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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Lange, Hermann
Titel: Der Schulbau der frühen Neuzeit als Ausdruck von politisch-gesellschaftlicher Verfassung und Schulleben
Erscheinungsjahr: 1998
Text des Beitrages: Hermann Lange

Der Schulbau der frühen Neuzeit
als Ausdruck von politisch-gesellschaftlicher Verfassung und Schulleben

technischer Hinweis:
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1. Einführung
1.1Zum Forschungs- und Quellenhintergrund


Das Material für den Vortrag [1] entnehme ich zwei Büchern: vor allem meiner
am Anfang der 60er Jahre entstandenen Untersuchung zu "Schulbau und Schulverfassung der frühen Neuzeit". Sie war 1965 abgeschlossen und ist 1967 erschienen. Ihr Untertitel lautet "Zur Entstehung und Problematik des modernen Schulwesens". Es ist nicht unwichtig, diesen Untertitel zur Kenntnis zu nehmen; denn in ihm kommt ein fortschritts-skeptischer Gesichtspunkt zum Ausdruck. Dieser Blickwinkel war damals, als die realistisch-ideologiekritischen Wenden der Pädagogik einsetzten und die heiße Phase der Bildungsreform anlief, ganz unzeitgemäß. Die Rezeption des Buches hat dies bestätigt. Es ist heute das zweite Mal, daß ich öffentlich darüber berichte.

Das zweite Buch, das ich herangezogen habe, ist Malcolm Seabornes Werk "The English School. Its Architecture and Organization 1370 - 1870".
Es ist 1971 erschienen und besticht nicht zuletzt durch seinen Grundriß- und Abbildungsapparat. Seaborne bestätigt, was auch meine Erfahrung war: "that the subject of school architecture and organization has been generally neglected by educational writers" (S. 279). Das ist zwar vor 25 Jahren geschrieben. Soweit es sich auf die frühe Neuzeit bezieht, gilt es, will mir scheinen, aber auch heute noch [2].

Vorgegangen sind wir beide so, daß unendlich viele Einzelbeispiele und -nachrichten gesichtet und geordnet wurden. Im Unterschied zu meiner Untersuchung befaßt sich Malcolm Seaborne allerdings nur mit englischen Beispielen und reflektiert die gesellschaftlichen Bezüge eher herkömmlich eindimensional im Sinne immer weiter voranschreitenden Schulbesuches und der Durchsetzung moderner Unterrichtsinhalte und Bauformen. Sozialhistorische Fragen interessieren ihn nicht. Sie andererseits bilden
den Hintergrund meiner Darstellung. Damit hängt zusammen, daß ich mich nicht auf deutsche Verhältnisse beschränkt habe. Gerade die vergleichende Heranziehung vor allem englischer und dänischer Gegebenheiten in Schulbau und Schulverfassung hat mir seinerzeit die Augen geöffnet.



1.2 Zum Begriff "frühe Neuzeit" und zum theoretischen Hintergrund

Als ich vor dreißig Jahren des Ergebnis meiner Untersuchungen zusammenfaßte, galt durchweg noch die Wende um 1500 als die große Epochenscheide: der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Mir hatten jedoch die Arbeiten und Vorlesungen des Historikers Otto Brunner [3] und des Politikwissenschaftlers Siegfried Landshut [4] den Blick dafür freigemacht, daß der eigentliche Umbruch zur Moderne ins Zeitalter der Französischen Revolution zu legen sei. Inzwischen ist es zum Allgemeingut geworden, von Alteuropa zu sprechen und dessen Gedankenwelt und Verfassungswirklichkeit, sagen wir, mit der Auflösung des Alten Reiches ausklingen zu lassen. In Frankreich wäre es das Ende des Ancien Régime. England ist schwieriger zu handhaben, je nachdem, ob man auf die industrielle Situation oder auf die politische Verfassung sieht. Das wird uns im Schulbau wiederbegegnen.

Alteuropa reicht also in manchem noch ins 19. Jahrhundert hinein. Andererseits kann man mit guten Gründen auch sagen, daß sich die Neuzeit schon im hohen Mittelalter ankündigt. Auf unser Thema bezogen, ließe sich durchaus vertreten, sie kündige sich mit der Gründung der europäischen Universitäten in Paris und Bologna an. Die Erfindung des Buchdrucks - ich erinnere an die Veröffentlichungen von Michael Giesecke - geben dann den entscheidenden Entwicklungsschub. Mit demselben Recht ließe sich - und dieses Beispiel liegt mir als Berufspädagogen nahe - die Ausdifferenzierung der Zünfte in den Städten des hohen Mittelalters als ein Vorzeichen der Neuzeit werten.

So kommt man dazu, nach dem Namen für ein Zeitalter zu suchen, das man als die Inkubationszeit der Moderne in allmählich auslaufenden alteuropäischen Verhältnissen kennzeichnen kann und das hier als "frühe Neuzeit" angesprochen wird. Dieses Zeitalter ist bisher, soweit es Schulbau und Schulverfassung betrifft, wenn überhaupt, dann nur unter dem Gesichtspunkt der Heraufkunft der Moderne und ihrer Züge dargestellt wurden. Diesen Gesichtspunkt habe ich in meiner Arbeit umgekehrt und nach den Nachwirkungen Alteuropas gefragt. Nur so kann man dieser langen Übergangszeit gerecht werden. Andererseits läßt sich das Alteuropäische nur in jeweiliger Abhebung von den modernen Zügen herausarbeiten.

In meiner Arbeit bin ich Siegfried Landshut gefolgt. Kennzeichen der Moderne war für mich die Heraufkunft des modernen Staates und der Denkweise des rationalen Naturrechts. Während das ältere politische Denken seinen Ausgang von Aristoteles nahm und vom Gemeinwesen her dachte, in dem der Einzelne jeweils seinen Platz hatte, beginnt des moderne Denken philosophisch mit
Descartes und politisch mit Denkern wie Hobbes und Rousseau. Für sie steht am Anfang der singuläre, vorgesellschaftliche Mensch des sog. Naturstandes, und alle politisch-gesellschaftliche Verfassung ist aus dieser vorsozialen Basis abgeleitet. Vom profunden Marx-Kenner Landshut hatte ich auch gelernt, daß man dem modernen Staat die moderne, am Markt orientierte Wirtschaft an die Seite stellen müsse. Die Dichotomie von Staat und (Wirtschafts-) Gesellschaft war für mich Kennzeichen der Moderne. Diese moderne, von der Abstraktion des vorgesellschaftlichen Individuums ausgehende Sichtweise mußte Zug um Zug der erfahrungsnahen Gedankenwelt und Gesellschaftsverfassung des alten Europa abgetauscht werden: der ontologischen Wahrnehmung im Sinne des Aristoteles, für die das Leben in Haus und Gemeinwesen am Anfang steht.

Niklas Luhmann faßt die hier angedeuteten Zusammenhänge inzwischen in einer evolutionistisch und kommunikationstheoretisch konzipierten Gesellschaftstheorie. In den Begriffen dieser funktional-vergleichenden Systemtherorie wird als Kennzeichen Alteuropas die sedimentäre, also ständische Gliederung der Gesellschaft gesehen. Kennzeichen der Moderne, die ab 1789 unumkehrbar wird, ist demgegenüber die funktionale Gliederung der Gesellschaft. Im Zuge dieses Umbruchs zur Weltgesellschaft zerlegt sich diese in eigenständige Funktionssysteme, also in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Familienleben bzw. Intimleben, Religion, Erziehung usw. Das menschliche Individuum wird im Verlauf dieser Entwicklung in die Umwelt der gesellschaftlichen Funktionssysteme versetzt. Es wird emanzipiert, ob es will oder nicht. Andere nennen das "Entfremdung".

Auch für Luhmann gibt es eine jahrhundertelange Übergangszeit aus der alteuropäischen Welt in die funktional orientierte und gegliederte moderne Gesellschaft. Im großen und ganzen sind das für ihn die drei ersten der sog. neuzeitlichen Jahrhunderte. Er hat diesen jahrhundertelangen Übergang in umfassend angelegten Studien untersucht und dargelegt, die in vier Bänden erschienen sind, die er unter dem Gesamttitel "Gesellschaftsstruktur und Semantik" zusammenfaßt. Das empirische Material für diese Studien fand er vornehmlich in der Bibliothèque Nationale in Paris. Es ist die zweit- und drittrangige Literatur jener drei Jahrhunderte. Luhmann nimmt sie als Doku-mente zeigenössischer Beobachtungen der Evolutionsschübe, die aus Alteuropa in die eigentliche Moderne führen. Er unterwirft sie nun seinerseits - theoretisch orientiert - einer soziologischen Beobachtung zweiter Ordnung.

Im Rückblick muß ich feststellen, daß ich in meiner Arbeit mit den theoretischen Mitteln Landshuts ähnliches versucht habe, wobei die noch stehenden Schulbauten und die noch greifbaren Schulbaupläne und Schulhausansichten mit zur "Semantik" gehören, über die ältere Schulwirklichkeit erfaßt werden sollte. Dies möchte ich noch einmal nachdrücklich betonen: gesellschaftliche Wirklichkeit, das sind für mich demnach nicht "sozioökonomische Gegebenheiten" oder andere sozusagen gesellschaftlich uninterpretierte Daten. Es geht mir immer um den erwähnten Spannungsbogen von Gegebenheiten und Selbstinterpretation der Gesellschaft. Die geisteswissenschaftlichen Pädagogen pflegten seit Dilthey vom gesellschaftlich-geschichtlichen Zusammenhang oder seit Schleiermacher von den einheimischen Begriffen zu reden. In meiner Arbeit nenne ich das den Zusammenhang von Begriffs- und Verfassungsgeschichte, in den ich die Schulbauentwicklung einzuordnen versuchte. Allerdings lege ich Wert auf diesen Zusammhang: die einheimischen Begriffe allein reichen nicht zur Interpretation. Man muß funktional vergleichen.

1.3 Anwendung auf eine Geschichte von Schulbau und Schulverfassung der frühen Neuzeit

Mit Hilfe der Abbildungen auf zwei zweier Folien möchte ich zunächst einmal die geschichtliche Spannweite des Themas "Schulbau und Schulverfassung der frühen Neuzeit" anzeigen. Am Beginn stehen Schulhäuser wie diese:

Folie 1: (in neuem Fenster)
a.Wismar (Ende 14. Jh.),
b.Stratford (1427),
Schulhäuser also mit einem großen allgemeinen, möglichst zweiseitig
belichteten Schulraum.

Am Ausgang der Epoche aber haben wir Gebäude folgenden Typs:

Folie 2: (in neuem Fenster)
a. Hamburger Johanneum (1840),
b. München: Haidhausener Volksschulhaus (1875).

Sie bringen den Gedanken der staatlichen Schulhoheit in eine architektonische Form. Damit erweisen sich die Schulkasernen, gegen die sich zu Beginn unseres Jahrhunderts die Reformpädagogen wenden, nicht etwa als Ausdruck der von ihnen so genannten "alten Schule", sondern als erster konsequenter Ausdruck der Moderne im Schulbau.

Bewußt habe ich für diese Markierung meines Zeitrahmens eindeutige Bau-typen gewählt. Aber für den modernen Typus konnte ich auch in Deutschland kein früheres Beispiel als das Hamburger Johanneum von 1840 finden; und für England nennt Seaborne sogar erst das Jahr 1870 als das Jahr, mit dem "the large scale intervention of the Central Government in education" (S. 277) begann. Erst seitdem könne man zentrale Schulbauanweisungen und -pläne studieren; bis dahin aber müsse man die Gegebenheiten vor Ort aufsuchen und aus ihnen die Entwicklungslinien gewinnen.

Wenn ich im zweiten Abschnitt meiner Einführung, als ich den politisch-gesellschaftlichen Gesamtrahmen meiner Interpretation ansprach, die markante Zäsur zwischen dem Auslaufen Alteuropas und dem unumkehrbaren Einsetzen der Moderne in die Zeit um 1800 legte - 1789, 1806 -, so sollten die beiden letztgezeigten Beispiele deutlich machen, daß für die Geschichte von Schulbau und Schulverfassung die alteuropäischen Ausläufer durchaus auch noch ins 19. Jahrhundert gehen. Prononciert gilt das für England, aber auch in Deutschland gibt es noch viele nachlaufende Züge. Sie reichen bis in die Jahrzehnte vor dem Einsetzen der Reformpädagogik. Das hat mich seinerzeit zu der These veranlaßt, daß die Reformpädagogen mit der sog. "alten Schule" in Wahrheit an alteuropäische Konzepte anknüpfen und den ersten Gipfel moderner, d. h. staatlicher Schulpolitik bekämpfen.

Bei genauer Betrachtung zeigt sich nämlich, daß die Schul- und Erziehungs-konzepte der Reformpädagogen sich noch vielfach aus vormodernen Vorstellungen speisen (um das Adjektiv alteuropäisch zu vermeiden). Man kommt dahinter, wenn man - wie ich das umrissen habe - die politisch-gesellschaftliche Semantik einbezieht. Die deutsche Pädagogik nähert sich ja erst in den Wenden der 60er Jahre einer soziologischen Sprache , und insofern könnte man sogar die These aufstellen, daß das hier behandelte Übergangszeitalter erst in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts mit der realistisch-ideologiekritischen Wende der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft ganz endet.

Aber für den Schulbau im engeren Sinne gilt das natürlich nicht, wohl aber dann, wenn man die Schultheorie in ihrem politisch-gesellschaftlichen Rahmen einbezieht. Wohlgemerkt: ich spreche von letzten Ausläufern der Vormoderne. Was ich noch einmal herausstellen wollte, war dieses: es handelt sich um eine lange Periode des Übergangs, in der die alte Schulverfassung mit dem zugehörigen Denken allmählich und nur schrittweise verschwindet. Während dieser langen Zeit "überlagern sich ... zwei Denk- und Wirklichkeitsstrukturen"
(S. 14), schrieb ich damals. Das gilt es bei der Interpretation der Beispiele, die ich nun präsentieren möchte, zu bedenken.

Ich fasse das, was sich in Schulbau und Schulverfassung für lange Jahrhunderte überlagert, wobei das Alteuropäische abnimmt und die Moderne zunimmt, noch einmal anhand der Gegenüberstellung zweier Schulgrundrisse zusammen:

Folie 3: (in neuem Fenster)
Ashbourne (1585 - 1603)
und das schon einmal gezeigte
Hamburger Johanneum von 1840.

Oben sehen Sie einen englischen Schulhausneubau aus den Jahren um 1600, der übrigens bis 1909 als Schule benutzt wurde. Es kommt mir darauf an, zwei Grundzüge herauszustellen:

1. den einen großen Schulraum. Er wird gemeinsam benutzt von Master und Usher (so hießen in England die Gehilfen des Schulmeisters).
2. geht es mir darum, das Schulhaus als Haus des Schulmeisters zu präsentieren.

Das ist die alteuropäische Ausgangsposition in einer ständischen Gesellschaft; und am Ende steht das, was sich uns im schon bekannten Grundriß der Gelehrtenschule des Hamburger Johanneums präsentiert:

1. Die Reihung von Klassenräumen und
2. die Entfernung selbst der Direktorenwohnung aus dem Schulhaus. Nur noch der Hausmeister ("Custos") wohnt im Souterrain.

Deutlicher, meine ich, kann man den Umstieg vom Schulhaus zur Unterrichtsanstalt nicht ausdrücken, von ontologisch-ständischer zu funktionaler Sichtweise.


2. Zentrale Beispiele

Anhand ausgewählter Grundrisse und Abbildungen will ich nun versuchen, das einleitend Umrissene zu entfalten. Ich habe dafür Folien mit Abbildungen vorbereitet, deren Aussagen ich für repräsentativ halte. Geordnet sind sie in fünf Reihen. Die ersten vier präsentieren in systematischen Durchgängen die alteuropäischen Grundzüge von Schulbau und Schulverfassung der frühen Neuzeit, nämlich
(1.) Haus des Schulmeisters zu sein;
(2.) das Fortbestehen des gemeinsamen Schulraumes bis ins 19. Jh.;
(3.) das Schulgeschehen im Inneren der Schulhäuser und
(4.) das Schulhaus als Lebensstätte der Lernenden.

Der 5. Abschnitt behandelt dann die Entwicklung der Schulhäuser zu Unterrichtsanstalten des modernen Staates.

2.1 Die Schule als Haus des Schulmeisters,
d. h. als eigenständiges Glied des Gemeinwesens

Die Folien des ersten Durchgangs bringen Beispiele vom späten 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Sie sollen zeigen, daß über diese Zeitspanne hinweg Kolleg und Schulhaus samt Schulraum wie selbstverständlich als das Haus des Professors oder des Schulmeisters angesehen wurden. Für diese Gedankenwelt ist selbstverständlich, daß zu einem Amt nicht nur der Amtsraum, sondern ein Haus gehört, in dem der Amtsinhaber samt Hausangehörigen lebt. Der Amtsraum ist Teil dieses Hauses; so eben auch der Schulraum. Und es war ein Selbstgänger, "daß ein Haus nach dem Stande des Hausherrn einzurichten ist. Dabei ist dieser Stand immer auch von öffentlicher Bedeutung; Mensch und Staatsbürger werden noch nicht unterschieden. Es zerfiel das Dasein der Menschen auch noch nicht in ein Privat- und ein Berufsleben; und ein Haus hatte dem Hausherrn in allem, was er war, und allen seinen Hausgenossen zu dienen. Otto Brunner hat den alteuropäischen Begriff des Hauses (oikos) in seiner konstitutiven Bedeutung für die Verfassung des Gemeinwesens wieder herausgestellt und das, was damit umgriffen ist, zur Unterscheidung vom heutigen Verstande häuslichen, d. h. familiären, modern-privaten Lebens das "ganze Haus" genannt. Das Haus als Gebäude diente diesem "ganzen Hause", und von ihm und dem zugehörigen Verfassungsbegriff ist auch für die vor-moderene Schule auszugehen: sie ist das Haus des Schulmeisters"
(Lange 1967, S. 24).
Die Beispiele reichen vom Unterrichtskolleg bis zum Landschulhaus, und ich kann auf diese Weise zugleich die ständische Gliederung des Schulwesens an seinen Schulhäusern aufzeigen.

Schließlich verbinde ich mit diesem ersten Durchgang noch eine andere Absicht. Wo es angebracht und möglich ist, werde ich auch auf die jeweilige Stiftungsgrundlage hinweisen. Das werde ich gelegentlich auch bei einschlägigen Beispielen der späteren Durchgänge tun. Dies deckt eine der Absichten des 5. Kapitels meines Buches ab, in dem ich dargelegt habe, daß zur vollen Selbständigkeit einer älteren Schule neben dem eigenen Schulhaus auch ihr selbständig fundiertes Einkommen gehörte. Auch dies ist ein Grundzug frühneuzeitlicher Schulverfassung. Wo Kollegs und Schulen öffentlichen Anspruch haben, handelt es sich um selbständige Fundationen. So erst waren sie bürgerliche Einrichtungen im vollen Sinne: selbständige Stiftungen. Nicht zufällig verlieren sie in Deutschland diese Selbständigkeit im Zuge derselben Entwicklung, die das Alte Reich auflöst und den Zünften ihren öffentlichen Charakter nimmt. Seitdem hängen sie am Tropf eines öffentlichen Haushalts: Ausdruck von Funktionalisierung.

Nun zu den Folien mit den Abbildungen.

Folie 4: (in neuem Fenster) bringt drei Beispiele von Kolleggebäuden für Universitäten:

zwei Gründungen der Blütezeit vor dem Dreißigjährigen Kriege - Altdorf und Helmstedt - und einen großzügigen Entwurf des Architekten H. C. Sturm aus dem Jahre 1720. Gemeinsam zeigen sie das Kolleg als die für angemessen erachtete Bauform: oben die offene Dreiseitanlage, in Sturms Entwurf das geschlossene Quadrat.

Beide Universitätsgründungen - das Nürnbergische Altdorf (bekanntlich hat Wallenstein dort studiert) und das Braunschweig-Lüneburgische Helmstedt - sind aus älteren gymnasialen Stiftungen hervorgegangen und haben deren Fundationen übernommen. Beide wurden in kleinere Landstädte verlegt und dort jeweils am Rande des Orts, an der Stadtmauer placiert. Beide wurden mit dem Alten Reich aufgelöst.

Die Hausung der Professoren möglichst im Kollegiengebäude verstand sich zumindest für die Gründungszeit von selbst. Außerdem gehörte ein Alumnat für Stipendiaten dazu. Man kann die Zweckbestimmung der drei Flügel in Altdorf so zusammenfassen:

- der südliche Mittelflügel enthielt die Auditorien, die Bibliothek,
eine Kunst- und Naturaliensammlung, Studentenwohnräume und das
Alumnat;
- im Westflügel waren ebenerdig die Ökonomie (also der Küchen- und Wirtschaftstrakt) und im Ober- und Dachgeschoß zwei geräumige Professorenwohnungen untergebracht.
- Die anderen Professoren wohnten im Ostfügel, der nach Süden hin auch das juristische Auditorium und ab 1650 das Anatomische Thea-
ter enthielt.

An Sturms Entwurf lassen sich gut die idealen Vorstellungen der späteren Zeit ablesen, der Zeit zwischen Dreißig- und Siebenjährigem Krieg . Im Zentrum liegen die gemeinsamen Räume der Universität, einschließlich Kirche und Konvikt (heutzutage Mensa). Darum herum wohnen in einem äußeren Gebäudekranz die Professoren und Universitätsbeamten. Jeder der Professoren hat in seinem Hause sein "Privatauditorium". Dieser Gebäudekranz ist sozusagen eine Aneinanderreihung von selbständigen Schulhäusern (vgl. Abb. 7c).
(Die eingezeichneten Pfeile zeigen auf die Privatauditorien in diesen Professorenhäusern).

Folie 5 (in neuem Fenster) zeigt die Außenansichten zweier akademischer Gymnasien , also jener Einrichtungen zwischen Gelehrtenschule und Universität, die vor allem die philosophische Fakultät im alten Sinne umfaßte.

Die obere Abbildung stellt das Casimirianum in Coburg dar, an dem noch Goethes Vater studiert hat: ein schöner Renaissancebau, ebenfalls aus den Jahren vor dem Dreißigjährigen Krieg. Er steht noch heute. Der Name weist auf eine Stiftung des thüringischen Landesherrn hin. Das Raumprogramm umfaßt als Vorkehrungen für den Schulbetrieb zwei Auditorien und eine Bibliothek; sodann eine Direktorenwohnung, eine Konsistorialstube für die Visitatoren; ein Alumnat mit Konvikt und Unterbringung der Alumnen (Stipendiaten) im Dachgeschoß hinter den Erkern; weiter die "Oekonomie" mit Wohnungen für den Ökonomen und den Alumneninspektor (einen der Schulkollegen). Außerdem wurde bald eine Vorklasse eingerichtet, das sogenannte Paedagogium. Es erhielt einen kleineren Raum im 1. Stock.
Mit solcher Ausweitung sind wir schon beim Christianeum in Altona, das 1738/44 von einer Lateinschule zum Akademischen Gymnasium erhoben wurde. Die Gebäude sind zwischen 1719 und 1742 entstanden. Man sieht noch die Drei-Seit-Anlage als kollegiates Zitat und Kern der Anlage. 20 Jahre später folgen die beiden Flügel. Das Christianeum hatte seitdem als Gesamtstiftung eine Dreiteilung:
- Vorbereitungs- und Bürgerschule;
- Pädagogium (ab 12 Jahren etwa) und
- Akademisches Gymnasium mit dem gesamten Spektrum universitärer Fakultäten.
Also: eine wirkliche Gesamtschule! Mit gewissen Abwandlungen haben wir immer noch dasselbe Raumprogramm wie in Altdorf und Coburg. Auch hier wohnen die Lehrenden in den Schulgebäuden.

Folie 6 (in neuem Fenster) Auch das Breslauer Elisabethanum bestätigt die Aussage von der Schule als Haus des Schulmeisters, hier in einer etwas anderen räumlichen Anordnung. Das abgebildete Schulhaus wurde 1560 errichtet, als die mittelalterliche Lateinschule zu einem Gymnasium aufgestockt wurde. Das eigentliche Schulhaus enthält in drei Stockwerken links und rechts des Treppenhauses die Schulräume. Es wurde in dieser Form bis 1829 benutzt.

Im Dachgeschoß hinter den Erkern - vgl. Coburg - lagen Unterkünfte für unbemittelte Schüler und Choralisten. Die Häuser der drei obersten Lehrer liegen rechts von der Schule - in gehöriger Größe, d. h. Rangabstufung von Rektor über Prorektor zum Dritten Professor. Zugleich macht der Grundriß die Lage am Elisabeth-Kirchhof und damit die Nähe dieses städtischen Gymnasi-ums zur Kirchengemeinde deutlich. Die Schule war ins Kirchenregiment eingebunden.

Folie 7 (in neuem Fenster) bringt drei nicht-lateinische Schulen. Am interessantesten ist vielleicht der Entwurf, den der Ulmer Stadtbaumeister Josef Furttenbach 1649 für ein "Teutsches Schulgebäw" vorgelegt hat. Furttenbach ist meines Wissens der älteste deutsche Architekturtheoretiker und hatte viele Anregungen aus Italien mitgebracht. Er wollte das Schulwesen für die "modernen", "realistischen" bürgerlichen Berufe aufchließen. In sein Entwurfsprogramm für Schulbauten hat er deswegen auch eine deutsche Schule aufgenommen, und zwar als Doppelschule. Daran ist im Augenblick zweierlei von Interesse:
1. daß eine eigene Schule für Mädchen vorgesehen ist und
2. daß den beiden Schulen je ein Schulmeister vorsteht und dieser jeweils seine Unterkunft im Erdgeschoß hat.
Die beiden anderen Abbildungen zeigen Umsetzungen dieses Prinzips der parallelen Zusammenordnung von Schulhäusern als Haus des Schulmeisters an zwei Beispielen aus der Zeit um 1800. Im Fall der Kopenhagener Freischule liegen Jungen- und Mädchenschulhaus übereinander: die Wohnungen im Vorderhaus, die Schulstuben im Hinterhaus, und zwar noch ganz im Stil des alten gebäudefüllenden Schulraums.
In Schwelm finden wir für die Bürgerschule 1806/08 das Reihenhausprinzip: Rektorat, Konrektorat, Mädchen-Schule - jeweils Wohnung mit Schulstube. Das entspricht Sturms Konzept für ein Universitätskolleg (Abb. 4c) in der bescheidenen Version.

Folie 8 (in neuem Fenster) rundet das Bild von der Schule als Haus des Schulmeisters über alle Gliederungen des Schulwesens hinweg mit drei Beispielen aus dem Landschulwesen ab:

- ein Schulhaus-Musterriß aus der Zeit des ostpreußischen
Retablissements unter Friedrich-Wilhelm I., dem Soldatenkönig. Der
Schulmeister geht aus seiner "kleinen Stube" in die "große Schul- stube", und selbst der Stall liegt noch unter demselben Dach
(1736/37).

- So war es ursprünglich auch bei dem dänischen Beispiel. Es handelt
sich um vom König (ab 1721) gestiftete "Reiterschulen" in bestimmten Landdistrikten. Am Ende des Jahrhunderts wurde die Schulstube um den rechts noch erkennbaren Stallteil erweitert.

- Unten sieht man einen Entwurf des katholischen schlesischen Volks- schulreformers Abt Felbiger aus dem Jahre 1783. Dieser Entwurf ist schon elaborierter,da er im Mansardengeschoß auch noch eine Schul- gehilfenwohnung mit eigenem Schulraum vorsieht.

 

2.2
Fortbestand und Weiterentwicklung des gemeinsamen
Schulraums bis ins 19. Jahrhundert:

englische und dänische Beispiele

In einem kurzen zweiten Abschnitt folgen nun vier Folien mit englischen Beispielen und einem aus Dänemark. Sie sollen zeigen, daß der große gemeinsame Schulraum, dessen Leben und dessen Personen - Schulkollegen wie Schülern - der Headmaster oder Rektor vorstand, in den großen öffentlichen Schulen Englands wie Dänemarks bis ins 19. Jahrhundert Bestand hatte, in England hier und da sogar bis an den Anfang unseres Jahrhunderts.

Folie 9 (in neuem Fenster) hat den Erweiterungsbau der Public School Harrow zum Thema. Oben sehen Sie die Ansicht, unten einen Grundriß mit dem gemeinsamen Schulraum. Erst der Erweiterungsbau von 1819 brachte wegen gestiegener Schülerzahl Klassenräume und machte den Alten Schulraum zum Domizil der Fourth Form. Auf die Möblierung gehe ich im nächsten Abschnitt ein.
Vielleicht noch ein Blick auf die Ansicht. Wenn Sie sich die rechte Hälfte des Gesamtgebäudes, also den Erweiterungsbau, wegdenken, haben Sie das Alte Schulhaus, das der Schule von 1615 bis 1819 diente. Es ist eben derselbe Raumtyp, in diesem Falle von allen vier Seiten belichtet, den ich Ihnen auf der ersten Folie mit den beiden mittelalterlichen Schulhäusern von Wismar und Stratford-upon-Avon vorgestellt habe.

Folie 10 (in neuem Fenster) präsentiere ich deshalb, um Ihnen zu zeigen, daß in England selbst dann noch der große gemeinsame Schulraum das schulbauliche Leitbild abgab, als am Anfang des 19. Jahrhunderts das Elementarschulwesen auf breiter Basis entwickelt wurde.Vorangegangen war eine Gründungswelle von Charity Schools im 18. Jahrhundert, in Deutschland als Frei- oder Armen-schulen bekannt. Schulgesellschaften stellten im 19. Jahrhundert diese schulgeldfreie Elementarschulvorsorge auf eine breite Basis, und verschiedene Konzepte von Schulen für viele Hunderte von Schülern wurden entwickelt und auch faktisch umgesetzt. So entstanden z. B. die viel nachgeahmten Bell- Lancaster-Schulen. Unsere Folie 10 zeigt oben die Innenansicht einer Schule nach dem sog. Madrassystem: 1810. - Darunter können Sie einen Blick in die Model School des schottischen Elementar-Schulreformers David Stow werfen: 1836.

Ich habe nicht Zeit, auf die Einzelheiten des Schullebens der Elementarschulen einzugehen. Mir kommt es hier nur darauf an, zu zeigen, wie lange und in welche Schulbereiche hinein der eine gemeinsame Schulraum typ- und stilbildend gewirkt hat. Wohlgemerkt: beides sind Neubauten des 19. Jahrhunderts! Vielfach nachgebaut.

Folie 11 (in neuem Fenster) zeigt Grundriß und Innenansicht einer 1604 im Städtchen Tiverton in Devon errichteten Grammar School. Sie wurde von Peter Blundell , einem reichen Tuchhändler, gestiftet und mit einem Fundus für Master, Usher und 150 Stipendiaten versehen. Auch diese Schule erhielt den herkömmlichen, langgestreckten Schulraum, nach oben nur durch die Dachkonstruktion begrenzt. Aber bemerkenswerterweise waren die beiden Schulen des Masters und des Ushers bis in Wandhöhe durch einen Quergang getrennt, das "Interscholium" . Er war durch hölzerne Stabgitterwände gebildet, die man "screens" nannte, wie den Lettner in Kirchen. Durch ihn hindurch und über ihn hinweg blieb für den Blick die Einheit des gesamten Schulraums erhalten: siehe untere Abbildung.

Hinweisen möchte ich rückblickend noch einmal auf die beiden Häuser für Master und Usher - für damalige Verhältnisse großzügig angelegt und vorblickend erwähne ich den ebenfalls großzügigen Wohnteil für die Stipendiaten, den das rechte Ende des Grundrisses ausweist: Library und Dining Room.

Daß die am Beispiel von Blundell`s School in Tiverton vorgeführte Screen-Unterteilung nicht nur in englischen Grammar Schools Usus war, lernen wir aus Folie 12 (in neuem Fenster)

Sie bringt eines von vielen möglichen Beispielen für dänische Lateinschulen. Wir sehen die Ansicht und zwei Grundrisse der 1763 erbauten Kathedralschule in Aarhus. (Seit der Reformation war sie in einem säkularisierten Kloster untergebracht gewesen - wofür wir aus Deutschland Dutzende von Beispielen nennen könnten, das Hamburger Johanneum eingeschlossen). Der obere Grundriß nun zeigt die Situation vor 1805 . Dort sehen Sie links mit dem Buchstaben "a" gekennzeichnet die sog. Meisterlektie für Rektor und Konrektor, die dort abwechselnd unterrichteten oder richtiger: Schule hielten. Sie hatten im übrigen ihre gesonderten Häuser. - "B" bezeichnet den gemeinsamen Schulraum der vier nachgeordneten Schulkollegen. Meisterlektie und Schulraum waren durch eine Fensterwand mit breiter Glastür getrennt:
vgl. den screen von Blundell`s School in Tiverton.

1805 wurde von der dänischen Regierung für alle Lateinschulen des Landes der Umbau in Klassenräume angeordnet. Es entstand jene neue Raumsituation, die auf dem unteren Grundriß abgebildet ist. Wir kennen sie bereits aus den eingangs von mir benutzten Folien 2 und 3 mit dem Grundriß der 1840 in Hamburg neugebauten Gelehrtenschule des Johanneum. Auch in Aarhus mußten 1805 die Wohnungen der vier Schulkollegen aus dem Schulhaus weichen.

2.3 Blick ins Schulrauminnere und auf das Schulgeschehen in
frühneuzeitlichen Schulen

In einem dritten Durchgang wende ich mich nun dem Geschehen im Schulraum zu, und ich denke, daß inzwischen längst klar ist, daß nicht nur in England und Dänemark, sondern auch im Deutschland der frühen Neuzeit "trotz Comenius" nicht die Jahrgangsklasse und der Frontalunterricht die Regel war, sondern ein sehr differenziertes Zeige - und Vorführ-, Lern- und Aufsage-, Abhör- und Korrektur-Geschehen . Der Schulmeister hielt Schule , indem er dieses Geschehen leitete, in dessen Mittelpunkt das "Selbststudium" der Schüler stand, überwacht im Aufsagen und Abhören. Dort, wo es um Schreiben und Rechnen geht, wird es noch durch weitere Lern-, Übungs- und Kontrollformen differenziert.

Es folgen einige Beispiele, die das Geschehen im Schulraum verdeut-
lichen.

Folie 13 (in neuem Fenster) Nicht zufällig beginne ich mit der Abbildung des Schulraums aus dem > Orbis sensualium pictus < des J. A. Comenius. Weithin gilt Comenius und gilt er wohl auch heute noch als derjenige, der die Jahrgangs-klasse propagiert, wenn nicht gar eingeführt hat. Und mit ihr den Frontal-unterricht. Das Schulraum-Bild der Origninalausgabe des >Orbis pictus< von 1658 spricht eine andere Sprache. Und die bald hundert Jahre jüngere Nürnberger Ausgabe hat zwar ein anderes Design, aber noch dasselbe Konzept mit demselben Text.

Es zeigt die vielfach beschäftigte Schülerschaft - in den Lateinschulen sprach man vom Coetus - des hinter seinem Katheder auf dem "Lehrstuhl" sitzenden Schulmeisters. Von frontaler Ausrichtung keine Spur. Auch nicht von "Unterrichten"! Die meisten Schüler sitzen auf lehnenlosen Bänken und "lernen" aus aufgeschlagenen Büchern. Einige wenige sitzen an einem Tisch und schreiben: entweder von der Tafel ab, wo ihnen vorgeschrieben worden ist, oder nach sonstiger Vorlage oder Aufgabenstellung. Der Schulmeister sieht die Vorlagen der Schreiber an seinem Pult durch und verbessert sie, oder er läßt Schüler einzeln oder gruppenweise vor sich treten und hört sie ab. Reciting und rehearsel hieß das im Englischen.

Folie 14 (in neuem Fenster) ergänzt in schöner Weise diese anhand des >Orbis pictus<-Bildes gewonnenen Einsichten in die ältere Schule und ihr Kerngeschehen. Es handelt sich um den Grundriß der "Knabenschule des Praezeptors Daniel" um 1800. Dieser Präzeptor stand der tief gegliederten Elementarklasse im Gymnasium illustre in Burgsteinfurt vor. Da finden wir eine vielfache Unterteilung des Gesamt-Coetus vor, und zwar immer nach "Bänken", wobei es sich, wie gesagt, um lehnenlose Bänke handelt. Das englische Wort für diese lehnenlosen Bänke des alten Schulraums lautet "form". Daraus ist die moderne eng-lische Bezeichnung für die Schulklasse erwachsen.

Als einzige Ausnahme finden wir - den Orbis pictus bestätigend - zwei Schreibtische vor. Sonst aber gibt es nur die sitzweise Gliederung nach Bänken, zwei Wandtafeln und das Katheder des Schulmeisters in der Ecke. Ich denke durchaus an englische Schulräume, auch der Kamin erinnert mich daran.

Bei den Bänken aber haben wir zunächst die Generalgliederung nach Bauern- und Bürger-Bänken: ein interessantes ständisches Phänomen im Schulraum. Sodann können wir anhand der Bezeichnungen für die Bürgerbänke das gesamte Schulprogramm oder Lernpensum der Elementarschule des einen Präzeptors durchlaufen: vom ABC bis zu den lateinischen Anfangsgründen. Die Stellung der Schulmöbel in der dänischen Landschule (vgl. Fol. 8, Abb. b) aus derselben Zeit läßt auf analogen Schulbetrieb im kleinen Maßstab schließen: einige frontal gestellte lehnenlose Bänke und zwei seitlich stehende, beidseitig besetzte Schreibtische.

Folie 15 (in neuem Fenster) führt uns noch einmal nach England, und zwar lassen uns ihre Abbildungen in zwei Schulräume englischer Grammar Schools des 19. Jahrhunderts blicken. 1816 erschien das Werk von Ackermann über die Geschichte der großen englischen Public Schools Winchester, Eton usw. Für unser Thema ist es wegen seiner großformatigen Abbildungen interessant, die Blicke in die vom Schulleben erfüllten Schulräume werfen lassen. Auffällig daran ist - und es hat mir seinerzeit die Augen geöffnet -, daß alle diese englischen Spitzenstiftungen noch immer nur das differenzierte Schul-geschehen in einem gemeinsamen großen Schulraum kannten.

Oben auf der Folie sehen Sie als Beispiel den uns schon (vgl. Fol. 9, Abb. b) als Grundriß mit Mobiliar bekannten großen Schulraum von Harrow, der erst nach den Zubauten von 1819 zum Raum der Fourth Form wurde. Die Reproduktion ist leider recht dunkel ausgefallen. Aber wenn Sie genau hinsehen, ist zumindest folgendes zu erkennen: sozusagen im Fonds des Schulraumes thront der Headmaster und seitlich sitzen hinter ihrem Pult zwei Ushers oder Assistants. Die Schüler sitzen zu beiden Seiten eines breiten, freien Mittelganges und kehren diesem vielfach den Rücken zu. Sie blicken einander an. Die "forms" sind ohne Lehnen und Tische. Ich habe schon früher gezeigt, daß das Schulhaus von Harrow 1819 um Klassenräume erweitert wurde, wodurch der große Schulraum zum Klassenraum der Fourth Form wurde. Mir ist nicht bekannt, ob sich damit auch der Schulablauf änderte. Ich möchte es bezweifeln.

Den Grund für diese Zweifel zeigt die untere Abbildung auf der Folie. Sie gibt das Schulrauminnere der Grammar School von Rotherham in Yorkshire wieder, eine der älteren Stiftungsschulen. Seaborne bringt sie als Beispiel dafür, daß die Schools Inquiry Commission 1868 zu Recht monierte, daß die meisten der alten "endowed schools" (Stiftungsschulen) sich durch einen "lack of classrooms" auszeichneten: "the forms were still being taught by the ushers in the same room" (261).Wie gesagt, das Bild des großen Schulraums von Rotherham aus den 1860er Jahren dient ihm zur Illustration; und ich sollte hinzufügen, daß es sich bei diesem Schulraum um einen Umbau handelt, der noch 1857 ausgeführt wurde und in dem die Schule bis 1890 geblieben ist.

Ich komme nun wieder zu deutschen Verhältnissen und lege zunächst zwei Folien auf, die ich nicht im einzelnen interpretieren will. Sie dienen mir als Beispiel dafür, daß auch in Deutschland die Schulraum-Verhältnisse an nicht wenigen Stellen denen des englischen großen Schulraums glichen. Ich könnte viele Beispiele dafür bringen, und zwar bis weit ins 18. Jahrhundert hinein, daß auch in Deutschland mehrere Schulkollegen zugleich in einem Raum unterrichteten, ohne Unterteilung - oder eben in der englischen bzw. dänischen Weise - nur halbhoch geschieden.

Folie 16 (in neuem Fenster) zeigt oben die Unterbringung des Stendaler Gymnasiums in der Zeit von 1540 bis 1784, nämlich im hohen Chor der Franziskanerkirche. Noch Winkelmann ist dort hindurchgegangen. Die Verschläge zwischen den Klassen erinnern in manchem an die englischen und dänischen Screens und wurden im kalten Winter z. T. entfernt.

An den beiden Grundrissen des Hamburger Waisenhauses von 1679/81 intreressiert hier der rechte, der das 1. Stockwerk wiedergibt. Es geht mir nur um einen Blick auf den Schulraum ("g"); von ihm ist nämlich ("h") ein Klassenraum für den Katecheten abgetrennt, die sog. "Lateinische Stube". Nach der morgendlichen gemeinsamen Religionsstunde mit der Gesamt-Schülerschaft zog der Katechet dorthin mit der Gruppe der Lateinschüler um.

Folie 17 (in neuem Fenster) bringt oben einen Ausschnitt aus dem uns schon bekannten Entwurf eines deutschen Doppel-Schulhauses: 1649, von Josef Furttenbach. Es handelt sich um die Schreibschule des deutschen Schulmeisters, der darin mit zwei Provisoren wirken soll. Das ist sozusagen ein elaboriertes Beispiel einer deutschen Schreibschule mit Schulmeister und zwei Schulkollegen in einem Schulraum. Das Lernprogramm geht vom ABC über das Schreiben und Rechnen bis zur Buchhaltung. Es wird natürlich nicht von allen durchlaufen. Die Leseanfänger sollen auf Schemeln zwischen den beiden Säulen sitzen. Rechts unten sind bei "S - S" Plätze zum Aufstellen eingerichtet. Dort sollen sich die Erstkläßler zum Aufsagen und Abfragen hinstellen.

Unten auf der Folie 17 ist der Entwurf für eine Neueinrichtung des Alten Pädagogiums in Stuttgart wiedergegeben. Sie ist wegen des eingezeichneten Schulmobiliars interessant. Die Zeichnung stammt vom Landbaumeister und wurde nach 1797 angefertigt. Für alle Schüler sind Tische vorgesehen; doch sind sie zweiseitig besetzt mit lehnenlosen Bänken. Auch hier kein Gedanke an frontale Ausrichtung aufs Katheder.

Diesen Durchgang abschließend, möchte ich ein wenig länger bei der
Folie 18 (in neuem Fenster) verweilen. Der Grund ist, daß ich noch einmal zusammenfassend auf die Frage der vormodernen Schulklasse zu sprechen kommen möchte, die offensichtlich keine Jahrgangsklasse war. Was also war sie dann?

Wir können das - nach den bisherigen Vorbereitungen - recht gut an dieser Folie studieren, die die vier unteren Stockwerke des Leipziger Thomas-Schulhauses mit der Einrichtung der Schulräume zeigt, die diese bei einem Umbau im Jahre 1732 erhielten und die in dieser Form hundert Jahre Bestand hatte: bis 1829. (Das darüberliegende Mezzanin- und das Dachgeschoß mit Erkern werde ich im nächsten Durchgang behandeln, wo es um die Alumnate geht. Auch das Erdgeschoß und der 2. Stock werden dann noch einmal zu besprechen sein). Hier geht es also um die Schulräume im engeren Sinne. Man sieht, daß sie in der Mitte des langgezogenen Schulhauses liegen, an dessen beiden Giebelenden die beiden wichtigsten Lehrpersonen ihre Hausung haben: rechts der Rektor und links der Kantor, z. Zt. des Umbaus also noch Johann Sebastian Bach. Die Wohnung des Kantors ist deutlich kleiner als die des Rektors.

Wie nun sitzen die Klassen während der Schulzeit und wie ist ihre Gliederung? Sexta und Quinta haben je einen Raum im 1. Stock, doch fehlen Sitzangaben. Die Quarta - 3. Stock - scheint besonders stark frequentiert gewesen zu sein. Ich nehme an, daß hier viele Bürgersöhne verweilten, die nicht die Ab-sicht hatten, die ganze Schule zu durchlaufen. Sie benutzten diese Klasse als Bürgerschule, und sie war deshalb in Unterquarta und Oberquarta - je mit besonderem Schulraum - geteilt. Gelegentlich konnte eine Fortgeschrittenengruppe der Quarta aber auch mit der schon kleineren Tertia kombiniert wer-den. Im Schulraum der Tertianer gibt es daher für sie einen eigenen Sitzblock auf der Gegenseite. Eine ähnliche Vorkehrung findet sich in der Prima im Erdgeschoß: "Bänke für die Sekundaner, wenn combinirt wurde".

Die drei Bankreihen der Primaner waren ansteigend und wurden "Basteien" genannt. Eine solche "Bastei", offensichtlich auch für Kombinationszwecke, findet sich auch in der Sekunda im 1. Stock . Im übrigen gibt es auch hier drei Bankreihen: Unter-, Mittel und Obersekundaner, wie analog bei den Primanern: Unter-, Mittel- und Oberprimaner.

Aus diesem Befund ergibt sich nun folgendes Bild für die vormoderne deutsche Schulklasse. Sie wurde nicht wie eine heutige Jahrgangsklasse zu einem bestimmten Termin zusammengestellt und dann geschlossen vom Lehrer durchs Pensum geführt. Vielmehr trat ein lernwilliger bzw. von seinen Eltern Geschickter in eine Schule ein, zu beliebigen Zeitpunkten. Dort wurde er seinen Kenntnissen entsprechend eingeordnet und durchlief das Pensum so schnell oder langsam und so lange, wie er konnte bzw. wollte.

Auch Seaborne berichtet aus Eton für die 1770er Jahre von sehr unterschiedlichen Verweildauern in den einzelnen Forms. In die oberste, die Sixth Form, gelangten überhaupt nur wenige: "more attention was given to the stage reached by the pupils in the curriculum than to their chronological age" (vgl. S. 82 - 84). Viele seien spät nach Eton gekommen und hätten es früh verlassen.

Zurück zu den deutschen Verhältnissen! Dort hatte sich im Laufe der Zeit eine Klassengliederung in drei Promotionen eingespielt. Ober-, Mittel- und Obersekundaner bzw. -primaner sind solche Promotionen, und Halbjahresversetzungen aus einer in die andere Promotion waren die anvisierte Regel, aber keineswegs verbindlich. Man wurde also zweimal nach dem Lernstand in der Klasse versetzt und schließlich aus der obersten Promotion in die unterste der folgenden Klasse.

Ich habe nicht Zeit, dazu noch weitere Ausführungen zu machen. Nur noch dies: diese gewissermaßen ruhende Dreipromotionenklasse als immerwäh-rende Klasse eines Schule haltenden "Schulmeisters" in seinem Schulraum wurde erst im Laufe des 19. Jahrhunderts in die moderne Jahrgangsklasse umgewandelt. Gelegentlich waren dabei sogenannte Fachklassen ein Übergang, während man die neuen Jahrgangsklassen mit jahrweisem Versetzungstermin in allen Fächern "Generalklassen" nannte. Als letztes Beispiel einer solchen Umwandlung ist mir das Gymnasium Ernestinum in Celle bekannt. Dort wurde die alte, nach Promotionen gegliederte Prima in zwei Jahrgangsklassen, Unterprima und Oberprima, überführt, als Hannover an Preußen fiel, also 1866.

2.4 Die Schule als Lebensstätte der Lernenden

Drei charakteristische Merkmale vormoderner Schulhäuser habe ich an Beispielen präsentiert:
- Haus des Schulmeisters und selbständige Fundation;
- langes Nachwirken des Vorbilds "gemeinsamer Schulraum" und
- das Konzept der bleibenden Mehrgliederungsklasse, in der der Schul-
meister Schule hält.

Nun gilt es dieses Bild in einem letzten Durchgang noch um den vierten Grundzug zu vervollständigen: das Schulhaus als Lebensstätte der Lernenden. Ich kann mich kurz fassen, da ich gelegentlich schon in den vorausgegangenen Beispielen auf Stipendiatenunterbringung in Alumnaten hingewiesen habe.
Auch kann ich vorweg schon einmal sagen: Vorkehrungen für das Wohnen und Leben der Studierenden und Lernenden gehörten wie selbstverständlich zu den Bauvorkehrungen aller größeren Schul- und Hochschulstiftungen. Die Lernenden wurden damit zu Hausgenossen des Schulmeisters bzw. der Lehrenden.

Ein erstes Beispiel bietet der Kollegienhof der schon einmal (Fol. 4, Abb. a) vorgestellten Nürnbergischen Universität im Städtchen Altdorf: Folie 19 (in neuem Fenster) Ich nutze eine Beschreibung der Universität aus dem Jahre 1795, um beispielhaft zu erläutern, was an Vorkehrungen für Studenten- und Stipendiatenunter-bringungen für nötig erachtet worden war. Der südliche Mitteltrakt umfaßte in den beiden Obergeschossen jeweils einen Langflur, an dem sieben "bequeme Stuben" mit ein oder zwei Zimmern lagen. Hier handelte es sich um Stiftungen Nürnberger Familien, die die Universität vermietete, wenn die Stifter sie nicht nutzten. Im Dachgeschoß befand sich das Alumnat für zwölf Stipendiaten. Es hatte eine eigene Fundation, die ins Mittealter zurückging. Das Wohn- und Studierzimmer dieser Stipendiaten ist auf der unteren Abbildung der Folie wiedergegeben: Alumnat. Links und im Hintergrund erkennt man die gut mannshoch abgeteilten Studierzellen oder Kabinette, von denen jeder der zwölf Stipendiaten eine hatte.

Diese Alumnen hatten ihren gemeinsamen Freitisch im Konviktorium. Dieses Konviktorium (vgl. die Angaben zu Fol. 4a),auch die Oekonomie genannt, lag im Westflügel der Anlage. Dort konnten auch andere Studenten gegen Kost-geld essen. Verantwortlich für alle Beköstigungsfragen war der Oekonom, der dort ebenfalls seine Wohnung und Räumlichkeiten hatte, von der Küche bis zu den Stallungen. Die zwölf Alumnen galten als Hausgenossen des Oekonomen.

Auf kleinerem Fuß finden wir dieselbe Regelung wie in Altdorf im Coburger Casimirianum, dem 1604 fertiggestellten Akademischen Gymnasium, das ich schon einmal gezeigt habe: Folie 5.

Eton College, das wir oben auf Folie 20 (in neuem Fenster) sehen, wurde 1440 in großem Fuße vom englischen König gestiftet. Man erkennt die klösterliche Bauvorlage, und der ursprüngliche Zweck dieser Stiftung war, theologischen Nachwuchs heranzubilden. Deshalb ist es keineswegs weit hergeholt, die nachreformatorischen Stiftungen verschiedener deutscher Landesherren mit Gründungen wie Winchester und Eton zu vergleichen. Man spricht von Landesschulen, Schulen nämlich für den geistlichen Nachwuchs eines Landes. In Sachsen hießen sie auch Fürstenschulen; in Württemberg sind die vier Klosterschulen - Denkendorf, Blaubeuren, Bebenhausen und Maulbronn - besonders bekannt geworden, weil sie auf das Tübinger Stift zuführten.
Dieser Schultyp und seine Bauform durfte in diesem Durchgang nicht fehlen, weil er das gemeinsame Leben von Lehrenden und Lernenden in besonders sinnfälliger und eindringlicher Weise zeigt. Allerdings sind die Verhältnisse in Deutschland bescheidener, baulich und von der Fundation her gab es kein Eton. Wohl aber werden in der Reformation aufgelassene Klöster und ihre Güter dazu verwendet.

Auf Folie 20 unten bringe ich von den drei sächsischen Landes- oder Fürstenschulen Schulpforte, Meißen und Grimma als Beispiel den Grundriß der letzteren. Ich erspare mir eine Erläuterung der Örtlichkeiten und fasse so zusammen: angepaßt an die örtlichen Gegebenheiten finden sich neben den Schul- auch alle Alumnatsvorkehrungen in diesem adaptierten Klostergebäude wieder.

Damit sind wir bei Folie 21 (in neuem Fenster) angelangt. Mit ihr wenden wir uns noch einmal der Thomasschule in Leipzig zu, Zustand nach dem Umbau von 1732, bei dem auch aufgestockt worden war. Diesmal geht es nicht um die Klassenräume, sondern um die Vorkehrungen für das Alumnat. Es wurde wegen des Chors für die Thomaskirche unterhalten, aus dem ja der heutige Thomanerchor hervorgegangen ist. Zugleich bot ein solcher Chor die Möglichkeit für Stipendien. Vor allem wird man den Chor der Thomasschule als Nachwuchs-stätte für Kantorenstellen im Lande ansehen dürfen.

Untergebracht war das Alumnat im obersten Mezzaningeschoß hinter den Erkern des Dachgeschosses (genannt: Unter- und Obertabulat. ) Es gab Studierzellen je für einen Unter- und Oberburschen. Auf dem freien Dachboden dazwischen waren an einer Mittelwand die Betten aufgestellt. Vor zwei Erkern des Dachgeschosses wurden "die Abendarienproben gehalten". Der eigentliche Musiksaal mit einem Flügel befand sich im 2. Obergeschoß. Zu ihm hatte der Kantor unmittelbaren Zutritt aus seiner Wohnung.

Gespeist wurde gemeinsam im Cönakel im Erdgeschoß. Es entspricht dem Konvikt in Altdorf und Coburg. Da die Tabulate nicht geheizt waren, hielt man sich im Winter auch zum Studieren im Cönakel auf, ganz wie in Coburg.

Den Abschluß des vierten Durchgangs bildet Folie 22 (in neuem Fenster) , die sich noch einmal Furttenbachs Entwurf für ein deutsches Doppelschulhaus (1649) vornimmt. Diesmal geht es mir darum, zu zeigen, daß Kostgänger selbst in einer an-spruchsvollen Deutschen Schule als angemessen angesehen wurden. Furttenbach will sie in der Schulmeisterwohnung unterbringen. Er folgt damit einem vielfach geübten Brauch, die Wohnungen der Rektoren nicht zuletzt deswegen großzügig zuzuschneiden, damit sie Kostgänger halten konnten. Das erhöhte überdies das Einkommen. Furttenbach sieht die Hälfte der Schul-meisterwohnung für zwölf Kostgänger vor, unterzubringen in vier Dreier-kammern. Die Stube I soll die Studierstube für Schulmeister und Kostgänger sein.

2.5 Die Entwicklung zur Unterrichtsanstalt

In einem schnellen letzten Durchgang möchte ich nun noch an einigen Beispielen zeigen, wie sich schrittweise moderne Gesichtspunkte auch im Schulbau durchsetzten. Am Ende dieser Entwicklung steht also das, was ich schon in der Einleitung angerissen und gezeigt habe: die Funktionalisierung des Schulhauses als Unterrichtsanstalt. Es verschwinden Wohnungen und Alumnate aus den Schulhäusern, der gemeinsame Schulraum wird zur Flucht von Klassenzimmern, und aus der "ruhenden" Mehrabteilungsklasse wird die einheitlich voranschreitende Jahrgangsklasse. Ich kann hier nur einige Beispiele auf diesem Wege anführen und diese auch nur mit pauschalen Angaben kennzeichnen. Bedenken möchte ich Deutschland und England. Der Umschwung in den dänischen Lateinschulen im Jahre 1805 wurde ja schon gestreift (vgl. Fol. 12).

Als ein wichtiger Schritt in Richtung Jahrgangsklasse sind zweifellos die Schulen des Jesuitenordens anzuführen, wenngleich sie im prostestantischen Bereich offenbar nicht beispielgebend gewirkt haben. Was Comenius in seiner Zeit weitgehend vergeblich propagiert hat, hat die Gesellschaft Jesu im katholischen Gelehrtenschulwesen umgesetzt, eben die Jahrgangsklasse.

Folie 23 (in neuem Fenster) bringt als Beispiel das Paderborner Jesuitenkolleg von 1612/14 mit dem an den Kollegteil, also die Ordensklausur, angebauten Schülerfügel. Der Grundriß zeigt allerdings den Zustand der Zeit vor 1850. Es ist nämlich davon auszugehen, daß die dünnen Scheidewände einschließlich der Gangwände ursprünglich nicht vorhanden waren. Man betrat die Schulräume unmittelbar vom Hof bzw. über die beiden Treppentürme. So präsentierte jeder der vier Schulräume für sich genommen zumindest architektonisch noch die Situation des alten zweiseitig belichteten Schulraums. Es gibt aber durchaus Beispiele der Klassenzimmer-Reihung an einem Seiten- oder gar beidseitig an einem Mittelkorridor. Hinzuweisen ist außerdem auf den Theatersaal, der zum Bauprogramm jeder Jesuitenschule gehörte, und auf die gemeinsame Aula.

Folie 24 (in neuem Fenster) zeigt das 1650 in Altdorf (zur Universität Altdorf vgl. Fol. 4 a und 19) eingerichtete Anatomische Theater. Ich habe es hier aus zwei Gründen aufgenommen:

- einmal steht es stellvertretend für einen Bedarf an neuartigen Schulräumen,
der in dem Augenblick entsteht, in dem die Realien und die Naturwissen-
schaften in die Schulen eindringen. Hier wären z. B. auch Naturalien-
kabinette zu nennen.
- Zum anderen bereitet die halbrund aufsteigende Sitzordnung die
Frontalausrichtung der Schulklasse vor. Sie hängt mit dem demon-
strierenden Charakter des Unterrichts zusammen.

Folie 25 (in neuem Fenster) steht ebenfalls für ein neues Raumprogramm, auch hier zunächst noch in den überlieferten Formen einer Kolleg-Anlage. Es handelt sich um das 1588/92 in Tübingen gegründete Collegium illustre , eine frühe Ritterakademie, gedacht als Studienstätte für den Adel. Zum neuen Raumprogramm gehörte z. B. ein Ballhaus. L. C. Sturm, der Architekturtheoretiker (vgl. Fol. 4c), baut dieses Programm in einem hier nicht gezeigten Entwurf einer Ritterakademie, 1720 dann noch weiter aus. So erscheinen z. B. ein Fechtboden, ein Marstall, ein Tanzsaal und ein Reithaus, dazu ein Kunst- und Modell-Saal. Aber das lag jenseits der Mittel, die der damaligen Zeit zur Verfügung standen.

Ein weiteres Beispiel der voranschreitenden Neuzeit finden Sie auf Folie 26 (in neuem Fenster) mit der Hohen Karlsschule, wie sie 1775 neben dem Residenzschloß in Stuttgart eingerichtet wurde und aus Schillers Lebenslauf bekannt ist. Sie hat ganz und gar militärischen Charakter . Fast möchte man sagen, daß sie den Gedanken der Ritterdakademie funktionalisiert und "verstaatlicht" . Die beiden langen Gebäude in der Mitte enthalten Schlafsäle, an deren beiden Enden sich jeweils Wasch- und Umkleideräume befinden. Die Unterrichtsräume sind im rechten Flügel wie moderne Klassenräume an einem Seitengang aufgereiht. Man denkt auch an das Schulraumprogramm großer Jesuitenkollegs, zumal in Frankreich.

Eher nachrichtlich weise ich mit Folie 27 (in neuem Fenster) auf die Franckeschen Stiftungen in Halle hin. "Welch ein Bauen!" staunte selbst der preußische König, und ich habe in meiner Arbeit von einem "Schulstaat" gesprochen. Ich gehe nicht mehr auf Einzelheiten ein, sondern verweise nur noch auf die Verbindung von streng religiöser Einstellung und penibler Ökonomie, von Pietismus und Rationalismus.

Hat man sich diese Zusammenhänge vergegenwärtigt, fällt es nicht schwer, sie auch in England zu bemerken, wenn auch mehr als hundert Jahre später. Folie 28 (in neuem Fenster) zeigt das ganz funktional eingerichtete Schulgebäude für die Grammar School der protestantischen Nonkonformisten mit ihrer streng religiösen Ausrichtung. Ihr Schulhaus aber kennt nicht länger den großen gemeinsamen Schulraum, vielmehr sind im rechten Flügel (siehe die Pfeile) zu beiden Seiten eines Mittelganges fünf Klassenzimmer gereiht. Eines davon hat doppelte Größe und heißt "Writing School", und auch die anderen vier sind jeweils als "School" bezeichnet. Ganz frei ist man also doch noch nicht von der älteren Semantik, unklar bleibt, ob das ältere Schulleben überwunden ist.

Schließlich noch eine letzte Folie, Nr.29 (in neuem Fenster) Sie gewährt noch einmal den Blick in zwei Großschulräume englischer Elementarschulgesellschaften, datiert 1818. Ich habe sie deswegen an den Schluß gestellt, um zu demonstrieren, daß es auch ohne die Ausgliederung von Klassenzimmern einen Weg ins Funktionale gab: unmittelbar im riesigen Schulraum selbst, in dem es in militärischer Ordnung zuging. Den Vertretern des offenen Schulraums heute würden die Haare zu Berge stehen.

Erfassungsdatum: 08. 01. 1999
Korrekturdatum: 02. 04. 2004