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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Humpert, Nadine ; Verlinden, Karla
Titel: Frauen- und Geschlechterforschung in der Historischen Pädagogik
8. Arbeitstagung am 13. und 14. Juni 2008 in der Leucorea in Wittenberg
Erscheinungsjahr: 2008
Text des Beitrages:


Unter der bewährten Leitung von Prof. Dr. Pia Schmid trafen sich vom 13. bis 14. Juni in Wittenberg bereits zum achten Mal historisch arbeitende ErziehungswissenschaftlerInnen zu einer zweitägigen Arbeitstagung. In jeweils 25-minütigen Vorträgen wurden insgesamt elf Forschungsprojekte und Qualifizierungsarbeiten vorgestellt. ExpertInnen kommentierten anschließend die in den Vorträgen dargelegten Thesen, die (vorläufigen) Ergebnisse, das methodische Vorgehen sowie die Auswahl der Quellen. Dies gab konstruktive Impulse für die nachfolgenden Diskussionen.

Den Auftakt der Tagung bildete der Vortrag von Katja LIßMANN (Halle), in dem die Erziehungswissenschaftlerin ihr Promotionsvorhaben vorstellte. In ihm analysiert sie die Korrespondenz Anna Magdalenas von Wurms (1670-1734) mit August Hermann Francke und rekonstruiert hierdurch die Frömmigkeitspraxis von Frauen im Pietismus. Um die pietistische Forschung, deren Lücken Lißmann aufzeigen konnte, zu erweitern, zieht sie unter anderem zusätzlich Beispiele anderer Briefwechsel aus dem Halleschen Pietismuszirkel zum Vergleich heran. Neben der Korrespondenz der A.M. Worms’ geht Lißmann auch auf dem Briefwechsel Martha Margaretha von Schönbergs (1664-1703) zu Johann Daniel Herrnschmidt nach und versucht durch den Vergleich zu klären, inwiefern der pietistische Brief als Frömmigkeitszeugnis und als Ausdruck der ‚Selbst-Autorisierung’ verstanden wer-den kann. Durch pietistische Selbstzeugnisse gelang es den schreibenden Frauen vor allem, den Handlungsspielraum, der eine Rolle als Autorin nicht vorsah, um eine Verschriftlichung eigener Gedanken zu ergänzen. Katja Lißmanns zentrale Fragestellung bezieht sich auf religiös vermittelte Sinnkonstruktionen und Bedeutungsbezüge von Frauen im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Dadurch positioniert sie sich im Schnittfeld zwischen einer historisch-anthropologischen Frauen- und Geschlechterforschung und einer empirisch-pädagogischen Biographieforschung.

In der anschließenden Diskussion wurde wiederholt die bedeutende Stellung des Briefes als das Medium unterstrichen, durch das pietistische Frömmigkeit präsentiert und konstruiert wurde. Die Fragen nach den Quellen, der Introspektion der pietistischen Briefe und nach der Rolle der Empfänger klärte Lißmann ausführlich und kompetent.

Heidrun DIELE und Jessika PIECHOCKI (Halle) gingen in ihrem Beitrag Töchtererziehung bei August Hermann Niemeyer (1754-1828): Theoretische Grundsätze und ihre lebensweltlichen Bezüge der Frage nach, inwieweit Niemeyers theoretische Grundsätze zur Mädchenbildung und -erziehung mit seiner eigenen Biografie verflochten sind. Niemeyer habe seine Grundsätze zur Töchtererziehung in seinem Hauptwerk Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts, für Eltern, Hauslehrer und Erzieher präsentiert und ständig überarbeitet und weiterentwickelt. In diesem Kontext stelle sich die Frage, was wohl Auslöser für Niemeyers kritische Bearbeitung der Erziehungstheorie für Töchter gewesen sein mag. Angeführt wurde eine anonyme Rezension aus der ‚Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek’, in der Niemeyers Werk zwar gelobt, der geschlechtsspezifische Teil jedoch wegen der Kürze bemängelt werde. Weitere lebensweltliche Bezüge wurden vornehmlich an der Person von Niemeyers Ehefrau Wilhelmine, geborene Köpken, festgemacht. Angeführt wurde die These, dass sich Niemeyer seine Ehefrau ‚herangezüchtet’ habe, denn er lernte Wilhelmine schon als Kind kennen und nahm, angeregt durch den zukünftigen Schwiegervater Köpken, brieflich erzieherischen Einfluss auf die junge Frau. Mehr noch wurde auch noch nach der Hochzeit auf Niemeyers Ehefrau mittels eines strikt ausgearbeiteten Plans erzieherisch eingewirkt. Im anschließenden Kommentar wurde angemerkt, dass Niemeyer möglicherweise noch umfassender in den historischen Kontext eingeordnet werden müsse, um festzustellen, ob er einer anonymen Rezension einen so hohen Stellenwert beimaß, dass er sich infolgedessen in seiner Mädchenerziehungstheorie so weit beeinflussen ließ. Zudem wurde die Rolle des Schwiegervaters Köpken thematisiert und gefragt, wie stark dieser seine Tochter und auch Niemeyer dirigiert haben könnte. Bekannt sei, dass dieser Niemeyers Einfluss auf Wilhelmine angeregt habe und auch nach der Hochzeit im Alltag von Wilhelmine und August Hermann Niemeyer einen zentralen Stellenwert erhielt. Zudem habe Köpken seine Tochter in vielerlei Hinsicht gefördert, vor allem auch in Hinblick auf Bereiche, die für bürgerliche Frauen im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht selbstverständlich waren. Überlegenswert wäre, den Einfluss des Schwiegervaters auf Niemeyer und seine Erziehungstheorie für Töchter zu spezifizieren. Diskussionsbedarf bestand zudem im methodischen Vorgehen, d. h., wie sich die Biografie mit der Theorie verbinden lasse.

Wolfgang GIPPERT (Köln) zeichnete in seinem Vortrag Käthe Schirmachers Entwurf einer völkischnationalen Mädchen- und Frauenbildung nach. Er griff damit ein Forschungsdesiderat zu Frauen in radikalnationalistischen Gruppierungen zur Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik auf, das im ideologie- bzw. diskursgeschichtlichen Nachholbedarf besteht. Schirmacher integrierte in ihrem Bildungsentwurf volkstumsideologische, kulturnationale wie auch lebensreformerische Theoreme und bestimmte von dort aus die Rolle von Frauen in einer völkisch konzipierten Gesellschaftsordnung. Die Diskussion warf die Fragen auf, wie sich der Gesinnungswandel Schirmachers von einer liberalen Frauenrechtlerin zu einer der profiliertesten Aktivistinnen des nationalkonservativen Lagers biografisch erklären lässt und in welchen Kontexten sich die Agitationsformen und Handlungsmöglichkeiten politisch ‚rechts` gerichteter Frauen in der Weimarer Republik erweiterten.

Dayana LAU (Halle) stellte in ihrem Vortrag Professionalität und Soziale Arbeit. Die Grundlegung professioneller Strukturen in der Ausbildung zu Sozialer (Berufs-)Arbeit bei Alice Salomon einen Teil ihrer Diplomarbeit vor. Ihr zentrales Interesse bestand darin zu explorieren, wie professionelle Strukturen in der Sozialen Arbeit anhand der Konzeption ihrer ersten institutionalisierten Ausbildungsgänge grundlegend geworden sind. Dabei beschränkte sie sich auf die Bemühungen der bürgerlichen Frauenbewegung um die Öffnung der sozialen Arbeitsfelder für Frauen und die Etablierung eines systematisierten Ausbildungsganges innerhalb der Sozialen Frauenschulen. Erläutert wurde Alice Salomons Verständnis eines professionellen Habitus und die Art und Weise, wie sie dessen Ausbildung möglicherweise befördern wollte. In Anlehnung an Ulrich Oevermanns strukturtheoretischem Professionalitätsmo-dell wurde anschließend die Struktur professionellen Handelns erarbeitet. Im darauf folgenden Schritt wurde mit Pierre Bourdieus Habitusbegriff das Modell eines professionellen Habitus entwickelt, welches als heuristisches Modell für die Untersuchung der Quellentexte von Alice Salomon dienen sollte, die sich auf die Begriffsbestimmung von Sozialer Arbeit und auf die theoretische und systematische Grundlegung der sozialen Ausbildung beziehen. Im Anschluss daran ging es um die Erarbeitung einer Möglichkeit, Begründungen für die Art und Weise der Ausbildungsgestaltung in individuellen Deutungsstrukturen, also am Beispiel von Alice Salomon, aufzufinden. Im Plenum wurde darüber debattiert, ob das methodische Vorgehen nach Oevermann dem Gegenstand ausreichend gerecht werde. Diskutiert wurde auch, ob eine kontextfreie Interpretation in diesem Zusammenhang angebracht sei, da Salomon ihre Autobiografie in ihrer Emigration verfasste und aufgrund dessen der historische Kontext eine besondere Rolle spiele.

Bea LUNDT (Flensburg) beschrieb in ihrem Vortrag Die Anfänge der historischen Bildungsforschung in der Geschichtsdidaktik die Ergebnisse ihrer Analyse aktueller Geschichts-Schulbücher. Ihr Fazit zeigt auf, dass die Geschichtsdidaktik die Ergebnisse der Genderforschung bisher nicht zur Kenntnis genommen hat und weiterhin Mythen über Frauen in der Vergangenheit produziert und an SchülerInnen weitergibt. So werden zum Beispiel weiterhin die Themenfelder Frauenbewegung und Frauengeschichte vermischt und von den als resistent-konservativ beschriebenen – meist männlichen – Geschichtsdidaktikern nicht differenziert. Lundt fordert, endlich diese falschen Bilder zu korrigieren und die Geschichtsbücher der Lebenspraxis der SchülerInnen anzupassen. In ihrer Zusammenfassung zeigt die Historikerin Lundt am Beispiel des Streits um Annette Kuhns Engagement um historisch ‚exakte’ Frauengeschichte, der in der Entziehung ihrer Prüfungsberechtigung mündete, wie wenig wissenschaftliche arbeitende Frauen von Männern in der Geschichtsforschung wahrgenom-men werden. Ein Erklärungsansatz dazu sieht den Grund in der männlichen Vorherrschaft der Historiker und darin, dass vor allem auch das Schulfach Geschichte stets durch männliches Handeln definiert wurde und wird.
Lundt sieht das Bestreben aktiver Geschichtsdidaktikerinnen der 70er Jahre besonders seit der ‚Professionalisierung der Genderforschung’ Anfang der 90er Jahre gefährdet und plädiert für ein neu zu schaffende Kooperation von genderisierter Geschichtsdidaktik und didaktisierter Historischen Genderforschung.

Am folgenden Tag wurde in zwei parallel stattfindenden Arbeitsgruppen getagt.
Der erste Beitrag der Gruppe I stammte von Julia HAUSER (Göttingen). In ‚Herzensbildung im christlichen Sinn’: Erziehungsarbeit Kaiserswerther Diakonissen im Osmanischen Reich (1851-1918) stellte Julia Hauser das missionarische Bildungswesen unter dem Gesichts-punkt der Professionalisierung am Beispiel der Erziehungsarbeit der Kaiserswerther Diakonie im Osmanischen Reich dar. In der neueren historischen Bildungsforschung sei vermehrt die These von der Rückständigkeit konfessioneller Schulen im Bereich der Mädchenbildung relativiert worden. Auch Lehrerinnen an diesen Anstalten würden mittlerweile als Partizipantinnen an einem Prozess der Professionalisierung gesehen werden, was an ihrem gesellschaftlichen Ansehen, der Formalisierung der Ausbildung, der Entwicklung einer ‚professional consciousness’ und Autonomie vor Eingriffen von außen festgemacht werden könne. Im Rahmen derartiger Professionalisierungsbestrebungen könne auch die Entwicklung der Kaiserswerther Lehrdiakonie gesehen werden. Neben der rein institutionellen Weiterentwicklung würden auch die Ausbildung eines gemeinsamen Berufsethos, die Schaffung einer Gemeinschaft sowie die Herausgabe eigener Lehrwerke dafür sprechen, dass die Entwicklung der Lehrdiakonie unter dem Aspekt der Professionalisierung gefasst werden können. In diesem Kontext wurde erörtert, inwiefern die Orientstationen als Experimentierfeld der Lehrdiakonie in Deutschland dienten, und ob diese auch mit dem Professionalisierungsbegriff beschrieben werden können. Im Orient sei zwar die erste von Diakonissen betriebene Höhere Töchterschule eröffnet worden, allerdings könne festgestellt werden, dass lediglich 60 der dort tätigen Diakonissen tatsächlich Lehrdiakonissen gewesen seien und von diesen nur ein geringer Teil über eine Ausbildung für Höhere Töchterschulen verfügte. Der nicht übermäßig hohe Anteil des eigentlichen Lehrpersonals, die hohe Zahl von Schwestern ohne abgeschlossene Ausbildung und die hohe Mobilität nach oben, was bedeute, dass man auch als Elementarlehrerin am Pensionat lehren konnte, ließe Zweifel daran aufkommen, ob die Höheren Töchterschulen im Orient als Motor der Professionalisierung der Höheren Töchterschulen in Deutschland gesehen werden können. Das Fazit der Referentin war, dass die Erziehungstätigkeit der Kaiserswerther Diakonissen im Osmanischen Reich nur aus einer stark verkürzten und eurozentrischen Perspektive unter dem Aspekt der Professionalisierung betrachtet werden könne. Von einem mikrohistorisch orientierten und dialogischen Standpunkt aus jedoch sei eine solche These unhaltbar. Diskutiert wurde anschließend über die unzureichende Aufarbeitung der Geschichte der Lehrdiakonie sowie darüber, ob die Arbeit der entsandten Diakonissen in den Orient überhaupt in der Kaiserswerther Diakonie rezipiert wurde.

Sarah BANACH (Siegen) stellte in ihrem Beitrag ‚Weibliche Einfalt und männliche Arbeitsamkeit’. Evangelische Männlichkeitserziehung am Beispiel der Ricklinger Fürsorgeanstalt Ergebnisse ihrer mittlerweile abgeschlossenen Dissertation vor, in der sie den Ricklinger Fürsorgeprozess von 1930, dessen Vorgeschichte sowie seine Wirkungsgeschichte rekonstruierte. In diesem Prozess seien erstmals drei Erzieher, die in der vom Landesverein für Innere Mission in Schleswig-Holstein getragenen Fürsorgeerziehungsanstalt für männliche Zöglinge in Rickling tätig waren, wegen gefährlicher Körperverletzung für schuldig befunden. Der Landesverein für Innere Mission habe sich während des gesamten Fürsorgeprozesses als Opfer der Jugendhilfepolitik der Weimarer Republik empfunden, was den Konflikt zwischen reformpädagogischen und älteren kirchlichen Erziehungsvorstellungen widerspiegele. Im Rahmen des Prozesses sei vor allem auch die Erziehungspraxis in der Ricklinger Fürsorgeerziehungsanstalt thematisiert und massiv kritisiert wurden. Der Erziehungspraxis habe der Glaube zugrunde gelegen, dass jeder Mensch mit christlichen Anlagen zur Welt komme und diese nur in einer Familie entsprechend ausgebildet werden könnten. Verwahrlosung und Armut seien die Folge einer nichtchristlichen Lebensweise. Die Referentin interessierte sich besonders für das Männlichkeitsbild in der Ricklinger Fürsorgeanstalt, welches ihrer Meinung zufolge die Erziehung zur Arbeitsamkeit beinhaltete, was sich deutlich im Alltag der Ricklinger Zöglinge manifestiert habe. Der Alltag sei stark reglementiert gewesen und bestand vornehmlich aus körperlicher Arbeit, Disziplin, Ordnung und Andachten. Aufmerksam gemacht wurde im Kommentar auf die große Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, die sich insbesondere an den Erziehern zeigte, da diese über keine pädagogische Erfahrung verfügten und Probleme hatten, das eigentlich theoretische Ziel der christlichen Missionierung in die Praxis umzusetzen. Offen blieb vor allem auch, ob die Zöglinge der Ricklinger Fürsorgeanstalt letztendlich ‚sozialisiert’ aus der Anstalt entlassen wurden. Dokumente, aus denen Erfolge und Misserfolge in der Erziehungspraxis hervorgehen, fehlen völlig. Auszumachen sei nur, dass die Zöglinge eine Ausbildung absolvierten, die ihnen den Start in das Leben erleichtern sollte. Thematisiert wurde auch die Frage, ob Belege auszumachen seien, dass sich die Erziehung zur Arbeitsamkeit in der theoretischen Konzeption niederschlug.

Dania DITTGEN (Berlin) stellte in dem ersten Vortrag der II. Gruppe Westberliner Lehrerinnen zwischen Kontinuität und Neuanfang, die Berufsumstände an wissenschaftlichen Oberschulen in den 1950er Jahren dar. Durch Prüfung von 5000 Datensätzen aus verschiedenen Verzeichnissen forschte sie in ihrer bereits abgeschlossenen Dissertation unter anderem nach Karriereverläufen von Lehrerinnen und insbesondere Studienrätinnen. Hierbei legte sie den Fokus ihrer Darstellung auf die Handlungsspielräumen der Lehrerinnen, deren Entscheidungsfindungen in Karrierefragen und inwiefern sie an den Veränderungen und Reformen des Lehrerinnenberufs beteiligt waren. Dittgen kam in ihrer Dissertation zu dem Schluss, den sie durch von ihr geführten (qualitativen) Interviews bekräftigt sieht, dass es einen enorm hohen Frauenanteil an der West-Berliner Lehrerschaft in den 1950er Jahren gab. Die Lehrerinnen engagierten und initiierten die Bildung neuer Verhältnisse des Lehrerinnenberufsbildes.

Die anschließende Diskussion brachte neue Fragen bezüglich der geführten Interviews und den daraus erfassten Kategorien. Außerdem wurde die Frage nach den männlichen Lehrern gestellt und wie deren geringe Anzahl in der Gesamtheit zustande kommt und inwiefern sich die Verluste des Krieges in den Zahlen bemerkbar machen. Zusätzlich würde ein Vergleich von Dittgens Ergebnissen aus Westberlin mit Daten aus diesem Zeitraum anderer Großstädte zeigen, inwiefern die von Dittgen zusammengestellte Bilanz einzig und spezifisch auf Westberlin zutrifft oder sich dieses Phänomen übertragen lässt.

Rosemarie GODEL-GASSNER (Ludwigsburg) beschrieb in ihrem Beitrag Von der Gehilfin zur gleichberechtigten Kollegin den Professionalisierungsprozess des Lehrerinnenberufs in den beiden deutschen Staaten Baden und Württemberg. Ihre Recherche setzt zu dem Zeitpunkt ein, ab dem Lehrerinnen nicht mehr allein im privaten bzw. kirchlichen Schulwesen tätig waren, sondern erstmals auch im öffentlichen Schulwesen Lehrtätigkeiten übernehmen konnten. Durch eine Unterscheidung des Professionalisierungsprozesses in vier Phasen (Lehrerinnenprüfung, Gründung Lehrerinnenseminare, Differenzierung verschiedener Lehrerinnentypen, Angleichung an männliche Ausbildungskonzepte und Aufgabe spezifischer weiblicher Ausbildungsgänge) konnte Godel-Gassner die gesellschaftlichen Steuerungsinstrumente darstellen, die von 1880 bis in die Zeit der Weimarer Republik versuchten, Frauen von dem Lehrerinnenstudium abzuhalten. Dass die Lehrerinnen, trotz der Steine, die ihnen in den Weg gelegt wurden (wie z.B. das Lehrerinnen-Zölibat) aktiv Agierende im Prozess der Professionalisierung waren, ist das vorläufige Fazit der Forschungsarbeit. In der anschließenden Diskussion wurde, neben der Debatte um die Anwendung der so genannten Kuhlmann-Methode und des educational governance, die Frage nach der Akteurinnen-Konstellation der bearbeiten Zeit aufgeworfen und eine Differenzierung des Begriffs ‚Staat’ herausgearbeitet. Als Ergänzung des methodischen Fundaments der Arbeit wurde die Auseinandersetzung mit Parsons Theorie der Professionalisierung durch Organisationsstrukturen vorgeschlagen.

Der nächste Vortrag, wieder im gemeinsamen Plenum, stammte von Karla VERLINDEN (Köln). Sie hat sich in ihrer Dissertation Sexualität im Diskurs der 68er-Bewegung zum Ziel gesetzt, den aktuellen Diskurs über die 68er-Bewegung aufzuarbeiten und in Hinblick auf eines der Hauptthemen der Revolte – die Befreiung der Sexualität – neu zu bearbeiten. Die Neubetrachtungen des Sexuellen, die die so genannten ‚68er’ initiierten, beeinflusst das derzeitige Konstrukt von Sexualität bis heute und sollte daher mehr in den Blickwinkel der zu einseitig stattfinden wissenschaftlichen Forschung über die 68er-Bewegung einbezogen werden, so eine der Thesen von Karla Verlinden. In ihrem Projekt stellt sie die Entstehung, Umsetzung und theoretische – meist psychoanalytische – Beweisführung der ‚neuen, befreienden’ Sexualität zusammen. Bestätigt durch eine (einseitige) Theorie-Interpretation der Schriften von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse, sah die junge Generation die Sexualität des Individuums durch den kapitalistischen Staat unterdrückt. Dieser wolle durch die bezwungenen Triebe ‚gefügige’ Bürger schaffen, so Argumentation der Nachkriegsgeneration. Der in dem Umfeld der AktivistInnen als doppelmoralisch erlebte Umgang mit Sexualität bestärkte zusätzlich ihre Annahme, Sexualität werde verheimlicht und unterdrückt. Sexualität sollte dem entgegengesetzt jedoch selbstbestimmt und befreit ausagiert werden dürfen. Vor allem auch durch die Schaffung einer ‚nichtrepressiven Sexualerziehung’ – deren Theorie, Chancen und Grenzen Karla Verlinden in ihrer Arbeit diskutiert – sollte besonders den Kindern der ‚Revolte’ ermöglicht werden, eigenen sexuellen Impulsen ungehemmt nachzugehen.
Durch narrative Interviews und ihrer tiefenhermeneutischen Interpretation versucht Verlinden die Thesen exemplarisch klären, ob und wie sich der Freiheitsgedanke um ‚freie Liebe’ und nichtrepressiver Sexualerziehung in einzelnen Lebenskonzepten umsetzen ließ. Dadurch gewährt sie Einblicke in subjektive Einstellungen zu der Sexualitätsdebatte von ‚Zeitzeugen’ und ‚Zeitzeuginnen’ und erweitert dadurch die aktuelle Debatte der Medien, der sie unterstellt, sie würde ‚wiederholen, was etliche mal gesagt wurde’ von immer gleichen ‚Ehemaligen’ die die Plattform meist lediglich nutzen würden, um ‚ihren Heldenstatus dieser Zeit aufrechtzuerhalten’.
Individuelle 68er-Lebensgeschichte, gerade von Frauen, und ihre Aufarbeitung ist rar gesät und könnte dazu beitragen, dass einige typische Mythen dieses vieldiskutierten Abschnitts deutscher Geschichte demontiert werden

Den Abschluss der Tagung bildete der Beitrag Das Private ist politisch. Der Zusammenhang von Kinderladen- und Frauenbewegung Revisited von Meike Sophia BAADER (Hildesheim). Zentraler Gegenstand war das Zusammenspiel von Frauen- und Kinderladenbewegung im Kontext der Protestbewegung von 1968. Die Seite des privaten Lebens, die Kultur des Alltags und seine Politisierung, das Geschlechter- und Generationenverhältnis und damit auch Erziehungsfragen würden in der Historiographie der Frauenbewegung vernachlässigt werden. Anhand einer Re-Lektüre der Rede von Helke Sander, Mitglied im ‚Aktionsrat zur Befreiung der Frauen’, auf der Delegiertenkonferenz des SDS im September 1968 in Frankfurt wurde dieses Defizit verdeutlicht. Es ginge in der Rede nicht primär um eine Politisierung des privaten Lebens, sondern um die Einsicht, dass jene Schwierigkeiten, Strukturen und Auseinandersetzungen, die sich in der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern niederschlugen, nicht nur reine Privatangelegenheit seien, sondern auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen verwiesen. Die Unterdrückung im Privatleben solle nicht als private begriffen werden, sondern als politisch ökonomisch bedingte. Mit dieser Sicht werde nicht nur eine andere Definition des Politischen beansprucht, sondern auch eine andere Interpretation dessen vorgenommen, was denn die Revolution ausmache. Diese solle in der Perspektive der Frauen an der Kultur des Alltags und an dem eigenen Anspruch auf Glück ansetzen, in der Gegenwart Gegengesellschaften aufbauen und damit nicht auf die Zukunft verschoben werden. Der an der Alltagskultur ansetzende Impuls ging offensichtlich stark von den beteiligten Frauen und ihrer Perspektive als Mütter auf das private Leben aus, was jedoch nicht debattiert werde. Die meisten unter der Parole ‚Das Private ist politisch’ aufgegriffenen Thematiken seien nicht erledigt und würden nach wie vor öffentlich diskutiert werden. Der Druck, neue Lebensformen jenseits des traditionellen Familienmodells auszuprobieren, gehe immer noch von Frauen aus, da sie sich davon einen Zugewinn an Freiheiten und Spielräumen versprächen. Diskutiert wurde anschließend über das nur marginale Vorkommen der Aspekte des privaten Lebens und der pädagogischen Dimensionen der deutschen Protestbewegung in der gegenwärtig wachsenden Protestbewegungsliteratur. Als Erklärung dafür wurde angeführt, dass die von Frauen begründete Kinderladenbewegung von männlich dominierten, sozialistischen Gruppen übernommen wurde, die die Gewaltfrage in den Fokus des Diskurses rückten und die tragende Rolle, die die Frauen bei der Gründung der Kinderladenbewegung gespielt hätten, aus der Geschichtsschreibung der Kinderladenbewegung entfernten. Abschließend wurde wiederholt angemerkt, dass die aktuellen Schriften lediglich Mythen reproduzieren, was daran liegen könne, dass zu wenig wissenschaftliche Forschung auf diesem Feld betrieben werde, auch und gerade unter genderhistorischen Vorzeichen.


Schlagwörter: Frauenforschung; Geschichtsforschung; Pädagogik; Geschichtsschreibung
Eingetragen von: heinicke@bbf.dipf.de
Erfassungsdatum: 18. 08. 2008
Korrekturdatum: 18. 08. 2008