wird eher interessen- und inhaltsgeleitet argumentiert denn diskurs-analytisch. Dies hat zur Folge, dass eine Entwicklung der differenzierten Diskussion innerhalb des Wanderbundes nur in Ansätzen nachgezeichnet wird. In Bezug auf die Frage nach Erziehungsmitteln, deren Einsatz, Wirkung und Veränderung ergibt sich damit das Folgeproblem, dass auch hier keine verbindende Linie erkennbar ist. Eine selektive Auswahl „aussagekräftiger Texte“ für die Analyse (S. 18) mag der Auslöser dieses methodologischen Problems sein.

Im Fazit lässt sich sagen, dass die sehr ambitionierte Arbeit einen guten Überblick zum Jüdischen Wanderbund Blau-Weiß gibt, der sich durch weitgehende Aufarbeitung bereits bestehender Arbeiten auszeichnet. Detailliertere und methodologisch anders angelegte Fragestellungen ergeben sich in der Lektüre und lassen auf weitere Forschung(en) hoffen.

Anmerkungen:
[1] Brezinka, Wolfgang (1978): Metatheorie der Erziehung. München und Basel, S. 61.

[2] Reinharz, Jehuda (1980): Ideology and Structure in German Zionism, 1882–1933. In: Jewish Social Studies Vol. 42, No. 2, Articles Devoted to Zionism and Israel (Spring, 1980), pp. 119-146, 127f.

[3] Ebd., S. 129f.

[4] Ebd., S. 132f.

Fussnote:

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von Wolfgang Gippert und Michael Geiss.

© 18.05.2012 by HBO, alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Rezension; Zionistische Jugendbewegung; Jüdischer Wanderbund Blau-Weiss; Jugendarbeit; Jugendkultur
Eingetragen von: barkowski@dipf.de
Erfassungsdatum: 18. 05. 2012
Korrekturdatum: 18. 05. 2012