Text der Rezension: |
Der von Petra Götte gewählte Untertitel "diskutiert
und realisiert - erlebt und erinnert" beschreibt pointiert das
anspruchsvolle Programm der aus ihrer Dissertation hervorgegangenen
umfangreichen Studie über den Jugendstrafvollzug in
Deutschland in den Jahren der NS-Diktatur. Hierbei steht für
die Kölner Erziehungshistorikerin die Frage nach der
alltäglichen Vollzugspraxis im Jugendgefängnis - auch
im "Dritten Reich" als Erziehungsstrafvollzug deklariert - im Zentrum
der Aufmerksamkeit.
Götte fragt also nach den Realitäten des zuerst im
JGG von 1923 als jugendkriminalrechtliche Leitidee
rechtsgültig formulierten Erziehungsanspruchs, zumal der
Anspruch von NS-Juristen und Strafrechtlern in den Planungen der
ns-spezifischen Jugendstrafrechtsreform beibehalten wurde. Weiter fragt
sie nach der Realisierung der die nationalsozialistische
Kriminalpolitik kennzeichnenden Radikalisierung der
spezialpräventiven Repression
im Jugendstrafvollzug. Hier richtet sich ihr Interesse insbesondere auf
den rasse- und kriminalbiologisch legitimierten Ausleseanspruch: die
typisierende Unterscheidung von erziehbaren und unerziehbaren("entarteten") jugendlichen "Verbrechern".
Wer den Vollzugsalltag im Jugendgefängnis zum
Forschungsgegenstand hat, kann die jugendlichen Insassen
schlechterdings nicht übersehen. Die Autorin nähert sich
ihnen auf zweifache Weise: Mit der Analyse von Häftlingsakten
(soweit zugänglich) und anderen amtlichen Dokumenten folgt sie
zwangsläufig, allerdings mit bemerkenswerter hermeneutischer
Vorsicht, den Sichtweisen der deutungs- und entscheidungsmächtigen
Akteure in Strafverfolgung und Strafvollzug. Als Korrektiv der
Verfolger-Perspektive dienen ihr Erlebnisberichte von Zeitzeugen, die
zwischen 1933 und 1945 Freiheitsstrafen in deutschen
Jugendgefängnissen "verbüßen" mußten. Auch im
Umgang mit
diesen Quellen erweist sich Götte als vorsichtige Interpretin,
die sich der Authentizitätsproblematik der Jahrzehnte nach den
Inhaftierungen sowie im weit fortgeschrittenen Lebensalter von den
Zeitzeugen erinnert-interpretierten Erlebnisse bewusst ist. In
erkenntnisleitender Hinsicht orientiert sich Götte an Goffmans
Theoriekonzept der totalen Institution, das sie auf den
Jugendstrafvollzug im "Dritten Reich" überträgt. Als
historisch-empirische Probe aufs Exempel dient ihr das
Jugendgefängnis in Wittlich an der Mosel.
Zuvor aber, im ersten Teil der Untersuchung (S. 43-136) befaßt
sie sich mit den programmatischen, normativen und
politisch-administrativen Aspekten des Jugendstrafvollzugs im
Zusammenhang mit den jugendkriminalpolitischen Reformaktivitäten
des NS-Regimes. Gut erkennbar wird die in den Kriegsjahren
vorangetriebene Pönalisierung des Jugendstrafrechts auf dem
politisch-administrativen Verordnungswege. Die zum einen mit dem
Erziehungsanspruch, zum anderen mit dem Ausleseanspruch
begründeten verschärften Repressionsmöglichkeiten fanden
schließlich Eingang
in das RJGG von 1943 und seine Ausführungsbestimmungen.
Selbstverständlich war die Jugendkriminalpolitik in dieser Zeit
keine autochthone Schöpfung des NS-Regimes. Zurecht eröffnet
Götte deshalb den ersten Untersuchungsteil mit einem
Rückblick auf die Geschichte des kriminalrechtlichen Umgangs mit
Jugendlichen in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.
Hingewiesen wird darin auf den schon im Kaiserreich und vornehmlich von
Vertretern der "modernen" bzw. kriminalsoziologischen Strafrechtsschule
propagierten Erziehungsgedanken. Sie fügten den Erziehungsgedanken
ein in ihre Vorstellung von einer kriminalwissenschaftlich fundierten
und zweckrational-täterorientierten "Verbrechensbekämpfung"
[1] Diese Vorstellung "moderner" interventions- und anstaltsstaatlicher
Kriminalpolitik beinhaltete die Überzeugung von der Existenz
unerziehbarer Minderjähriger und ihrer negativen Selektion, bzw.
ihrer möglichst dauerhaften "Unschädlichmachung" zum Schutz
der bürgerlichen Gesellschaft vor dem aus der Unterklasse
hervorgehenden "Gewohnheitsverbrechertum". Über die wohlfahrts-
und kriminalpolitischen Problemlösungsdebatten und dem Aufschwung
der Kriminalbiologie in
der Weimarer Republik fand der sozialdarwinistische Gedanke der
negativen Auslese, ns-ideologisch angereichert, Eingang in die
rassenhygienische Vision von einer kriminalitätsfreien deutschen
"Volksgemeinschaft" [2] und damit in die kriminalpolitischen
Problemlösungsstrategien und Praktiken des Regimes. Dieser erste
Teil der Untersuchung beruht auf zeitgenössischen
Fachpublikationen sowie auf zahlreichen politik-, verwaltungs- und
insbesondere rechtsgeschichtlichen Studien. Die Fülle des
Materials, Primär- und Sekundärquellen, gekonnt
zusammenfassend, ist der Autorin eine stringente Synthese gelungen, die
auch als eigenständig Veröffentlichung denkbar wäre.
Bereits im ersten Teil der Untersuchung wird das Jugendgefängnis
Wittlich vorgestellt. In diesem kurzen Exkurs (S. 51-56) werden die
Anfänge der ersten eigenständigen Jugendstrafanstalt in
Preußen im späten Kaiserreich skizziert. Das
Jugendgefängnis Wittlich wurde 1912 eingerichtet und nach dem
anglo-amerikanischen Prinzip des progressiven Stufenstrafvollzugs
organisiert. Inhaftiert wurden darin zunächst ausschließlich
junge männliche Straftäter im Alter von
18 bis 21 Jahren, die eine wenigstens einjährige Freiheitsstrafe
zu "verbüßen" hatten. Gefangene aus der Altersgruppe der 12-
bis 18-jährigen Jugendlichen im Sinne des RStGB von 1871 wurden
hingegen im benachbarten Männergefängnis eingesperrt. Trotz
dieser grotesken
Praxis fungierte das Jugendgefängnis Wittlich in den
Weltkriegsjahren, aber auch in der Weimarer Republik, als Modellanstalt
des erzieherisch organisierten Jugendstrafvollzugs in Preußen.
Der zweite Teil der Untersuchung (S. 141-438) konzentriert sich auf das
Jugendgefängnis Wittlich in den Jahren von 1933 bis 1945.
Darüber hinaus nimmt Götte aber auch immer wieder Bezug auf
den Jugendstrafvollzug mit seinen (bis 1939) 17 Jugendgefängnissen
im Deutschen Reich, womit
sie Vergleichsmöglichkeiten eröffnen, aber auch die
"Eigendynamik" des Jugendstrafvollzugs in Wittlich kenntlich machen
will. Die Breite und Vielschichtigkeit der durchgängig
quellennahen Darstellung erlaubt hier nur kurze Hinweise: Behandelt
werden die äußere und innere administrative Organisation des
Jugendgefängnisses, die Personalstruktur und -qualifikation sowie
die Aufgaben und Funktionsbereiche des Personals. Es folgen die
Häftlinge: Anzahl, Altersstruktur, Straftaten und Strafdauer.
Danach rückt der Vollzugsalltag in den Blick: Einweisung und
Einkleidung der Neuzugänge, Verpflegung und medizinische
Versorgung der Häftlinge, ihre Arbeitsbereiche und
Arbeitseinsätze, Unterricht und Seelsorge, Sport und
"Wehrertüchtigung", schließlich die Entlassung. Die
Darstellung zeigt aber auch das mit dem im "Dritten Reich"
beibehaltenen progressiven Stufenstrafvollzug eng verbundene
Disziplinierungssystem, wozu die Aussonderung der als unerziehbar
beurteilten Gefangenen aus dem Jugendstrafvollzug gehörte.
Häufig praktiziert wurde die Verlegung in den
Erwachsenenstrafvollzug. Möglich war zudem die
Überstellung an die Polizei, auch nach der
Strafverbüßung; das hatte die Einweisung in ein
Jugendkonzentrationslager zur Konsequenz, womit die Betroffenen dem
Terror- und Vernichtungsapparat der SS ausgeliefert wurden.
Kriminalbiologische Beurteilungen bzw. Argumentationsmuster
legitimierten nicht nur die Aussonderung, sondern auch die zwangsweise
Kastration und Sterilisation von Häftlingen.
Gerade an den Praktiken der Selektion und rassenhygienischen
"Sonderbehandlung" von jugendlichen Strafgefangenen zeigt sich für
die Autorin die faktische Bedeutungslosigkeit des
jugendstrafrechtlichen Erziehungsanspruchs. Für erzieherisches
Handeln in
pädagogischen Bezügen blieben nach ihrer Einschätzung im
minutiös verplanten und streng reglementierten
Jugendgefängnis kaum Zeit und Raum. Hinzu kam die dienstliche
Distanziertheit des Personals, aber auch die Personalmisere im Krieg.
In den Kriegsjahren verschlechterte sich überdies die
Ernährungssituation der Gefangenen dramatisch. Gleichzeitig ging
es während des Krieges vorrangig um die Ausnutzung ihrer
Arbeitskraft. Kurz vor dem militärischen Zusammenbruch des
NS-Regimes war dann
auch - wie schon im Ersten Weltkrieg - die Wehrkraft der jugendlichen
Strafgefangenen gefordert; ihnen winkte die Entlassung zur
Bewährung - zur Frontbewährung.
Ich wünsche dem Buch von Petra Götte - trotz seines Umfangs
(fast 500 Seiten) - möglichst viele interessierte Leserinnen und
Leser, insbesondere aus der Erziehungsgeschichte und Historischen
Sozialpädagogik, aus der Historischen Jugendforschung und aus der
Historischen Kriminalitätsforschung, denn die durchweg
quellennahe, komplexe und überzeugend argumentierende Untersuchung
bietet vielfältige Anregungen für weitere einschlägige
Forschungen auf diesem Niveau. Ein Beispiel wäre die bisher noch
weithin unbekannte Sozialgeschichte
der Jugendkriminalpolitik und des Jugendstrafvollzugs in der
Bundesrepublik Deutschland in den in den 50-er und 60-er Jahren des
extremen 20. Jahrhunderts [3].
Anmerkungen:
[1] Vgl. Müller, Christian: Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871-1933. Göttingen 2004.
[2] Vgl. Wagner, Patrik: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher.
Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer
Republik und des Nationalsozialismus. Hamburg 1996.
[3] Vgl. Baumann, Imanuel: Interpretation und Sanktionierung von
Jugendkriminalität. In: Herbert, Ulrich (Hrsg.): Wandlungsprozesse
in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980.
Göttingen 2002. S. 348-378.
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
PD Dr. Karin Priem
PH Schwäbisch Gmünd
Institut für Erziehungswissenschaft
Abt. Allgemeine Pädagogik
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