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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Käbisch, David
Titel: BildungsRäume im langen 19. Jahrhundert. Wahrnehmungs- und Transferprozesse in der deutschen Staatenwelt
Erscheinungsjahr: 05/2008
zusätzl. Angaben zum Autor:
Theologische Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena

E-Mail:davidkaebisch@web.de
Text des Beitrages:

Die historische Bildungsforschung war bislang überwiegend preußenzentriert und hat anderen deutschen Staaten wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das seit einigen Jahren wachsende Interesse an Regional- bzw. Territorialstudien war daher ein Anlass für die Veranstalter, unter dem Tagungsthema „BildungsRäume“ einen differenzierenden Blick auf die deutschen Bildungslandschaften im 19. Jahrhundert zu werfen. Die von CHRISTIAN RITZI (Berlin), ECKHARDT FUCHS (Braunschweig) und SYLVIA KESPER-BIERMANN (Bayreuth) geleitete Tagung verfolgte insbesondere das Ziel, die Akteure und die Kommunikationskanäle zu beschreiben, die den Transfer zwischen Bildungsräumen auf nationaler und regionaler Ebene bedingt haben.

MANFRED HEINEMANN (Hannover) wies in seinem Eröffnungsreferat darauf hin, dass es nicht nur unsachgemäß sei, Preußen als Modell für die Geschichte des Schulwesens in ganz Deutschland zu betrachten: Auch die Annahme einer einheitlichen Bildungspolitik und Bildungsgeschichte in den einzelnen preußischen Provinzen und Regionen führe in die Irre. Am Beispiel der Reichsschulkommission und der Rektorenkonferenzen konnte er zeigen, wie lokale Schultraditionen eine hohe Beharrungskraft gegenüber staatlichen Einflussversuchen an den Tag legten: Einheitlichkeit sei zwar stets ein Traum der Schulverwaltungen gewesen, die tatsächliche Entwicklung basiere jedoch in erster Linie auf dem Engagement der lokalen Akteure. SYLVIA KESPER-BIERMANN (Bayreuth) konnte, diese Forschungsperspektive aufgreifend, am Beispiel der im 19. Jahrhundert sehr beliebten pädagogischen Reisen einen wichtigen Kommunikationskanal beschreiben und dessen Bedeutung für die Bildungsverwaltung aufzeigen. Sie unterschied dafür drei Funktionen pädagogischer Reisen: Sie dienten der individuellen Bildung, der überregionalen Vernetzung und dem pädagogischen Wissenstransfer.

Die Lehrerbildung stand im Mittelpunkt der beiden folgenden Beiträge, die auf regionale und lokale Besonderheiten hinwiesen. So rekonstruierte ROSEMARIE GODEL-GAßNER (Ludwigsburg) für die Professionalisierung des Lehrerinnenberufs in Baden und Württemberg vier Phasen: die Einführung der Lehrerinnenprüfung (Baden 1863, Württemberg 1861), die Gründung von Lehrerinnenseminaren (Baden 1873, Württemberg 1874), die Differenzierung in verschiedene Lehrerinnentypen und schließlich die Angleichung an männliche Ausbildungskonzepte. Staatliche Steuerungsinstrumente erwiesen sich dabei als wenig einflussreich, da diese neben den Lehrerinnenvereinen, den Kirchen und Kommunen nur einen Faktor in einem äußerst komplexen Professionalisierungsprozess darstellten. Ein Modell, das die Interdependenz der unterschiedlichen Akteure differenziert abbildet, bleibt daher nicht nur für die beiden südwestdeutschen Staaten ein Forschungsdesiderat. Während in diesem Beitrag die Volksschullehrerinnenbildung im Mittelpunkt stand, zeigten JOHANNES WISCHMEYER (Mainz) und DAVID KÄBISCH (Jena), wie sich mit dem katechetischen Universitätsseminar ein im 18. Jahrhundert entstandenes Institutionalisierungsmodell akademischer Religionslehrerbildung im 19. Jahrhundert deutschlandweit durchsetzen konnte und zum Vorbild der meist später gegründeten pädagogischen Seminare wurde. Am Beispiel der Universitäten in Jena und Leipzig unterschieden sie dabei vier typische Phasen: Die Zeit der pädagogischen und katechetischen Privatgesellschaften, die Gründung katechetischer Seminare an den theologischen Fakultäten (Jena 1817, Leipzig 1825), die Gründung pädagogischer Seminare an den philosophischen Fakultäten (Jena 1843, Leipzig 1861) und schließlich die Akademisierung der Volksschullehrerbildung nach 1918. Die konkrete Ausgestaltung dieses Organisationsmodells akademischer Lehrerbildung blieb jedoch stets den theologischen und pädagogischen Vorlieben der lokalen Akteure überlassen.

In der dritten Rubrik stand das Schulwesen im Mittelpunkt. BERND ZYMEK (Münster) sprach in diesem Zusammenhang über die Beharrungskraft regionaler Vielfalt im deutschen Schulsystem, die u. a. daraus resultiere, dass Schulen Institutionen seien, auf deren Praxis schuladministrative Anweisungen kaum einen Einfluss ausübten. Systematisierungsversuche staatlicher Stellen blieben nicht selten reine Ideologie, da ihre Realisierung an den lokalen Gegebenheiten scheiterte oder diese von den maßgeblichen Akteuren ignoriert wurden. Die tatsächliche Entwicklung wurde weniger „von oben“ gesteuert, sondern resultierte aus privaten und lokalen Initiativen, die sich stärker der regionalen Struktur und Funktionsvielfalt von Schulen verpflichtet fühlten. Ein anschauliches Beispiel dazu bot der Beitrag von ANDREAS HOFFMANN-OCON (Aarau), der mit dem konservativen preußischen Kultusminister Heinrich von Mühler und seinem eher liberal orientierten Nachfolger Adalbert Falk zwei Akteure preußischer Schulpolitik vorstellte. Beide verfolgten das Ziel, das höhere Schulwesen des 1866 von Preußen annektierten Königreichs Hannover in das preußische einzugliedern. Dabei konnte Hoffmann-Ocon nicht nur die unterschiedlichen bildungspolitischen Strategien rekonstruieren, sondern auch die Frage beantworten, welche bildungspolitischen Akteure zu den Gewinnern des Regimewechsels gehörten. HANS-MARTIN MODEROW (Jena) thematisierte demgegenüber in seinem Beitrag zahlreiche Besonderheiten des Volksschulwesens im Königreich Sachsen: hier gab es keine territorialen oder konfessionellen Integrationsprobleme wie in Preußen, denn der einheitliche Territorialstaat war seit der Reformation von vergleichsweise hoher Urbanität geprägt, und die fast flächendeckende Mitgliedschaft in der Evangelischen Landeskirche begann erst nach 1918 langsam abzuschmelzen. Im Vergleich mit Preußen machte Moderow deutlich, dass sich zu benachbarten Zeitpunkten ähnliche schulpolitische Fragen stellten, die Antworten jedoch keine Abhängigkeit voneinander hatten und viele preußische Probleme in Sachsen bereits gelöst waren, wie er an den Stiehlschen Regulativen (1854) und der Sächsischen Seminarordnung (1857/59) aufzeigen konnte: Während Preußen das Fach „Schulkunde“ und „Katechetik“ in der Lehrerbildung forderte, sah die Sächsische Seminarordnung bereits einen modernen, differenzierten Unterricht in „Pädagogik mit Psychologie“ vor und ging dabei u. a. von einer Unterscheidung der Fächer Religion und Katechetik aus.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Beobachtungen zu den deutschen Bildungsräumen mit Ergebnissen der internationalen Bildungsforschung konvergieren: Staaten und Länder sind keine statischen, sondern dynamische Größen, deren lokale Dimension differenziert wahrzunehmen ist. Das Problem, wie jeweils mit innerer Pluralität umzugehen ist, kehrt ebenso wieder wie die Frage, warum ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Nationalgeschichte ein einheitlicher Bildungsraum konstruiert werden soll. In methodischer Hinsicht zeigt sich, dass eine rezeptionsgeschichtliche Perspektive kaum geeignet ist, die vielfältigen Transferprozesse beschreiben zu können. Für diese ist vielmehr die differenzierte Analyse der Medien, Akteure und Wirkungen der Transfers nötig. Auch wenn eine solche Transferforschung für die innerdeutschen Bildungsräume noch aussteht, scheint die Verrechtlichung des Schulsystems die folgenreichste Wirkung der Transfers im Bildungssystem zu sein. Die Ergebnisse der Tagung sollen in einem Tagungsband veröffentlicht werden.

Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Bildungseinrichtung; Bildungstransfer, Bildungspolitik; Lehrerbildung; Schulsystem, 19. Jahrhundert
Eingetragen von: barkowski@bbf.dipf.de
Erfassungsdatum: 23. 05. 2008
Korrekturdatum: 23. 05. 2008