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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Grunder, Hans-Ulrich
Rezensiertes Werk: Frotscher, Jutta: Volksschullehrerausbildung in Dresden : 1923 - 1931
Erscheinungsjahr: 1999
Text der Rezension:    

 

Frotscher, Jutta: Volksschullehrerausbildung in Dresden 1923 - 1931. 
Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1997 
(Beiträge zur Historischen Bildungsforschung, 22) 
Br., XI, 354 S., ISBN 3-412-06697-4, DM 88,-

Rezensiert fuer HBO von 
Prof. Dr. Hans-Ulrich Grunder (hans-ulrich.grunder@uni-tuebingen.de) 
Universität Tübingen, Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Schulpädagogik 
 

Laut der Weimarer Reichsverfassung (Art. 143, Abs. 2) war die Lehrerbildung `nach den Grundsätzen, die für die Höhere Bildung allgemein gelten`, in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg reichseinheitlich zu regeln. Innerhalb dieses schliesslich unvollendeten Verlaufs beanspruchte der Freistaat Sachsen für jene Länder, die die Ausbildung der angehenden Volksschullehrkräfte an bestehenden Hochschulen, an Universitäten oder Technischen Hochschulen einrichten wollten, eine Vorreiter-Rolle. Dort war die Volksschullehrerausbildung bereits 1923 an die Technische Hochschule Dresden verlagert worden. Ein Jahr später setzte sie auch an den Universitäten Leipzig und Jena (Thüringen) ein. Für die sächsische Initiative wurde das Wirken Richard Seyferts ausschlaggebend. Er hat die Ausbildung der Volksschullehrer sowohl als sächsischer Kultusminister als auch als nachmaliger Direktor des Pädagogischen Instituts an der TH Dresden nachhaltig beeinflusst.

Dem Thema, wie die `neue Lehrerbildung` in Dresden eingerichtet worden ist, widmet sich Jutta Frotschers umfangreiche Studie. In der umfassenden, ja detailversessenen Arbeit wird der Versuch der Akademisierung der Volksschulehrerausbildung minutiös nachgezeichnet. Die Autorin betont einleitend, es sei damals um den institutionellen Ort der akademischen Volksschullehrerausbildung gegangen. Insofern liegt es nahe, dass die gesellschaftlichen Gegebenheiten, die standespolitischen und pädagogischen Intentionen, die bildungspolitischen Refrombestrebungen, die strukturellen und curricularen Ansätze sowie die Aspekte der Leistungsfähigkeit einzelner Ausbildungselemente und die daran beteiligten Personen im Zentrum des Interesses stehen (S. 2). Unter dieser Perspektive erscheint die Arbeit des Pädagogischen Instituts, verglichen mit jener des seit hundertfünfzig Jahren existierenden staatlichen Lehrerseminars, als bildungspolitischer Fortschritt für die Volksschullehrerausbildung. Es ist damals gelungen, in den Ausbildungsgang in curricularer, studienmethodischer, wissenschaftstheoretischer und didaktisch-schulpädagogischer Sicht Neues einzubringen. Die Protagonisten wollten den standesemanzipatorischen und Qualifikationsbedürfnissen der Volksschullehrerschaft umfassend gerecht werden, nämlich über die Beeinflussung des Persönlichkeitsprofils der Absolventen.

Ein umfangreicher Fragenkatalog (S. 3) leitet die Arbeit. Die Autorin fragt danach,
- wodurch das berufliche Selbstverständnis der in Dresden wirkenden Lehrerbildner und der dort auszubildenden Volksschullehrerstudenten geprägt worden sei, 
- wie sich die am Dresdner Pädagogischen Institut dominierenden Muster der Prozesse der Erziehung und des Erkenntnisgewinns charakterisieren lassen, 
- welches Gewicht die erziehungs- und fachwissenschaftlichen sowie schulpraktischen Studienelemente in der Volksschullehrerausbildung erfahren haben, 
- inwieweit die Auszubildenden schulpraktisch befähigt worden sind und 
- ob dem damals verwirklichten Ausbildungsgang für Volksschullehrer akademische Züge zugesprochen werden können.

Die Legitimation für eine solche Studie liegt im Umstand, dass mit dem 1923 in Dresden unter Richard Seyfert aufgebauten Pädagogischen Institut die Volksschullehrerausbildung erstmals universitär verortet worden ist. Der andere Grund liegt darin, dass das Dresdner Modell im Unterschied zu anderen (Hamburg, Jena, Preussen) bislang kaum oder dann lediglich im Kontext der sächsischen Schulreform erwähnt worden ist. 

Die Skizze Frotschers ist problemorientiert angelegt. Wie eingangs angekündigt, findet sich die Ausbildungswirklichkeit ebenso dargestellt wie die vorangehenden Planungsprozesse, die sozialen Aktivitäten von Absolventen und Lehrkörper, die Kontroversen um die neue Institution sowie das Engagement von Einzelpersönlichkeiten. Insoweit stellt diese Studie ein schönes Beispiel dar, wie die Einführung einer paradigmatisch neuen Institution mittels dichter Beschreibung verfolgt werden kann. Frotscher nutzt dabei zahlreiche bislang nicht ausgewertete Archivmaterialien. So kann das Pädagogische Institut Dresden als Resultat eines auf die qualitative Aufwertung des Ausbildungsgangs und des Lehrerdaseins gerichteten progressiven Ideengutes definiert werden. Demgegenüber ist die neue Ausbildung an der TH Dresden aus parteipolitischen Kompromissen vor dem Hintergrund des konkreten gesellschaftlichen Umfeldes im Sachsen der Weimarer Zeit interpretierbar. 

Die Autorin bezahlt für dieses ambitiöse Programm, das biographiegeschichtlich, theoriegeschichtlich und sozialgeschichtlich ausgerichtet ist, einen erheblichen Preis: Der gesamte, weit gespannte Vorgang wird so differenziert berichtet, dass 350 eng beschriebene Seiten gerade ausreichen, um verständlich zu machen, wie die seminaristische Lehrerbildung durch eine einphasige akademische abgelöst worden ist. Die Detailversessenheit der Verfasserin ist zwar im Sinne einer umfassenden Aufarbeitung verständlich, stört jedoch den Lesefluss, was auch eine konzise Zusammenfassung am Schluss des Bandes nicht wettmachen kann.

Worum geht es? Für den Streit um den Ort der Volksschullehrerausbildung in Sachsen, der sich fast ein Jahrhundert lang hingezogen hat, ist die Frage nach wissenschaftlichem Anspruch und Gestaltung des Verhältnisses fachlicher, philosophischer, pädagogisch-psychologischer und besonders schulpraktischer Ausbildungselemente ausschlaggebend. Damit rückt die Kontroverse zwischen dem zu reformierenden Lehrerseminar als verantwortlicher Institution für die Volksschullehrerausbildung und einer profilierten Universität ins Zentrum.

Die Volksschullehrerausbildung steht in der Weimarer Republik in Dresden im Widerstreit zwischen Seminar und Universität. Der 1787 mit acht Seminaristen in Dresden-Friedrichstadt eingeleitet `Seminar-Versuch` hatte in der Geschichte der sächsischen Volksschullehrerbildung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Massstäbe gesetzt. Zwar rief die Frage nach `Lehrerseminar oder Universität` Befürworter und Gegner hervor. Letztlich stand jedoch die Universität nur gerade als Angebot für die Lehrerfortbildung zur Debatte. Inzwischen hatten die Volksschullehrer den engen Konnex zwischen Leistungsfähigkeit der Volksschule und der existentiellen und ausbildungsmässigen Besserstellung der Lehrkräfte erkannt. Allerdings brachte sie diese Einsicht ihrem Wunsch nach einem Universitätsstudium kaum näher. Immerhin waren die Repräsentanten der Universität überzeugt worden, eine universitäre Volksschullehrerausbildung sei unabdingbar. Seyfert, selbst ehemaliger Volksschullehrer, hatte bereits 1905 verlangt, die Pädagogik müsse fakultätsfähig werden. Indem er ein Oberseminar einrichtete und die Sprangersche Idee einer `Bildnerhochschule` skeptisch zurückwies, wurde Seyfert, inzwischen Direktor des Zschopauer Lehrerseminars, zum Exponenten der akademischen Volksschullehrerbildung und zum Kritiker des seines Erachtens personell, erziehungswissenschaftlich und methodisch ins Abseits geratenen Lehrerseminars. Als die verfassunggebende Nationalversammlung in Weimar die entsprechenden Artikel zu diskutieren hatte, hatte sich der Lehrerverein in Sachsen bereits als Hauptträger einer Lehrerbildungsreform in Richtung Universitätsvariante profiliert. Nachdem er seine Tätigkeit als sächsischer Kultusminister im Oktober 1919 aufgenommen hatte, erklärte Seyfert die universitäre Volksschullehrerausbildung zum Ziel seiner Bemühungen. Das als nicht reformierbares Seminar eingestufte traditionelle Lehrerbildungsinstitut schien nicht mehr tragbar. Nachdem das Reich auf eine einheitliche Lösung der Lehrerbildungsfrage endgültig verzichtet hatte, nahm Sachsen unmissverständlich Kurs auf eine universitäre Ausbildung angehender Volksschullehrkräfte. 

Schliesslich wird bis 1923 um das sächsische Lehrerbildungsgesetz taktiert. Nach seiner Wahlniederlage wird Seyfert von seinem Nachfolger damit beauftragt, den Aufbau des Pädagogischen Instituts Dresden zu planen. Dabei sollten für die Ausbildung zum angehenden Volksschullehrer, das Reifezeugnis vorausgesetzt, beide Geschlechter gleichermassen zugelassen und der Studiengang akademisch akzentuiert werden. 

Das unter Seyferts Leitung stehende Pädagogische Institut wird am 2. Mai 1923 eröffnet. Nun stehen Fragen des Theorie-Praxis-Verständnisses und der Integration in die Dresdner Hochschule zur Diskussion an. Daneben gilt es, den Ausbildungsgang des Pädagogischen Instituts in studienorganisatorischer, materieller und personeller Hinsicht und in seinem Bezug zur Hochschule zu konzipieren und zu realisieren. Fortan befindet sich die Dresdner Volksschullehrerbildung zwischen traditionellem Hochschul- und berufspraktisch orientiertem Institutsbetrieb. Doch mittels der Institutsschule zielt Seyfert auf eine spezifische Lösung des Theorie-Praxis-Verhältnisses in der Volksschullehrerausbildung. Sie wurde als `Lernwerkstatt des Pädagogischen Instituts` bezeichnet. Die dort Lehrenden sollten sowohl als Hochschullehrer wie auch als Volksschullehrer kompetent sein. Zudem galt es, eine schulbezogene Forschungstätigkeit unter Einbezug der Studierenden aufzubauen. Allerdings fehlten den institutstypischen Lehrangeboten, wie Frotscher hinreichen belegen kann, wesentliche Merkmale eines wissenschaftlichen Lehr- und Forschungsbetriebs. Andererseits eröffnete der Ausbildungsgang am Pädagogischen Institut den künftigen Lehrkräften bei relativ kurzer Studiendauer die Chance, bereits im Alter von zweiundzwanzig Jahren ein gesichertes Einkommen zu erreichen. Mit der Akademisierung seines Bildungsgangs gewann der Beruf der Volksschullehrkraft noch an Anziehungskraft. 

Frotscher gelingt es sehr illustrativ, den Erfolgsdruck nachzuzeichnen, unter dem sich das Pädagogische Institut befunden hat, als es darum ging, durch innere Geschlossenheit seine Existenzberechtigung zu legitimieren. Indessen belegt der Aufbau der Studien (Studien- und Stundenplan), dass sich das Pädagogische Institut von der alten seminaristischen Art nicht sehr weit entfernt hatte: die Studierenden waren zeitlich völlig überlastet. Auch das postulierte Bild des urteilsfähigen, verantwortungsbewussten und emanzipierten Lehrers am Pädagogischen Institut war nur schwer umsetzbar. Im übrigen erwies sich die Möglichkeit, an der Technischen Hochschule zusätzlich eine selbstgewählte Fachwissenschaft zu studieren, als doppelbödig: Zum einen war ja der Zugang zur Universität gegeben. Andererseits wurde genau dadurch die Belastung mit Vorlesungen und Seminaren erhöht. Weil er die Persönlichkeitsbildung der Lehramtsanwärter betont hatte, war Seyfert von den Hochschullehrern der Technischen Hochschule kritisiert worden. Insgesamt nahmen trotzdem zwei Drittel aller Volksschullehrer-Studierenden die Bildungsangebote der Technischen Hochschule für das Wahlfachstudium wahr. Frotscher kommentiert kritisch: Seyferts Verständnis von Erziehungswissenschaft schloss ein beziehungsloses Nebeneinander von Theorie und Praxis ebenso aus wie die simple Harmonisierung von Denken und Tun. Immerhin sollte das erziehungswissenschaftliche Studium der Lehramtsanwärter philosophische, historische, psychologische, anthropologische und soziologische Aspekte umfassen, um die angehenden Lehrkräft über die `Zunftenge` blicken zu lassen. Die Pädagogik wurde im Pädagogischen Institut unter Einbezug der Erforschung `praktisch-pädagogischen Tuns` als `pragmatisch-theoretische Wissenschaft` betrieben. Im pragmatischen Bildungsverfahren, wie er es nannte, sah Seyfert ein Bindeglied zwischen Theorie und Praxis. Mit diesem pragmatischen Bildungsverfahren sollte sein Grundsatz des Schaffenden Lernens auf Hochschulebene verwirklicht werden. Der künftige Volksschullehrer war Seyfert zufolge in erster Linie dazu berufen, in seinem Berufsalltag eine volkstümliche Bildung zu verwirklichen. Dabei ging es auch um den Erwerb einer wissenschaftlichen Gesamthaltung. Damit schien die Idee der volkstümlichen Bildung zur inhaltlichen Leitlinie der Bildungslehre geworden. Seyfert regte seine Studenten an, sich in die Kulturwelt, das Denken, Fühlen und Verstehen des `volkstümlichen Menschen` zu versetzen. Zum eigentlichen Nukleus des Lehrgangs der Volksschullehrer am Pädagogischen Institut wurde aber die Unterrichtspraxis der Institutslehrer. Das intensive Erleben und Ausdiskutieren realer Berufsanforderungen musste im Studierenden den Drang hervorrufen, sich selbst im Unterricht zu erproben. Damit war die Tendenz zum Vorbildlichen, zur Musterschule, an der Institutsschule unvermeidbar. Über das Sammeln von pädagogischen Problemstellungen aus der Realität dieser Schulerziehung und über das Aufgreifen zufälliger Erziehungssituationen an der Institutsschule sollte Seyfert zufolge die Basis für die eigene Forschungsarbeit gelegt werden.

In ihren abschliessenden Bemerkungen thematisiert Jutta Frotscher die Aporien des zuvor dargestellten Theorie-Praxis-Verhältnisses. Sie fasst das professionelle Selbstverständnis der Insitutslehrer ebenso zusammen wie die Charakteristik der Absolventen und diskutiert dann die Einrichtung und die Arbeit des Pädagogischen Instituts vor dem bildungspolitischen Hintergrund und in Bezug auf ungelöste Probleme. Unter dieser Perspektive wird klar, dass der Versuch der Neugestaltung der Dresdner Volksschullehrerbildung einige strukturell herausragende Charakteristika erhalten hat, welche in der heutigen Debatte um die Lehrerbildung weiterhin durchwegs relevant, aber nach wie vor unbefriedigend gelöst sind: ein als eng definiertes Verhältnis von Theorie und Praxis, weitgehende Einphasigkeit oder hohe Anteile erziehungswissenschaftlichen, schulpädagogischen und `berufswissenschaftlichen` Wissens. Andererseits wird ebenso klar, dass der Dresdner Versuch aus Gründen, die in seiner Anlage gelegen haben, in einer gewissen Provinzialität stecken geblieben ist, was verhindert hat, dass er zum Modell für andere Lehrerausbildungskonzepte geworden ist.

Erfassungsdatum: 08. 01. 1999
Korrekturdatum: 02. 04. 2004