Die Seiten werden nicht mehr aktualisiert – hier finden Sie nur archivierte Beiträge.
Logo BBF ---
grün und orangener Balken 1   grün und orangener Balken 3

HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Thielen, Marc
Rezensiertes Werk: Bischoff, Eva: Kannibale-Werden : eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlichkeit um 1900. - Bielefeld: Transcript-Verl., 2011. - 382 S.; (Postcolonial Studies; 8); ISBN 978-3-8376-1469-5
Erscheinungsjahr: 01/2012
zusätzl. Angaben zum Rezensenten: Institut für Sonderpädagogik, Goethe-Universität, Frankfurt am Main
E-Mail: M.Thielen@em.uni-frankfurt.de
Text der Rezension:

Bei der Buchpublikation handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung der von Eva Bischoff 2008 an der Ludwig-Maximilians-Universität München vorgelegten Dissertationsschrift “`Ich bin doch kein Kannibale`: Alterität und Männlichkeit zwischen 1890 und 1933“. Die Studie wurde von der DFG im Rahmen eines Stipendiums gefördert. Wenngleich sich die Autorin in ihrer Untersuchung auf das späte 19. bzw. frühe 20. Jahrhundert bezieht, ist der Zusammenhang von Kannibalismus und der Konstruktion `fremder` Männlichkeit keineswegs nur ein historischer. Dies zeigt die mediale Berichterstattung über die Ermordung eines deutschen Seglers auf der Südseeinsel Nuku Hiva durch einen Inselbewohner im Herbst 2011. Nach dem Fund der menschlichen Überreste wurde der Verdacht von Kannibalismus geäußert und mit kulturellen Traditionen begründet. So schreibt Spiegel Online: “Kannibalismus gehörte bis Mitte des 18. Jahrhunderts zu den Ausprägungen der dortigen kriegerischen Kultur, seitdem stellt er eigentlich kein Problem mehr dar.“[1] Verwiesen wird auf als bereits überwunden geglaubte kannibalische Praktiken der Südseekultur, die geschlechtlich codiert sind: Üblicherweise werden Männer als “Krieger“ bezeichnet.

Im skizzierten Fall offenbart sich eine spezifische Konstruktion `fremder` Männlichkeit, wie sie für (post-)koloniale Gesellschaften typisch ist: Hier dient der “wilde Kannibale“ - und dies ist der Ausgangspunkt der Studie von Eva Bischoff - als ein “Distinktionsmerkmal weißer, bürgerlicher, heterosexueller Männlichkeit“ (S. 10). Auf den ersten Blick scheint das Verhältnis der beiden Männlichkeitskonzepte klar und eindeutig: Die kannibalische Männlichkeit archaischer Gesellschaften lässt sich in radikaler Abgrenzung zur hegemonialen Männlichkeit moderner Gesellschaften verstehen.[2] Bischoff weist jedoch bereits in Kapitel 1 diese Lesart zurück und folgt demgegenüber der in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung schon länger vertretenen Auffassung, dass der Kannibalismusdiskurs “im Kern eher Erzählungen über das Eigene, denn über das kannibalische Andere transportiert“ (S. 11). Bischoffs historische Rekonstruktion mündet in die These, dass der männliche Körper im Untersuchungszeitraum generell als durch primitive Impulse und sexuelle Begierden durchdrungen konzipiert wurde. Der Unterschied zwischen kannibalischer und hegemonialer Männlichkeit wurde lediglich darin gesehen, dass ausschließlich letztere die Fähigkeit zur Triebkontrolle besessen hätte. Insofern rekonstruiert die Autorin ein “Kontinuum der männlichen (Ab-)Normalität“ (S. 16), indem sowohl die kannibalische als auch die hegemoniale Männlichkeit verortet wurde.

Die Studie geht der Frage nach, “welche Rolle [...] das Wissen um die kolonialen Kannibalen innerhalb des deutschen Kolonialprojektes [spielte] und welche in der postkolonialen Situation im Mutterland“ (S. 14). In ihrer Diskussion bringt die Autorin drei sehr unterschiedlicher Forschungsfelder in einen interdisziplinären Austausch: Kriminologie, Geschlechtergeschichte und Kolonialgeschichte. Die theoretischen Bezüge werden in Kapitel 1 differenziert dargestellt und kritisch reflektiert. Bischoff gelingt es, die komplexen und voraussetzungsvollen Zugänge pointiert mit Blick auf ihre Fragestellung zu skizzieren und leserfreundlich aufzubereiten. Der Aufbau der Studie und das Vorgehen bei der Quellenanalyse werden übersichtlich und nachvollziehbar beschrieben. Transparenz schaffen die Erläuterungen zum herangezogenen Quellenkorpus, der sich auf vielfältiges Material stützt: Aktenmaterial aus Strafverfahren gegen mutmaßliche Kannibalen, fachwissenschaftliche Publikationen zum Kannibalismus sowie massenmediale Darstellungen von Kannibalen in Printmedien. Der Anhang enthält 17 Abbildungen, welche einen tieferen Einblick in die bildlichen Konstruktionen kannibalischer Männlichkeit eröffnen.

Die Rekonstruktion und Interpretation der Quellen erfolgt in fünf Schritten. Zunächst wird in Kapitel 2 das im Zuge der deutschen Kolonialisierung Ostafrikas produzierte Wissen vom “wilden Kannibalen“ rekonstruiert. Bischoffs Analyse belegt zwar, dass die Konstruktion vom Kannibalen als “Verkörperung der evolutionären Vergangenheit der Menschheit“ (S. 70) die vermeintliche Überlegenheit der weißen Kolonialherren bestätigte. Zugleich wird jedoch die Lesart einer eindeutigen Trennung zwischen “Zivilisierten“ und “wilden Kannibalen“ zurückgewiesen und gezeigt, dass auch die kolonialisierte Bevölkerung an der Produktion vom Wissen über Kannibalen beteiligt war: Angesichts der Sammlung und Vermessung von Schädeln gerieten die Europäer selbst unter Kannibalismusverdacht. Die Kolonialisten wiederum identifizierten sich über Witze mit den `kannibalischen Wilden`. In Kapitel 3 untersucht Bischoff, wie der koloniale Diskurs um weiße männliche Identität und kannibalische Alterität in der medizinischen Fach- und Ratgeberliteratur sowie in Abenteuer- und Jugendromanen in Deutschland aufgegriffen wurde. Die Männlichkeit des weißen Kolonialisten rekonstruiert sie dabei als fragil und verweist auf die “Gefahr einer doppelten Inkorporierung“ (S. 120): durch Kannibalen sowie durch Viren und Bakterien in der kolonialen Umwelt. Am Beispiel der Tarzan-Romane arbeitet Bischoff exemplarisch heraus, dass neben der Angst, von Kannibalen verschlungen zu werden, zugleich die Angst thematisiert wurde, selbst zum Kannibalen zu werden. Die Autoren spricht von einer “prekäre[n] Ambivalenz von angstvoller Selbstkontrolle einerseits und lustvoller Identifikation mit dem wilden Kannibalen andererseits“ (S. 142).

Kapitel 4 fokussiert den kriminologischen und medizinisch-psychiatrischen Fachdiskurs und untersucht, in welcher Weise sich dort das Wissen vom “wilden Kannibalen“ niederschlägt. In Bezug auf die Begründung von Kannibalismus rekonstruiert Bischoff einen Diskurswandel: Wurden bislang Aberglauben und Gier als wesentliche Ursachen beschrieben, wurde Kannibalismus nun als “Resultat einer degenerierten Körperlichkeit“ (S. 168) betrachtet. Die Autorin verdeutlicht dies am Beispiel des von Lombroso beschriebenen “geborenen Verbrechers“ (S. 178), eines genetisch zur Kriminalität degenerierten Menschen. Die Analyse verweist abermals auf die potenzielle Fragilität des männlichen Körpers, was Bischoff am damals neu definierten Krankheitsbild der Psychopathie konkretisiert. Ihrer Rekonstruktion nach sind damit letztlich solche Situationen beschrieben, in denen die “bürgerlich-männliche Selbstdisziplinierung fehlschlug“ (S. 190). Diesen Aspekt vertieft Bischoff in Kapitel 5, in dem sie die Relation zwischen kannibalischer und hegemonialer Männlichkeit am Beispiel von Kannibalismusprozessen in Deutschland sowie an der Debatte um die afro-französischen Soldaten im Zuge der Rheinland-Besetzung (1919-1930) rekonstruiert. Bischof zeigt auf, dass sich in den rassistischen und sexualisierten Diskursen um die schwarzafrikanischen Soldaten “Elemente [...] der Lustmordsignatur“ (S. 227) widerspiegeln, die sich aus den staatsanwaltlichen Akten der Strafprozesse herausarbeiten lassen.

In Kapitel 6 analysiert Bischoff die politische Dimension des Kannibalismusdiskurses in der Weimarer Republik, der “zur Selbstverständigung über die Lage der Nation, zur Diffamierung des parteipolitischen Gegners sowie zu einer klassenspezifischen Differenzierung des jugend-männlichen Körpers benutzt wurde“ (S. 241). Die Autorin hebt die Verknüpfung des “cannibaltalk“ mit antisemitischen und antihomosexuellen Diskursen hervor und zeigt als Übereinstimmung zum kolonialen Kannibalismusdiskurs auf, dass nun abermals die “Unversehrtheit des jugendlichen, männlichen Körpers auf dem Spiel“ (S. 282) stand. Dies begründet die Tatsache, dass der Kannibalismus-Diskurs auch als Argument für eine strengere anti-homosexuelle Strafgesetzgebung genutzt wurde. In ihrem Resümee verweist Bischoff zu Recht auf das Potenzial einer postkolonialen Perspektive für die deutsche Geschlechtergeschichte (S. 287). Ihrer Studie gelingt es überzeugend, die binäre Codierung zwischen `Kannibale` und `Mann` zu hinterfragen und demgegenüber aufzuzeigen, dass der Kannibale im diskutierten historischen Zeitraum inhärenter Bestandteil männlicher Identitätskonstruktion war. Folgerichtig lässt sich die Studie als ein Plädoyer verstehen, weiße, heterosexuelle, bürgerliche Männlichkeit als eine mannigfaltige und zugleich spannungsgeladene Konstruktion zu betrachten, die ihre Identität aus einer “Vielzahl von Beziehungen zwischen heterogenen Termen“ (S. 288) generiert. Dieser Aspekt ist zweifelsohne auch für die auf die Gegenwart bezogene migrationsspezifische Männlichkeitsforschung aufschlussreich, in der das Verhältnis von einheimischer und zugewanderter Männlichkeit häufig ebenfalls in dem von Bischoff problematisierten Modus binärer Differenz beschrieben wird.


Anmerkungen:

[1] Spiegel Online, 15.10.2011, Kannibalismusverdacht. Polizei findet Menschenknochen an Feuerstelle, (20.12.2011).

[2] Dies gilt auch in Bezug auf gegenwärtige Konstruktionen `fremder` Männlichkeit in westlichen Gesellschaften. So beschreibt Ewing den muslimischen Mann als Beispiel für eine stigmatisierte Männlichkeit, die in westlichen Gesellschaften als Antithese von modernen Prinzipien wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte mythologisiert wird. Vgl. Katherine Pratt Ewing, Stigmatisierte Männlichkeit: Muslimische Geschlechterbeziehungen und Staatsbürgerschaft in Europa, in: Lydia Potts / Jan Kühnemund (Hrsg.), Mann wird man. Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam, Bielefeld 2008, S. 19-37.

Fussnote:

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von Wolfgang Gippert.

© 30.01.2012 by HBO, alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

Dieser Text kann zu nicht-kommerziellen Zwecken kopiert werden. Bei Übernahme des Textes wird die Angabe von Autor und Ursprungsort erwartet.

Sie möchten ein Buch zur Rezension vorschlagen oder selbst eines für HBO besprechen? Dann wenden Sie sich bitte per e-mail an: wgippert@uni-koeln.de oder mgeiss@ife.uzh.ch.

Wenn Sie über neu erscheinende Rezensionen infomiert werden wollen, können Sie sich in die Mailingliste Paed-Hist-L von HBO subskribieren lassen.

Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Rezension; Männlichkeit; Kolonialismus; Kannibalismus
Eingetragen von: barkowski@dipf.de
Erfassungsdatum: 30. 01. 2012
Korrekturdatum: 30. 01. 2012