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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Schwan, Torsten
Rezensiertes Werk: Ralf Koerrenz: Schulmodell: Jena-Plan : Grundlagen eines reformpädagogischen Programms. - Paderborn [u.a.] : Schöningh, 2012. - 170 S. ; ISBN: 978-3-506-77228-2 ; 3-506-77228-7
Erscheinungsjahr: 05/2012
zusätzl. Angaben zum Rezensenten: Torsten Schwan, Osnabrück
E-Mail: Torsten.Schwan@gss-osnabrueck.de
Text der Rezension:

Über den Jenaer Erziehungswissenschaftler und Reformpädagogen Peter Petersen (1884-1952) und seine Jenaplan-Pädagogik wird erneut kontrovers diskutiert, seitdem offensichtlich wurde, dass er sich noch stärker als bislang bekannt nationalsozialistisch engagierte. [1] Die Diskussion verläuft im Kontext der allgemeinen Debatte um reformpädagogische Ideen und Projekte, die seit 2010 geführt wird, als die 1999 bekannt gewordenen Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule endlich öffentlich registriert wurden. [2] Innerhalb dieses Rahmens legt nun der Jenaer Erziehungswissenschaftler Ralf Koerrenz eine Studie vor, mit der er Petersens Erziehungswissenschaft der Jahre 1927/31 für die heutige Pädagogik revitalisieren will (vor allem S. 35-45 und 103-120).

Zurecht verweist Koerrenz darauf, dass sich Petersen durch seine nationalsozialistischen Aktivitäten als Vorbild diskreditiert habe, wenn auch sein Blick auf ihn als „hemmungsloser und zugleich blinder Opportunist“ bzw. „als Ausführungsgehilfe eines Terrorregimes“ (S. 23) recht allgemein bleibt. Petersens biographische Entwicklungen blendet Koerrenz weitgehend aus, da es ihm vorrangig um das Werk gehe, wobei er zurecht betont, dass man „Person und Werk nie vollständig“ voneinander trennen könne (S. 14).

An der Studie irritiert zunächst, dass auf den ersten Seiten vielfach Fragen gestellt werden (auf den ersten 28 Seiten 30 Fragen), die im Anschluss häufig nicht beantwortet werden. Als Folge gewinnt man den Eindruck, es gehe weniger um „Fragwürdigkeiten“; nicht umsonst werden grundsätzliche Positionierungen schon zu Beginn vorgenommen: „Die Erstauflage des Schulmodells `Jena-Plan` [aus dem Jahre 1927; T.S.] ist unproblematisch. Eine Distanzierung vom theoretischen Ausgangspunkt des Jena-Planes ist nicht nur unnötig, sondern auch irreführend.“ (S. 37) Zugleich geht der Autor davon aus, dass Petersen seine Pädagogik schon vor und noch mehr nach 1933 gezielt „verwässert“ und „verschleiert“ habe (S. 39-42) – mit welchen Intentionen das geschehen sein soll, bleibt aber offen.

Der Studie geht es programmatisch um „Nützlichkeitserwägungen“ für die heutige Jenaplan-Praxis (S. 14-16). Dazu grenzt sie sich explizit von niederländischen Jenaplan-Anhängern ab – Koerrenz nennt vor allem Kees Both –, die sich zunehmend von Petersens theoretischem Werk distanziert haben. [3] Gegen ihre Vorstellungen, die weitgehend ohne dessen Gemeinschaftsbegriff auskommen, argumentiert Koerrenz, dass die Jenaplan-Praxis weiterhin nicht von Petersens Erziehungstheorie und -metaphysik getrennt werden dürfe (S. 147-164). Zugleich will Koerrenz dessen Theorie zum besseren Verständnis „verfremden“, wobei er selbst bemerkt, dass seine theoretischen Grundlagen so zu „vielleicht kryptisch wirkenden Vor-Sätzen“ werden (S. 17). Dieses Vorgehen überzeugt wenig, gerade auch, weil die von Petersen und seinem Werk ausgehenden Wirkungen in der Vergangenheit nur allzu oft „verfremdet“ worden sind, und zwar nicht selten, um damit über allzu viele Probleme sowohl in Petersens Theorie als auch in seinem Verhalten nach 1933 und nach 1945 hinwegzutäuschen.

Durch diesen Fokus wird der Entwicklungsprozess, den Petersen ab seiner 1923 erfolgten Berufung nach Jena vollzog, nur eingeschränkt deutlich. Methodisch führt der Ansatz, man solle „das Schulmodell Jenaplan zunächst so skizzieren, als habe es die Einpassung von Peter Petersen in das System der NS-Diktatur und die Korrumpierung des Schulmodells nicht gegeben“ (S. 22f.), nicht weiter. Denn die Ansicht, dass Petersens Fortentwicklungen „Pervertierungen eines in sich guten Grundansatzes sind, die zur Anbiederung an totalitäre Regime geführt“ hätten, ist stark verkürzend (S. 24). Tatsächlich gab es noch kein „totalitäres Regime“, als sich Petersen in seiner Ende 1931 erschienenen „Pädagogik“, auf die Koerrenz mit keinem Wort eingeht, von der Weimarer Republik zugunsten einer undemokratischen Ständeordnung verabschiedete. [4] Mit „Anbiederung“ hatte das nichts zu tun, mit Fortentwicklung hingegen viel.

Indem er Petersens Gemeinschaftsvorstellungen vor der NS-Zeit für die heutige Jenaplan-Pädagogik fruchtbar machen möchte, konstruiert Koerrenz ein unklares Konzept von „Gegenöffentlichkeit“ und nimmt darin die Diskussion um „pädagogische Autonomie“ wieder auf, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jh.s vielfach geführt worden ist, so als sei die Erziehungswissenschaft seitdem nicht deutlich vorangeschritten (S. 47-80). Auch schulpraktisch kann dieser Ansatz nicht überzeugen. Denn Petersens originäre Jenaplantheorie trug schon vor 1933 nur bedingt dazu bei, Schüler vor gesellschaftlichen Verwertungsinteressen zu schützen. Nicht umsonst wollte er sie bereits vor dem Ende ihrer Schulzeit in die von ihm erträumte „Volksgemeinschaft“ einpassen. [5]

Dass jene „Volksgemeinschaft“ tatsächlich nichts anderes als die Gesellschaft war, blieb ihm dabei zeit seines Lebens verschlossen. Denn anders, als Petersen vermeinte und worin ihm Koerrenz kritiklos folgt, ist „Gemeinschaft“ nur in begrenzten Fällen und also „exklusiven“ zwischenmenschlichen Beziehungen erfahrbar. Sie schließt andere Menschen zwangsläufig von diesem individuellen Erfahrungsraum aus. Insofern basiert sie nach außen immer auf Exklusion. Zugleich ist jeder intentionale Erziehungsprozess, der also von außen mit dem Ziel der Veränderung von Dispositionen oder Verhalten auf das Individuum einwirkt, zwangsläufig von Macht- und damit auch von Herrschaftsmomenten geprägt, schulpädagogisch nur noch mehr, da Schule in ein gesellschaftlich gewolltes Berechtigungswesen eingepasst ist. Darauf hat auch schon Petersen hingewiesen. [6]

Die Frage lautet also, wie können Lehrerinnen und Lehrer ihre Schülerinnen und Schüler vor den gesellschaftlichen Verwertungsinteressen schützen, sie dabei aber zugleich auch so weit in sie mit einführen, dass diese die Selbstverantwortung für ihr Leben in immer größerer Mündigkeit selbst tragen können. Um beides zu erreichen, sollte Schule nicht so konzipiert werden, als fände sie außerhalb gesellschaftlicher Bedingungen statt. Dieser Ansicht war auch Petersen, was Koerrenz allerdings anders sieht: „Die `Neue` Schule hat in diesem Sinne gegenüber dem Wirtschaftssystem so etwas wie `Klostermauern` zum Schutz der ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen aufzurichten.“ (S. 53)

Jene kritiklose Annahme, Schule könne als heile Welt konstruiert werden, überzeugt nicht. Eine „Gegenöffentlichkeit“ in Anlehnung an Petersens „Gemeinschafts“-Begriff, den Koerrenz zurecht als „weltanschaulichen Kampfbegriff“ klassifiziert (S. 42), ohne dass er daraus allerdings die entsprechenden Konsequenzen zieht, kann nicht jenen „Schutzraum“ gestalten, den Koerrenz schaffen will. Seine Forderung, dass „Schule sich als Gegenwelt zur Gesellschaft zu verstehen und zu konstituieren“ habe (S. 55), ist letztlich eine contradictio in adiecto: Denn „Gegenöffentlichkeit“ kann als „pädagogische Provinz“ gedacht, aber nicht entsprechend gestaltet werden. Wenn Koerrenz fordert, Schule solle als „quasi die ideale Familie“ den tatsächlichen Familien „entgegengestellt werden“, da „die Familie […] den gesellschaftlichen Bedingungen der Zweck-Mittel-Kommunikation unterliegen“ würde und „im Schwinden begriffen“ sei (S. 73), dann will er der Schule potenzielle Zugriffsmöglichkeiten geben, die kaum mit Artikel 6 unseres Grundgesetzes zu vereinbaren sind. Der Schule wird hier ein verabsolutierter Anspruch beigemessen, an dem sie in glücklichen Fällen nur scheitern kann – und in weniger glücklichen Fällen sind ganz andere Konsequenzen zu befürchten: Verkörperte doch beispielsweise jener „pädagogische Eros“ eines Gerold Beckers die Kehrseite eines Verständnisses von Reformpädagogik, das sich selbst als so „wertvoll“ verstand, dass es die Schandhaftigkeit des eigenen Verhaltens nicht mehr erkennen wollte. [7] Und das gilt für nicht wenige Handlungen Petersens – spätestens nach 1933 – nicht minder.

„Gemeinschaft“ als „Gegenöffentlichkeit“ führt insofern bestenfalls in eine pädagogische Auenlandschaft, aber sicherlich nicht in eine bessere Welt. Jenaplan-Pädagogik sollte also nicht erneut als ein gesellschaftsfernes Modell konzipiert, sondern bestenfalls kann ihr eine neue Theorie unterlegt werden, wie das in den letzten Jahrzehnten vor allem in den Niederlanden versucht worden ist, nämlich als eigenständige Fortentwicklung ohne Petersens vielfach verquaste Gemeinschafts-Ideologie. Um deren Reinstallation geht es Koerrenz allerdings in aller Deutlichkeit: „`Gemeinschaft` ist das Fundament – praktisch und theoretisch. Wer den Gemeinschaftsaspekt in den Hintergrund rückt oder gar grundsätzlich in Frage stellt, entzieht dem Modell die es tragende Grundannahme.“ (S. 27)

Letztlich entwickelt der Autor in weitgehend ungebrochenem Rückgriff auf Petersens Vorstellungswelt der endenden 1920-er/beginnenden 1930-er Jahre eine „unpolitische Schule“, die deshalb kritiklos dessen Ziel einer ständischen Ordnung der Gesellschaft in eigene Ansichten integriert, wie jener sie 1931/32 konstruierte, unabhängig davon, ob Koerrenz das nun will oder nicht (S. 103-120). In diesem unkritischen Sinne werden auch Petersens religiöse Begründungsansätze als vorbildhaft hervorgehoben (S. 121-138). Was allerdings dessen aus seiner Zeit heraus zu verstehender Protestantismus noch mit der heutigen Schule der bundesdeutschen Einwanderungsgesellschaft zu tun haben soll, bleibt ebenfalls unklar.

Zugleich ist problematisch, dass der Autor nicht nur hier vielfach auf Petersens NS-Schrifttum zurückgreift, ohne dabei dessen Votum für ein Religionsverständnis der „Deutschen Christen“ mitsamt des von ihm propagierten Antisemitismus zu reflektieren. Eine zeitgemäße Jenaplan-Pädagogik ist auch darauf sicherlich nicht zu bauen. Das nur umso mehr, weil Koerrenz die immer deutlicher hervortretende Kooperation mit zentralen thüringischen SS-Eliten nicht zur Kenntnis nimmt, die Petersen ab Ende der 1930-er Jahre vollzog. [8] Zugleich geht er nicht auf die von Ortmeyer vor wenigen Jahren aufgefundenen rassistischen Petersen-Artikel ein. [9] So wie man an der Odenwaldschule über lange Jahre nichts von den Missbrauchsfällen hören wollte, schlängelt sich die deutsche Jenaplan-Pädagogik nun schon seit Jahrzehnten um ihre nationalsozialistische Vergangenheit herum, wenn sie sie nicht gleich zum eigenen Guten umformuliert. [10]

Am Ende kann die Studie in ihren vielfachen Unklarheiten nicht überzeugen. Vielmehr ist es künftig notwendig, sich ohne defensive Tendenzen der Person Petersen und auch der nationalsozialistischen Periode der Jenaplan-Pädagogik zu stellen, um in der zu vollziehenden Abgrenzung eine eigene Theorie zu erarbeiten, die zeigt, dass es auch in erziehungswissenschaftlichem Verständnis eine zeitgemäße Jenaplan-Pädagogik gibt. Die Auseinandersetzung mit Petersens Werk kann Denkprozesse auslösen, eine zeitgemäße Pädagogik aber kann es nicht begründen.

Anmerkungen:
[1] Auslöser war die Habilitationsschrift des Frankfurter Erziehungswissenschaftlers Benjamin Ortmeyer: Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen. Weinheim 2009; vgl. auch die Rezension unter http://www.fachportal-paedagogik.de/hbo/hbo_set.html?Id=536 (06.04.2012).

[2] Vgl. zur Debatte beispielsweise Theodor Schulze: Thesen zur deutschen Reformpädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 57 (2011), S. 760-779; Jürgen Oelkers: Replik auf Theodor Schulze. In: Ebd., S. 780-785.

[3] Kees Both: Jenaplan 21. Schulentwicklung als pädagogisch orientierte Konzeptentwicklung. Hohengehren 2001, S. 27-29, 238f.

[4] Peter Petersen: Pädagogik. Berlin 1932, vor allem S. 91-118, 153-162.

[5] Peter Petersen: Allgemeine Erziehungswissenschaft. Berlin/Leipzig 1924, S. 271-276; Derselbe: Der Jena-Plan einer freien allgemeinen Volksschule. Langensalza 1927, S. 10f.; 1929(2), S. 10f.; 1932(3/4), S. 14-17; 1934(5/6), S. 16f.; 1936(7/8), S. 18f.; 1946(9/12), S. 13-15.

[6] Peter Petersen: Führungslehre des Unterrichts. Berlin/Leipzig 1937, S. 29.

[7] Vgl. zur historischen Entwicklung neuerdings Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik. Weinheim 2011.

[8] Vgl. Torsten Schwan: „... um die aus der Weimarer Zeit übernommene Substanz zu sichern“? Peter Petersen, der Nationalsozialismus und die defensiven Traditionen aktueller Rezeptionsentwicklungen. Frankfurt am Main. 2011, S. 39-102.

[9] Benjamin Ortmeyer: Peter Petersens Schriften und Artikel in der NS-Zeit. Dokumente 1933-1945. Frankfurt am Main o.J., S. 699-725.

[10] Vgl. die unlängst geführte Debatte um den vormaligen „Petersen-Platz“ in Jena unter http://streitumpetersen.wordpress.com (06.04.2012).

Fussnote:

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von Wolfgang Gippert und Michael Geiss.

© 18.05.2012 by HBO, alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Rezension; Reformpädagogik; Jenaplan
Eingetragen von: barkowski@dipf.de
Erfassungsdatum: 18. 05. 2012
Korrekturdatum: 23. 05. 2012