Rezensent(in): | Apel, Hans Jürgen |
Rezensiertes Werk: | Liebau, Eckart/Mack, Wolfgang/Scheilke, Christoph Th.(Hrsg.): Das Gymnasium: Alltag, Reform, Geschichte, Theorie. Weinheim/München: Juventa 1997. (Grundlagentexte Pädagogik) Br., 388 S., ISBN 3-7799-0357-1 |
Erscheinungsjahr: | 1999 |
Text der Rezension: |
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Dass ein Buch über das Gymnasium veröffentlicht wird, gehört zu den Raritäten des erziehungswissenschaftlichen Diskurses. Eher dominieren die Ansichten, die von der universalen Erziehungswissenschaft für alle schulischen Situationen ausgehen, also eine gymnasial orientierte erziehungswissenschaftliche Erörterung nicht für sinnvoll halten. Die Herausgeber dieses gewichtigen Bandes mit seinen vier Schwerpunkten zu Geschichte und Gegenwart, zu Reform und Theorie dieser Schulart haben sich jedoch anders entschieden und das ist recht so. Das Gymnasium verdient diese Aufmerksamkeit, ist es doch die "führende und maßstabsetzende Schulform" (S. 9) in unserem mehrgliedrigen System, die Schule, zu der 30 bis 50% der Schüler eines Jahrgangs streben. Dieser Zulauf, die neue Heterogenität der Schüler, so die Autoren, ist zugleich das Problem der Schule; denn die einstige Eliteschule, konzipiert zur Beschulung von etwa 5 bis 10% eines Jahrgangs, kann diesen Zulauf nicht verkraften, obwohl sie sich bereits "wesentlich" (S. 10) gewandelt hat. Trotz dieser Veränderung haben "viele Schülerinnen und Schüler" ebenso wie "viele Lehrerinnen und Lehrer" "große Schwierigkeiten mit der Schule" (S. 9). Auch modifizierte Umgangsformen, die begrifflich an reformpädagogische Forderungen erinnern, können die Probleme nicht auffangen; sie "wirken häufig wie aufgesetzte Fremdkörper" (S. 9). In dieser Situation, so die Autoren, besteht dringend der Bedarf an pädagogischer Reflexion. Es ist notwendig, dass Gymnasiallehrer zu ihren Bedingungen und Aufgaben ein "neues Selbstverständnis" (S. 11) entwickeln, durch das sie sich gleichzeitig in der Übergangszeit der Postmoderne für eine pädagogische Weiterentwicklung dieser Schulform offenhalten. Dazu soll das Buch beitragen. Diesem hohen Anspruch kann der Rezensent nur zustimmen. Reflexion ist immer dringend erforderlich, in diesem Fall aber durch die erschwerten Bedingungen eines rasanten Systemwandels besonders geboten. Das Buch soll nun - so der Anspruch - in vier Schwerpunkten diese Reflexion anregen und stützen. Zunächst wollen die Autoren den Alltag des Gymnasiums abbilden, ihn geradezu sinnlich erfahrbar machen, wie die sehr anschaulichen Schilderungen bald vermitteln. Danach sollen sich Perspektiven des nötigen Aufbruchs in didaktische und edukative Welten eröffnen. In einem dritten Teil binden die Autoren die Zukunft wieder an die Vergangenheit zurück, indem sie die Geschichte an gymnasialen Entwicklungsschwerpunkten festmachen. Und schließlich versprechen sie Reflexionshilfe durch bildungstheoretische Erörterung, die notwendig ist, um den Anspruch einzulösen. Die Einleitung
schließt jedoch etwas überraschend mit einer zentralen Frage der schulischen
Wirklichkeit. Das Gymnasium bleibt - so die Autoren - trotz aller Widersprüche
eine "Leistungsschule mit - gut begründbaren - hohen Ansprüchen" (S.
13). In ihr müssen die Beteiligten die "Spannung von Förderung und Auslese"
aushalten, sie aber gleichzeitig durch die Übernahme "neuer pädagogischer
Aufgaben der Förderung und der Sozialintegration" (S. 13) abmildern. Man
darf auf die Lösungsvorschläge in diesem Buch gespannt sein. Aber sind
die Forderungen wirklich neu? Spätestens seit den 1970er Jahren stellen
sie sich vehement und führten auch bereits zu Reaktionen seitens der Gymnasiallehrerschaft.
Schon allein die Institutionalisierung von Gesamtschulen mit konkurrierender
pädagogischer Programmatik wirkte anstoßend auf gymnasiale Vorstellungen.
Im zweiten Abschnitt geht es um Reformen, d.h. um neue Organisationsformen schulischen Lernens. Unterrichtliche Formen werden nun zwar angesprochen, aber ausschließlich in einem handlungsorientierten Modus und ohne Berücksichtigung der gegenwärtig diskutierten lehr-lern-theoretischen Forschungen zum schulischen Lernen. Projektlernen und Profilbildung der Oberstufe werden präsentiert, die Integration verschiedenster Lehr-Lern-Formen wird dabei angesprochen. Die Beiträge vermitteln ein buntes Bild ausgewählter, aber doch ähnlicher Schulen, in denen so etwas wie ein pädagogischer Aufbruch in eine bestimmte Richtung geschieht. Allerdings werden dabei auch gängige Vorurteile reproduziert, etwa darüber, dass Projektlernen "die Eigeninitiative der SchülerInnen als eigenständig Handelnde und ein Lernen in eigener Erfahrung" fördere - so, als habe es etwa Petris gründliche Projektstudie (1991) mit ihren kritisch-konstruktiven Anmerkungen zu dieser Form schulischen Lernens nicht gegeben. Auch fehlen Überlegungen, wie denn eine profilierte Oberstufe mit nur geringem Sprachunterricht in einer Zeit der europäischen Einigung dazu beitragen kann, die allgemeinen Fremdsprachenkenntnisse zu erhöhen. Zu fragen ist, ob die genannten Oberstufenschwerpunkte (S. 148ff.) für ein Leben im Europa des 21. Jahrhunderts vorbereiten. Die eingangs genannte Leistungsschule Gymnasium wird hier recht einseitig akzentuiert. Oder bedeutet Reform Leistungsverzicht? Das würde der eingangs betonten Position widersprechen. Wenn J. Schweitzer später die KMK-Vereinbarungen zur Oberstufe vorstellt, wird allerdings deutlich, dass sich als Reformer verstehende Kräfte mehr Offenheit bei den Vorgaben und weniger inhaltliche Bindung an Lernpflichten erwartet hatten. Aber zu ihrem Schrecken wurde der "Muff traditioneller Gymnasialpädagogik" (S. 278) nur partiell erschüttert. Sind die Gutachter der KMK wirklich so beschränkt gewesen? Eine Geschichte des Gymnasiums sollte am Ende des 20. Jahrhunderts auch das nun zurückliegende Jahrhundert stärker einbeziehen, zumal in ihm wichtige Entscheidungen zur gymnasialen Weiterentwicklung getroffen wurden. Auf Herrlitz` präzisen Überblickartikel zur Sozialgeschichte der Institution (mit allerdings nur knappen Hinweisen zur neueren Geschichte des Gymnasiums) folgen thematisch durchaus sinnvolle Einzelabhandlungen. Dass der Abiturartikel als "Spurensuche" in der Antike beginnen muss, vermag der Rezensent nicht einzusehen, ist das Abitur doch eine in der Neuzeit institutionalisierte Qualifikation. Dafür werden wichtige Passagen der Abiturgeschichte dann schnellstens abgehandelt, so Weimar und Drittes Reich. Dort wären gründliche Studien angebracht gewesen. Auch die Darstellung der Perioden nach 1945 vermittelt den Interessierten keinen Überblick zur weiteren Entwicklung. Genauer ist der Beitrag zur gymnasialen Mädchenbildung, obwohl auch hier die längst bekannten Vorgänge des 19. Jahrhunderts dominieren. Die weitere Entwicklung hin zur Koedukationsdebatte am Ausgang des 20. Jahrhunderts wäre gründlicher zu zeichnen. Die anschließende soziologische Analyse von Arbeit und Beruf der Gymnasiallehrer ist so umfangreich, dass viele Facetten der Professionalisierungsfrage deutlich werden. Insgesamt muss dieser zweite Abschnitt jedoch problematisch bleiben, weil historisches Baumaterial, aber kein Gebäude vermittelt wird. Die Geschichte des Gymnasiums wird dadurch nicht deutlich. So fehlt es vor allem an einer zusammenfassenden Darstellung der Entwicklung nach 1945, die in beiden Teilen Deutschlands zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt hatte und nun wieder zusammengeführt worden ist. Wenn man aus der Geschichte lernen soll, dann muss sie auch in Zusammenhängen Überblicke verschaffen. Im vierten Teil gehen die Herausgeber bildungstheoretischen Fragen nach. Das ist sinnvoll, galt und gilt doch das Gymnasium als Bildungsinstitution. Dass dies heute nicht mehr im elitären Sinne verstanden werden kann, dass Bildung als "Laienbildung" (S. 301) wirksam sein und sich Bildungsangebote an den gesellschaftlichen Verhältnissen und Notwendigkeiten orientieren müssen, das ist nicht neu, aber immer wieder gegen eine widerstandsfähige Institution einzufordern. E. Liebau verlangt deshalb, dass Gymnasien wieder zu Bildungsanstalten werden, zu Institutionen, in denen "gehaltvolle, ruhige, reflexive Bildungsförderung" (S. 300) als zentrale Aufgabe angesehen wird. Das erscheint sehr vernünftig, gleichwohl aber auch unter den Bedingungen der Organisation höchst schwierig. Rezensent war kürzlich einen Vormittag lang in Unterrichtsstunden eines Gymnasiums, von dem Liebau vielleicht sagen würde, es befinde sich noch in organisatorischen Bahnen des 19. Jahrhunderts (S. 300) und funktioniere zudem unter erheblichem Zeitdruck. Eine solche Organisation ist sicher problematisch; aber ist die vorher angesprochene meditative Anstalt wirklich noch zeitgemäß? Welche Schüler gehen denn in diese Institution? Viele von ihnen haben für so etwas keinen Sinn. Richtig ist zweifellos, dass das Gymnasium als Schule eine Praxis etablieren sollte, in der die Erziehungsziele wie "Selbstbestimmung, Teilhabe, Solidarität, Toleranz, Nützlichkeit, Mündigkeit oder Genussfähigkeit" (S. 301) gelebt werden (können) - aber wie? Derartige Forderungen lassen sich leichter formulieren als durchführen; denn trotz allem bleibt auch die Forderung nach einer leistungsfähigen höheren Schule. Nach der kritisch-konstruktiv
gemeinten Aneignung dieser Veröffentlichung zur Gymnasialpädagogik muss
man feststellen, dass eine Schrift vorliegt, die trotz der vorhandenen
Unzulänglichkeiten zu argumentativer Auseinandersetzung mit den schulpädagogischen
Fragen des Gymnasiums anregen kann. Sie ist zum Schluss nicht so einseitig
wie mittendrin und sie erfüllt einen wichtigen Auftrag, zur Diskussion
über eine bedeutende gesellschaftliche Institution aufzufordern. Deshalb
ist das Buch lesenswert, auch wenn vor allem der Passus Geschichte und
die Darstellung des Alltags - in der vorliegenden Form - nicht zufriedenstellen
können.
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Erfassungsdatum: | 22. 01. 1999 |
Korrekturdatum: | 02. 04. 2004 |