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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Crotti, Claudia
Rezensiertes Werk: Bildungsgeschichten: Geschlecht, Religion und Pädagogik der Moderne / hrsg. von Meike Sophie Baader, Helga Kelle und Elke Kleinau. Köln (u.a.): Böhlau, 2006. - 304 S. (Beiträge zur historischen Bildungsforschung; 32); ISBN 3-412-33405-7
Erscheinungsjahr: 02/2008
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Universität Bern

E-mail: claudia.crotti@edu.unibe.ch
Text der Rezension:

``Bildungsgeschichten`` – so der Titel der Festschrift für Juliane Jacobi zum 60. Geburtstag – thematisiert Geschlecht, Religion und Pädagogik in der Moderne. Die Herausgeberinnen – Meike Sophia Baader, Helga Kelle und Elke Kleinau – lehnten sich bei der Auswahl der zu bearbeitenden Themenschwerpunkte am „thematische[n] Spektrum“ (S. 1) der Forschungsarbeiten von Juliane Jacobi an, das „an den Schnittstellen von Religionsgeschichte, Geschlechterforschung und Pädagogik“ (S. 1) angesiedelt ist. Konzeptionell gliedert sich die Publikation in vier Teile: In einem ersten wird das Thema ‚Kindheit und Jugend’ fokussiert; daran schließt das Problem ‚Religion und Geschlechteranthropologie’ an. Drittens werden die ‚Frauenbewegung und Pädagogische Berufe’ thematisiert; abschließend unterschiedliche ‚Geselligkeitsformen’. Bereits der Aufbau des Buches verdeutlicht, was Juliane Jacobi im wirklichen Leben gelebt bzw. erforscht hat, nämlich eine Verknüpfung der „zentralen Forschungsschwerpunkte Religionsgeschichte und Geschlechtergeschichte“ (S. 2). Die Hälfte der Beiträge nimmt in ihren Auseinandersetzungen explizit Bezug auf die Forschungsarbeiten von Juliane Jacobi und spiegelt damit zum einen ihre Präsenz im wissenschaftlichen Diskurs, zum anderen ihre Verbundenheit mit den Autorinnen und dem Autor der Publikation wider. So weisen die Herausgeberinnen darauf hin, dass Juliane Jacobi „die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses“ (S. 2) zu einem ihrer zentralen Anliegen erklärte und konkret in der kritisch-wissenschaftlichen Betreuung von Doktorierenden und Habilitierenden umsetzte sowie durch eine Reihe von Forschungsprojekten, die sie realisierte. Einige Beiträge im vorliegenden Band nehmen hierauf Bezug und gereichen Juliane Jacobi zu Ehren.

Der ersten Themenabschnitt wendet sich der Lebensphase ‚Kindheit und Jugend’ zu. Karin Priem, Ulrike Pilarczyk, Tamar Rapoport/Yoni Garb und Helga Kelle/Georg Breidenstein nähern sich diesem Schwerpunkt inhaltlich und methodisch unterschiedlich an, was sich in historisch und sozialwissenschaftlich orientierten Aufsätzen ausdrückt. Während im Mittelpunkt der Beiträge von Karin Priem und Ulrike Pilarczyk die Befragung der Fotografie einerseits hinsichtlich der Wahrnehmung erziehungsbedürftiger Kinder um 1920, andererseits der jüdischen Jugendbewegung ab Mitte der 1920er-Jahre steht, arbeiten Tamar Rapoport und Yoni Garb mit Interviews, welche die Erfahrungen gegenwärtiger religiös-zionistischer junger Frauen in Israel beschreiben. Demgegenüber werten Helga Kelle und Georg Breidenstein Beobachtungsmaterial von neun- bis zwölfjährigen Mädchen und Jungen aus, im Hinblick auf deren Verhandlungen zu Öffentlichkeit und Privatheit. Diese vier Beiträge, die sowohl inhaltlich, methodisch als auch zeitlich vielfältige Zugangsweisen zum Untersuchungsobjekt ‚Kindheit und Jugend’ aufweisen, erzeugen eben durch diese Vielfalt eine Spannung, die das Interesse und die Neugier der Lesenden weckt und zu halten vermag. Ebenso eröffnet diese Vielfalt einen Einblick in aktuelle Forschungsarbeiten, von denen man mehr wissen möchte.

‚Religion und Geschlechteranthropologie’ betitelt den zweiten Themenbereich der Festschrift für Juliane Jacobi. Wie im ersten Teil der Publikation wenden sich im zweiten vier Beiträge der Thematik zu. Ulrike Gleixner, Pia Schmid, Christine Mayer und Elke Kleinau zeichnen als Verfasserinnen. Während der erste Schwerpunktbereich in unterschiedlichen Perspektiven heterogen ausfällt, weist der zweite Themenbereich eine gewisse Homogenität auf, zumindest was die methodische Auseinandersetzung und den zeitlichen Rahmen der Thematik betrifft. Die beiden Beiträge von Ulrike Gleixner und Pia Schmid leuchten den Zusammenhang von Religion und Geschlechterfrage aus, während sich Christine Mayer und Elke Kleinau der Wissenschaft vom Menschen, der Anthropologie zuwenden und auf ihre Bedeutung für die Geschlechterordnung untersuchen. Basierend auf den Predigten des Abraham a Sancta Clara weist Ulrike Gleixner nach, dass die Predigten als rhetorische Strategie performative Effekte aufweisen, die „weibliche Minderwertigkeit als tatsächlich und wesenhaft sowohl in den Köpfen der Hörenden als auch der Sprechenden“ (S. 101) hervorbrachte. Demgegenüber stellt Pia Schmid in ihrem Beitrag dar, dass in den Anfangszeiten der Herrenhuter Brüdergemeinde – knapp hundert Jahre nach dem Wirken von Abraham a Sancta Clara – weibliche Gemeindemitglieder in Fragen ordinierter Ämter den männlichen Gemeindemitgliedern gleichgestellt waren (S. 114). Erst mit dem Tod des Begründers der Bürgergemeinde – Zinsensdorf – und der zunehmenden Institutionalisierung werden Frauen zurückgedrängt. Diese unterschiedlichen Tendenzen im Verhältnis von Religion und Geschlecht, die sich letztlich in einer spezifischen Geschlechterordnung auflösen, finden sich ebenfalls in der neu aufkommenden wissenschaftlichen Disziplin der Anthropologie, wie Christine Mayer mit Rekurs auf Kant, Rousseau und Humboldt darstellt, mit folgenreichen Auswirkungen auf die Bildungskonzepte für das weibliche Geschlecht (S. 135). Diese Auseinandersetzung wird von Elke Kleinau mit Rekurs auf die Kultur und ihrem gewählten Protagonisten – dem Aufklärer Pockels – fortsetzt. Insgesamt verdeutlicht der zweite Themenbereich der Festschrift die diskursive Komplexität einer Geschlechterordnung, die in unterschiedlichen Bezügen und auf unterschiedliche Weise zementiert wurde.


Weitere vier Autorinnen wenden sich dem Verhältnis von ‚Frauenbewegung und Pädagogische[n] Berufe[n]’ zu, dem dritten Schwerpunkt der Publikation. Bearbeitet werden Themenaspekte wie Feminismus und Eugenik in Frankreich und Deutschland – Ann Taylor Allen; Lehrerinnen als Unternehmerinnen – Edith Glaser; Gertrud Bäumer als Sozialpädagogin – Irene Stoehr; Schulleitung an evangelischen Gymnasien – Dietlind Fischer. So rekonstruiert Ann Taylor Allen, dass die Feministinnen in Frankreich und Deutschland – trotz nationaler Differenzen – mit den Debatten zur Eugenik eine Aufwertung von Müttern und Kindern verbanden (S. 171). Eine Hoffnung, “that preoccupied the feminists of the inter-war years are still relevant to the twenty-first century“ (S. 173). Einem gänzlich anderen Aspekt wendet sich Edith Glaser zu, nämlich der Lehrerinnenfrage, die von Juliane Jacobi mehrfach bearbeitet wurde.

In ihrem Beitrag zeigt Edith Glaser, dass der Erfolg bzw. Misserfolg von Lehrerinnen, die Privatschulen führten, von einem „ökonomische[n] und marktkonforme[n] Handeln“ (S. 180) abhing; einem Handeln, das letztlich einer politischen Neutralität zu genügen hatte. Der Frage der Professionalisierung der Frauen nimmt sich auch Irene Stoehr an. Ihre Protagonistin, Gertrud Bäumer, löste die soziale Arbeit der Frau aus ihrem karitativen Verständnis, um sie an „die Sozialpolitik staatlicher und internationaler Provenienz anzuschließen“ (S. 211), ohne dabei in Konflikt zu geraten mit der bestehenden, gesellschaftlichen Geschlechterordnung. Eben diese Konfliktarmut spiegelt in der Gegenwart die professionelle Schulleitung wider, die einem tradierten ‚Ehe-Modell’ (S. 231f.) und damit einer Geschlechterrollenzuweisung folgt. Die Ausführungen des dritten Themenbereichs, die Überführung einer diskursiv hergestellten Ordnung in gesellschaftliche Strukturen, knüpfen damit nahtlos an den zweiten Abschnitt der Festschrift an. Irritierend mag einzig die Titelsetzung sein, die meines Erachtens mehr umfasst als pädagogische Berufe.

Abschließend werden unterschiedliche ‚Geselligkeitsformen’ behandelt, die auf ihren geschlechtergeschichtlichen Aspekt befragt werden, wobei Freundschaft den zentralen Terminus bildet. Hilge Landweer untersucht diese Frage anhand der Nikomachischen Ethik Aristoteles’. Meike Sophia Baader folgt der Freundschaft im Pietismus und in der Romantik. Im Rückgriff auf „die Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit der Seele trägt der Pietismus [...] zur Legitimation der Freundschaft zwischen Männern und Frauen bei“ (S. 271). Dass Freundschaften zudem an öffentliche Räume gebunden sind, die Begegnungen ermöglichen, veranschaulicht Iris Schröder am 1913 publizierten Berliner Stadtführer: „Was die Frau von Berlin wissen muss“ (S. 275). Dieser Reiseführer zeigt auf, welche „Gelegenheit[en] zu gemeinsamer Geselligkeit“ (S. 283) die aufstrebende Metropole Berlin Frauen bot.

Bilanzierend lässt sich festhalten, dass es den Herausgeberinnen gelungen ist, namhafte Autorinnen unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen für ein Gemeinschaftswerk zu Ehren von Juliane Jacobi zu begeistern. Die Herausgeberinnen zeigten nicht nur bei der Auswahl der Autorinnen und des Autors, sondern ebenso im Hinblick auf den Aufbau der Publikation eine glückliche Hand. Obwohl die Publikation in vier große thematische Blöcke gegliedert ist, stehen die einzelnen Beiträge nicht unverbunden zueinander. Gleichsam als roter Faden spannt sich über alle Artikel hinweg die Frage nach dem Geschlechteraspekt, so dass die Aufsätze eben in ihrer differenten Ausrichtung die Komplexität einer Thematik veranschaulichen, die sowohl in der Vergangenheit als in der Gegenwart von Interesse ist. Beim Lesen begegnet einem dabei bereits Vertrautes sowie Neues. Die Vielfalt der Quellen und die Vielfalt der methodischen Bearbeitung derselben, die in diesem Band zur Darstellung kommen, tragen zur Attraktivität desselben bei.

Fussnote:

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von: Dr. Rita Casale

© 04.02.2008 by HBO, alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Bildungsprozess; Geschlechterrolle; Frauenbewegung; Lehrerin; Pädagogischer Beruf
Eingetragen von: barkowski@bbf.dipf.de
Erfassungsdatum: 04. 02. 2008
Korrekturdatum: 04. 02. 2008