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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Hofmeister, Andrea
Rezensiertes Werk: Vormoderne Bildungsgänge: Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Frühen Neuzeit / Hrsg.: Jacobi, Juliane; Le Cam, Jean-Luc; Musolff, Hans-Ulrich.- Köln [u.a.] : Böhlau, 2010. - 297 S. (Beiträge zur historischen Bildungsforschung ; 41); ISBN 978-3-412-20492-1 = 3-412-20492-7
Erscheinungsjahr: 01/2011
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Dr. Andrea Hofmeister, Göttingen

E-Mail: ahofmei@gwdg.de
Text der Rezension:

Der Sammelband vereinigt 14 Vorträge europäischer Bildungshistoriker/innen, die auf der 12. Tagung des Arbeitskreises Vormoderne Erziehungsgeschichte (AVE) zum Thema “Bildungsgänge. Selbst- und Fremdbeschreibungen in der frühen Neuzeit“ vom 11.-13. März 2009 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZIF) der Universität Bielefeld gehalten wurden. Für den Druck wurden die Beiträge überarbeitet, von den Herausgebern unter revidierten Kriterien neu geordnet und mit einer deutschen und französischen Einleitung versehen.

Die vorausgegangene Tagung hatte es sich zum Ziel gesetzt, die literaturwissenschaftlichen Forschungen zur Autobiographik und die Bemühungen der Geschichtswissenschaft um die Untersuchung von Selbstzeugnissen und Lebensläufen in der Frühen Neuzeit auch für die Bildungswissenschaft fruchtbar zu machen. Der “Bildungsgang des Subjekts“ (S. 7), von jeher ein zentrales Thema pädagogischen Denkens vor allem für die Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts, sollte mit Bezug auf frühneuzeitliche Selbstzeugnisse reflektiert und damit eine fühlbare Lücke vor allem für die Bildungsgeschichte der Vormoderne geschlossen werden.

Als hilfreich und effektiv erwies sich die Strategie der Veranstalter/Herausgeber, die Tagungsbeiträger schon im Vorfeld zur Auseinandersetzung mit den Thesen und Forschungsergebnissen der Frühneuzeithistoriker Natalie Zemon Davis und Willem Frijhoff anzuregen. Während Natalie Zemon Davis Selbstzeugnisse als Quellen “in einem komplexen Prozess der Selbst- und Fremddefinition von Identität“ interpretierte und “Erfahrungen von Bildung als Selbstbildung und Ausbildung“ rekonstruierte, untersuchte Willem Frijhoff anhand seiner kollektivbiographischen bildungsgeschichtlichen Studien den “Zusammenhang von Identität, Erziehung und sozialer Legitimation in der frühneuzeitlichen niederländischen Gesellschaft“ (S.8), wobei das Konzept der “Sluipwegen“, also der “Seitenwege“, “Schleichwege“ oder gar “Umwege“ gegenüber einem angenommenen, institutionellen Erziehungskanon eine tragende Rolle spielte. Insbesondere die Effizienz dieses Konzepts der “Sluipwegen“ steht im Focus der Beiträge.

Unter dem Titel “Selbstkonstitution im Kontext“ diskutieren die Aufsätze im ersten Teil des Bandes einerseits verschiedene historische und literaturwissenschaftliche Methoden bei der Analyse von Bildungsgängen, vor allem auch die Wechselbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Quellengattungen und den dargestellten Inhalten (Willem Frijhoff, “Seitenwege der Autonomie“; Hans Rudolf Velten, “Die Konstruktion von Bildungswegen in frühen autobiographischen Texten“). Zum anderen untersuchen sie - eine charakteristische Thematik frühneuzeitlicher autobiographischer Bildungsbeschreibungen - die Selbstfindung und -entwicklung des religiösen Individuums im Medium autobiographischer Quellen (Katja Lißmann, “Der pietistische Brief als Bildungs- und Aneignungsprozeß“; Pia Schmid, “Bildungsgänge sub specie religionis“).

“Institution und Bildungsgang“ stehen im Mittelpunkt der Beiträge des zweiten Teils. Serge Tomamichel beschreibt anhand der “Stipendiaten des Kollegs von Savoyen in Löwen 1550-1614“, wie sich die tatsächlichen Bildungsgänge der Absolventen vom ursprünglichen Stiftungszweck entfernten: Anstatt mittelosen Studenten der savoyischen Stadt Annecy zu einem Theologiestudium zu verhelfen, nutzte es die Bürgerschaft als Medium des sozialen Aufstieg ihrer eigenen Söhne. Diese wiederum wählten oft eigene “Seitenwege“, welche weder dem Stiftungszweck noch den erwarteten Karrieremustern entsprachen. Ähnliche Beobachtungen macht Juliane Jacobi bei der Analyse “geförderter Lebensläufe“ Hallescher Waisenkinder im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts: Die sozialdisziplinierenden Intentionen einiger adliger Stifterinnen zeigten bei der Unterschichten-Klientel, der sie gewidmet waren, nicht den gewünschten Erfolg. Umso mehr profitierten jedoch die Kinder aus Pfarrerfamilien von der Erziehung im Halleschen Waisenhaus. “Seitenwege“ lassen sich anhand der Quellenart und des Samples jedoch nicht eindeutig identifizieren. Hans Ulrich Musolff und Stephanie Hellekamps stoßen bei der seriellen Auswertung der “Bildungsgänge und Seitenwege westfälischer Gymnasiallehrer 1600-1750“ tendenziell eher auf strukturelle und persönliche Gemeinsamkeiten, vor allem bei den jeweiligen Bildungsmustern der katholischen und lutherischen Lehrer, als auf Abweichungen. Diese sind, wenn überhaupt, nur bei den reformierten Gymnasiallehrern zu verzeichnen. Jean Luc Le Cam (“Reproduktion, Ausdifferenzierung, Seitenwege“) hingegen kann bei der Rekonstruktion von Bildungsgängen ratsverwandter Familien im Spiegel von 559 Leichenpredigten für einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten (1520-1720) einerseits institutionelle Ähnlichkeiten der Bildungscurricula wie Privatunterricht, Gymnasialbildung, Jurastudium, Bildungsreisen und praktische Ausbildung nachweisen. Andererseits identifiziert er unter anderem den Einfluss von Seitenverwandten oder Stiefeltern als individuelle Faktoren und Differenzierungsmöglichkeiten, die “Seitenwege“ begünstigten. Nicht Gymnasial- sondern Hauslehrer und ihre relativ vergleichbaren Bildungswege stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Martin Holy (“Die Privaterzieher des böhmischen und mährischen Adels“). Zwischen 1500 und 1620 sprachen die 318 untersuchten Präzeptoren böhmischer und mährischer Adelssöhne in der Regel Deutsch oder Tschechisch, gehörten einer protestantischen Konfession an, hatten in Prag oder an einer deutschen Universität studiert und nutzten die Tätigkeit als Studienbegleiter ihrer Zöglinge zur eigenen Weiterqualifizierung auf dem Weg zu Universitätsstellen. Den Abschluss des zweiten Teils bildet Harald Terschs Untersuchung der Bildungsgänge von Sängerknaben im Medium von Balthasar Kleinschroths Schrift über die Flucht der Sängerknaben des Klosters Heiligenkreuz in Niederösterreich (“Erfahrung und Autorität“). Während die typische Sängerknabenkarriere zumeist in den Klostereintritt mündete, führte der “Seitenweg“ des Sängerknabenpräfekten Kleinschroth zwischen den verschiedenen Bildungsmodellen katholischer alter und neuer Orden zum Beruf des Lehrers und Kapellmeisters.

Der dritte Teil des Tagungsbandes versammelt unter dem Titel “Solitäre oder Funktionseliten?“ eine Reihe von adligen Bildungsgängen. In ihrer Studie über sechs Privatbibliotheken adliger Damen aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg (“Die lesende Fürstin“) favorisiert Ulrike Gleixner statt des “Haupt“- und “Seitenweg“-Modells Carlo Ginzburgs Formulierung vom “außergewöhnlichen Normalen“, da die weiblichen Adelsangehörigen eine zum Teil sehr anspruchsvolle Erziehung erhielten, obwohl ihnen der normierte Bildungsweg männlicher Standesgenossen über Universität und Kavalierstour verschlossen geblieben ist. Jill Bepler (“Für den Notfall ausgebildet“) untersucht Bildungswege nachgeborener Fürstensöhne anhand der Braunschweig-Wolfenbüttler Herzogsfamilie und interpretiert deren jeweilige Konstruktionen von Identität als Gelehrte, Künstler und Militärs als Kompensation der versagten Herrscherrolle. Pascale Mormiche (“Sorgfalt und Strenge“) stellt die Erziehung französischer Adelsangehöriger für eine standesgemäße Position am Versailler Hof vor und identifiziert die persönlichen Charaktermerkmale ihres Protagonisten, Louis III. de Bourbon-Condé (1668-1710), als Ursache der Abweichung von der geforderten Norm gelehrter Bildung. Michaela Bill-Mrziglod beschließt den dritten Abschnitt des Bandes mit einer Untersuchung zum Bildungsweg der “Luisa de Carvajal y Mendoza (1566-1614)“. Die früh verwaiste Angehörige des spanischen Hofadels setzte nach jesuitischer Erziehung und autodidaktischer Weiterbildung konsequent ihre Absicht durch, als Semireligiose in England im Sinne der Gegenreformation missionierend tätig zu sein - und ganz gewiss ist hier ein “Seitenweg“ weiblicher Bildungsverläufe zu erkennen.

Über die Produktivität des Konzepts der “Seitenwege“ fällen die Herausgeber selbst ein differenziertes Urteil. Bei der Untersuchung kollektiver Bildungsgänge sei es zweifellos ein hilfreiches Instrument, da es den Blick für autonom gewählte und individuell gestaltete frühneuzeitliche Bildungswege schärfe. Weniger hingegen eigne es sich zur Beschreibung weiblicher Bildungsverläufe, da es in der Frühen Neuzeit keine von der sozialen Umwelt klar definierten weiblichen Bildungsgänge gegeben habe, von denen sich Frauen hätten absetzen können. Über die letzte These lässt sich trefflich streiten, da sie den in der gesamten frühen Neuzeit geführten, überraschend einheitlichen Diskurs zur Bildung von Frauen ausblendet, aus dem sich sehr wohl normierte Konstanten weiblicher Bildung ablesen lassen. Gerade hier ermöglicht das “Seitenweg“-Konzept aufschlussreiche Erkenntnisse über die Strategien, mit denen Frauen innerhalb der ihnen zugestandenen Bildungsinhalte Spielräume nutzten, um eine dennoch individuell geprägte Bildungsabsicht durchzusetzen - wie nicht nur der Beitrag von Michaela Bill-Mrziglod im vorliegenden Band belegt. Religiöse (Selbst-)Bildung war ein häufig gewähltes Refugium vor allem für weibliche Individualisierungsprozesse - dies zeigen Katja Lißmann und Pia Schmid, während Ulrike Gleixners Ausführungen einmal mehr verdeutlichen, dass auch in Bildungsfragen Stand vor Geschlecht die Normen setzte und Gelegenheit zu Grenzüberschreitungen bot.

Insgesamt präsentiert der Band ein ausgewogenes Ensemble methodologischer Überlegungen und Fallstudien zum Thema frühneuzeitlicher Aus- und Selbstbildung, das infolge der forschungsleitenden Fragestellung nicht nur durch die Kohärenz der Beiträge besticht, sondern sich auch mit seinen dankenswerter Weise angehängten Personen-, Orts- und Sachregistern als ein in vielen Studien- und Forschungszusammenhängen hilfreiches Standardwerk etablieren wird.

Fussnote:

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von Wolfgang Gippert.

© 06.01.2011 by HBO, alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Europa; Geschichte 1450-1750; Bildungsgang; Bildungsprozess; Lebenslauf; Selbstbild; Fremdbild
Eingetragen von: barkowski@dipf.de
Erfassungsdatum: 06. 01. 2011
Korrekturdatum: 07. 01. 2011