Autor: | Reimers, Bettina Irina |
Titel: | Geschichte der empirischen Pädagogik/Erziehungswissenschaft: Bericht zur Tagung |
Erscheinungsjahr: | 12/2008 |
zusätzl. Angaben zum Autor: | Dr. Bettina Irina Reimers Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung E-mail: reimers@dipf.de |
Text des Beitrages: | Am 26. und 27. September fand in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Berlin eine Tagung zur “Geschichte der empirischen Pädagogik/Erziehungswissenschaft“ statt. Organisiert wurde die Tagung von Christian Ritzi (BBF) und Ulrich Wiegmann (DIPF) in Kooperation mit der Sektion Historische Bildungsforschung in der DGfE und dem Institut für Historische Bildungsforschung Pestalozzianum der Pädagogischen Hochschule Zürich. Nach der Begrüßung durch den Direktor des DIPF, Marc Rittberger, und den Leiter der BBF, Christian Ritzi, hielt Marc Depaepe (Leuven), der sich durch seine Habilitationsschrift zur experimentellen Pädagogik in Europa und den USA 1880 – 1940 ausgewiesen hatte (1989), den Eröffnungsvortrag. In seinem Beitrag zu “Stand und Probleme der Historiographie der empirischen Erziehungswissen¬schaft“ stellte er vor der Folie seiner eigenen Forschungsarbeit historiographische, theoretische und methodologische Betrachtungen an, die die Diskussion über die Entwicklung der empirischen Richtung der pädagogischen Wissenschaften im Verlauf der Tagung anregen sollten und den Grundstein für die nachfolgende detaillierte Auseinandersetzung legten. Im Anschluss leitete Matthias von Saldern (Lüneburg) seinen Vortrag mit der Feststellung ein, dass es schwierig sei, eine “Geschichte der empirischen Pädagogik in der Bundesrepublik“ nachzuzeichnen, da sich die Empiriker zu wenig um ihre eigene Geschichte und auch um die Voraussetzungen ihrer eigenen Arbeit kümmerten. Im Weiteren ging er der Frage nach, in welchem Referenzsystem die Empirische Pädagogik zu verorten sei – ob sie als eigenständige Disziplin gelten könne, oder eher als Teildisziplin bzw. Ausschnitt der Erziehungswissenschaft zu verstehen sei, die ebenso wie die Nachbardisziplinen Soziologie und Psychologie mit Hilfe empirischer Methoden und Verfahren spezielle Fragestellungen bearbeite. Die nachfolgenden Vorträge des ersten Tages der Veranstaltung setzten sich mit der Entwicklung der empirischen Pädagogik im 18. Jahrhundert auseinander. Pia Schmid (Halle-Wittenberg) legte “Die Anfänge der empirischen Kinderforschung in der deutschsprachigen Pädagogik, 1768 bis 1808“ dar und bezog erste Ergebnisse aus einem aktuellen Forschungsprojekt mit ein. Sie stellte die Kontexte und Konstellationen, aus denen sich die empirische Kindheitsforschung entwickelte ebenso vor, wie die damals gebräuchlichen Beobachtungsanleitungen. Abschließend ging sie auf das Ende der Kindheitsforschung am Anfang des 19. Jahrhunderts ein. Thematisch knüpfte Jens Brachmann (Wuppertal) mit seinem Beitrag “Erfahrungsseelenkunde als entwicklungspsychologische Diagnostik – Carl Philipp Moritz und die ‚auf spezielle Erfahrungen und Beobachtungen gegründete Pädagogik’“ an. In seiner biographischen Skizze und anhand der Vorstellung des “Magazins für Erfahrungsseelenkunde als erstes fachpsychologisches Periodikum würdigte Brachmann Moritz als wichtigen Protagonisten bei der Herausbildung einer ambitionierten Psychologie im 18. Jahrhundert. Die vornehmlich auf Fakten gestützten Techniken zur Analyse der Seelentätigkeit und des moralischen Experimentes begründeten den Prozess der Verwissenschaftlichung und führten zur Herausbildung einer Fachterminologie. Als besonderen Verdienst von Moritz stellte Brachmann heraus, dass der Schulmann seine Verankerung im pädagogischen Raum nutzte, um sein psychologisches Wissen zu profilieren und zudem von der Annahme ausging, dass Seelengesundheit und Erziehungserfolg miteinander korrelieren. Andrea De Vicenti-Schwab (Zürich) führte am Beispiel der Volksschulgeschichte des Stadtstaates Zürich den Mechanismus der politischen Einflussnahme vor. In ihrem Vortrag “Vermessen und Steuern. Eine empirische Datenerhebung über die Landschulen im ausgehenden 18. Jahrhundert“ wies sie nach, wie die Methode der Datenerhebung für die Steuerung von Bildungsprozessen in der Schweiz effektiv genutzt wurde. Die im 18. Jahrhundert von der Regierung durchgeführten Schulumfragen entwickelten eine enorme Eigendynamik und belegten die Heterogenität des Raumes. Fritz Osterwalder (Bern) nahm die Entwicklungen im Nachbarland Frankreich in den Blick und stellte in diesem Kontext die “Pädagogik im Rahmen der empirischen science de l`homme in Frankreich im ausgehenden 18. Jahrhundert“ vor. Dabei betonte er ausgehend von der Geschichte des Wolfsjungen, dass im Rahmen einer erstarkenden empirischen Humanwissenschaft fortan der empirischen Erforschung von Erziehung und ihrer Wirkung eine vorrangige Bedeutung zukam, die die Herausbildung von Instituten und Gesellschaften nach sich zog. Es bildeten sich konkurrierende Strömungen heraus, die auf Beobachtung und empirische Untersuchungen gestützte, eher im Dienste der Politik stehende science morale et politique sowie die eher dem Dienste der Wohltätigkeit verpflichtete science de l`homme. Obwohl sich – bedingt durch die Kurzlebigkeit der Institute – keine Forschungskontinuität entwickelte, so Osterwalder, wurden die empirischen Disziplinen beispielsweise in Form von statistischen Erhebungen über das Bildungssystem im 19. Jahrhundert fest verankert. Der zweite Tag der Veranstaltung blieb der Entwicklung der empirischen Pädagogik im 19. und 20. Jahrhundert vorbehalten. Eckhardt Fuchs (Braunschweig) gab einen Überblick über die “Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“. Ausgehend von der Darstellung der Geschichtswissenschaft zeigte er die Entstehungslinien der empirischen Pädagogik anhand des Naturbegriffes im pädagogischen Diskurs auf. Dabei unterschied er zwei Richtungen des Naturalismus in der Erziehung, die der rationalen und der romantischen Richtung. Dass die erste Richtung die dominierende war, begründete er durch die Fokussierung auf die Bereiche Medizin, Naturforschung sowie Kinderpsychologie. Zusammenfassend stellte er dar, dass die “Herausbildung einer empirischen, auf Erziehung bezogenen Wissenschaft […] von anderen Disziplinen, nicht [von] der Pädagogik selbst aus[ging].“
Die Tagung bot den Teilnehmern einen interessanten Überblick über die vielschichtige Geschichte der empirischen Erziehungswissenschaft, was sich in spontanen Diskussionen und weiterführenden Anregungen zur Bearbeitung noch vorhandener Forschungsdesiderate widerspiegelte. Es ist vorgesehen, die Vorträge in einem Tagungsband zu veröffentlichen. |
Fussnote: | © 08.12.2008 by HBO, alle Rechte vorbehalten, all rights reserved. Dieser Text kann zu nicht-kommerziellen Zwecken kopiert werden. Bei Übernahme des Textes wird die Angabe von Autor und Ursprungsort erwartet. |
Schlagwörter: | Bildungsgeschichte; Empirische Pädagogik; Disziplin (Wissenschaft); Wissenschaftsentwicklung; Internationaler Vergleich; Deutschland; Schweiz; Frankreich; Belgien; USA; 19. Jahrhundert; 20. Jahrhundert |
Eingetragen von: | barkowski@bbf.dipf.de |
Erfassungsdatum: | 08. 12. 2008 |
Korrekturdatum: | 08. 12. 2008 |