Text des Beitrages: |
1.Vorbemerkungen
Zuvor scheinen einige erläuternde Bemerkungen notwendig.
Die Aufgabe zur Gestaltung dieses Vortrages weckte (oder erweckte quasi)
in mir den Anspruch einer bilanzierenden Perspektive. Wenn inzwischen 18jährige
„Kübelböcker“ mit ihren Autobiografien an die Öffentlichkeit
gehen, sollte es legitim sein, als 1960er Jahrgang berufliche Bilanz zu ziehen,
nicht um damit beamteten Status einzuläuten, sondern um an jenem Zeitpunkt,
an dem ich erstmals seit 1990 eine unbefristete Stellung und damit berufliche
Verankerung gefunden habe, sich der Strategien professionellen Handelns zu
vergewissern, diese zu analysieren und bestenfalls weiterzuentwickeln.
Das Ziel des Beitrages wäre damit eine berufliche Standortbestimmung.
Und zwar – und das wäre als Methode und Inhalt zu bezeichnen – Standortbestimmung
durch Rückkopplung, durch Rückbindung an die Schwerpunkte wissenschaftlicher
Arbeit der letzten ca. 20 Jahre. Es sollte gelingen, diese – nämlich
die Beschäftigung mit Geschichte bzw. Bildungsgeschichte und Schulentwicklung,
die Tätigkeit in Bildungsberatung, Schulmanagement und Lehrerweiterbildung
– sozusagen frei nach dem Deutungsmusteransatz in der Erwachsenenpädagogik
(vgl. Arnold 2001) – in ein Deutungsmuster zu fassen. Das heißt, die
Arbeitsfelder ständen nicht mehr wie zufällig nebeneinander, sondern
sie werden in einem systematischen Zusammenhang betrachtet. Diese, meine
Deutung wäre dann fruchtbar zu machen für jetzige und zukünftige
Lehr- und Forschungstätigkeit.
Darauf bezieht sich auch der etwas kryptisch anmutende Titel, der diese
verschiedenen Lebens- und Berufsstränge nur anzudeuten vermag.
Zu den Vorbemerkungen gehört auch die Feststellung, dass dies als
Versuch zu verstehen ist, auch von einem gewissen pädagogischen Größenwahn
getragen ist, doch noch die allumfassende theoretische Begründung als
Sinngebung des eigenen pädagogischen Forschens und Handelns zu finden.
(Vielleicht ist es auch nur die Denktradition, aus der ich stamme, die von
konstruktivistischen Theorien zur Aneignung der Wirklichkeit nichts wissen
wollte, vielmehr von der Möglichkeit der Erkenntnis absoluter Wahrheit
ausging.)
Der Vortrag gliedert sich in drei Abschnitte. Die ersten beiden sind in
der Überschrift angedeutet:
Zuerst – das wäre der Zusammenhang zwischen Luther und interkultureller
Pädagogik – möchte ich aufzeigen, dass es für Pädagogik
und insbesondere für interkulturelle Pädagogik unverzichtbar ist,
sich an Geschichte bzw. Bildungsgeschichte rückzukoppeln, bzw. warum
mir solches als unverzichtbar erscheint.
Im zweiten Teil will ich deutlich machen, dass gerade die Erfahrungen in
der Lehrerweiterbildung und mit dem Thema Schulentwicklung, speziell im Fernstudiengang
„Schulmanagement“, den ich in Kaiserslautern half zu etablieren und betreute,
wichtige Impulse für die Gestaltung der Lehrererstausbildung hier an
der TU Berlin erwachsen, so wie ich sie deute.
Im dritten Abschnitt gilt es dann die Schlussfolgerungen aus jenen beiden
biografischen Strängen für die eigene Tätigkeit zu ziehen.
Ich werde zeigen, welche insbesondere bildungshistorischen Inhalte und Perspektiven
mir bei der Betrachtung interkultureller Erziehung und Bildung wichtig sind
und wie sie in der Lehrererstausbildung umzusetzen sind.
Und eine letzte Vorbemerkung: Ich möchte einem Erschrecken vorbeugen:
Ich werde keine Selbstanalyse betreiben und ich werde Ihnen keine 95 Thesen
anschlagen, wie dereinst Luther in Wittenberg. Nichtsdestotrotz präsentiere
ich meine Überlegungen Ihnen vorerst thesenhaft, und würde mich
freuen, damit eine Disputation anzuregen.
1. Von Luther zur interkulturellen Pädagogik
Luther steht nicht dafür, dass ich Ihnen einen historischen Überblick
zur Bildungsgeschichte geben möchte, in dem Falle würde ich eher
bei Platons Höhlengleichnis begonnen haben, oder gar bei dem auf Tontafeln
1700 v. Chr. festgehaltenen Gilgamesch-Epos, das Rainer Winkel in einem Artikel
als den ältesten pädagogischen Text ausweist. Nur kurz Ihnen zur
Erbauung: Hier wird eine Sage erzählt, wie ein Mensch zum Menschen wird
und zwar durch Liebe und sei es – wie in diesem Fall - die einer Hure. Ihr
– der Liebe – gelingt es, sogar den unter Tieren aufgewachsenen Enkidu zu
vermenschlichen. In dem Epos werde – so Winkel − eine vergessene Botschaft
über Erziehung und Bildung, die nicht auf Gewalt oder Dressur, Verwöhnung
oder Selbstregulierung setzt, sondern auf die Liebe zum Menschen, übermittelt.
(Platon 1999)
Luther bezeichnet vielmehr in erster Linie eine Zäsur mit biografischem
Hintergrund, weil sich mit Luther der Beginn meiner beruflichen Laufbahn
verbindet: Ich promovierte über dessen Korrespondenzen und Aktivitäten
während des Bauernkrieges bzw. gegen die „räuberischen und mörderischen
Rotten der Bauern“ 1525/24.
Damit hatte ich mich auch mit einem Mann beschäftigt, der sich –
u. a. gemeinsam mit Philipp Melanchthon - um – was mich damals noch nicht
so interessierte - Bildungsangelegenheiten bekümmerte: In seiner Schrift
„An den Christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes
Besserung“ (1520) und dem späteren Appell an die „Ratsherren aller Städte
deutschen Landes“ (1524) forderte er auf, „allergrößte Sorge und
Fleiß aufs junge Volk zu lenken“. Er setzte sich für eine allgemeine
Bildung ein und legte diese in die Verantwortung der Obrigkeit. Insbesondere
verdeutlichte er der Obrigkeit die staatserhaltende Funktion von höherer
Bildung. Dies zu gewährleisten schien ihm vor allem ausgebildetes Personal
notwendig - gerade nach den Erfahrungen des Bauernkrieges: „denn E.F.G. siehet
wohl, wie man die Welt nicht allein mit Gewalt jetzt regieren kann, sondern
muß gelehrte Leute haben, die mit Gottes Wort helfen das Volk durch
Lehren und Predigten halten, und freilich, wo nicht Lehrer und Prediger wären,
weltliche Gewalt nicht lange stehen würde…“. So schreibt er am 20.
Mai 1525 an Herzog Johann Friedrich von Sachsen.
Aber es soll auch kurz auf den systematischen Zusammenhang zu Luther verwiesen
werden: Oelkers meint in seiner „Theorie der Erziehung“ (2001), dass nach
und mit Luther im eigentlichen erst die Begriffsgeschichte der „Erziehung“
begann, indem der Begriff mit Wert aufgeladen worden sei. Die Begriffs-Konstruktionen
hätten sich seither immer auf die Seele des Menschen bezogen und Einwirkungen
beschrieben: „Erziehung ist (seit dem) Formung zur Tugend, zunächst
ausschließlich zur christlichen Tugend, später zu allen säkularen
Tugenden, ohne dass sich die begriffsgeschichtliche Präferenz und Potenz
verändert hätte.“ (Oelkers 2001, S. 31)
Ich könnte nun zwei Wege gehen, um Ihnen den von mir gedeuteten notwendigen
Zusammenhang zwischen Bildungsgeschichte und Verständnis von Pädagogik
bzw. interkultureller Pädagogik nahe zu bringen. Einmal indem ich diese
Relevanz durch historische Beispiele nachweise und dokumentiere, aber da
befürchte ich, dass ich Eulen nach Athen tragen würde. Ich möchte
eher auf den Umstand eingehen, dass Pädagogik m. E. nach an „historischer
Bodenständigkeit“ verliert und dass dies letztlich in ihrer eigenen
Disziplingeschichte begründet ist.
Ich selbst konnte während meiner Tätigkeit am DIPF solch einen
Prozess der Zurückdrängung bildungshistorischen Wissens und gleichzeitige
Überlagerung durch empirische Bildungsforschung miterleben. Ich befürchte,
dies ist ein disziplinärer Trend; auch bestimmend ist für die derzeitige
Bildungsreformdiskussion. So erlebte es Heinz-Elmar Tenorth während
seiner Tätigkeit in Bildungskommissionen und berichtete auf der letzten
Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Bildungsverwaltung über
"Glanz und Elend der Politikberatung im Bildungswesen", dass Bildungsgeschichte
nur noch "Unterhaltungswert“ habe.
Die Ursache für den Verlust an historischer und außerdem philosophischer
Fundamentierung der Erziehungswissenschaft sehe ich in den historischen Entstehungszusammenhängen
der Disziplin selbst begründet. Das historische Beispiel Berlin bzw.
der Berliner Universität kann dafür als Beleg dienen:
Im Gründungsjahr der Berliner Universität im Jahre 1810 wurde
in Preußen das "examen pro facultate docendi" für Kandidaten des
Lehramtes an höheren Schulen nach Vorstellung Wilhelm von Humboldts
eingeführt. Es sollte die "Tauglichkeit der Subjekte für die verschiedenen
Arten und Grade des Unterrichts im Allgemeinen" prüfen - pädagogisch-didaktische
Kenntnisse werden nicht gefordert. Kam es im 19. Jh. auch noch nicht zur
Institutionalisierung eines pädagogischen Lehrstuhles, so wurden dennoch
pädagogische Vorlesungen gehalten - in der Regel von Philosophieprofessoren
wie Friedrich Paulsen oder Wilhelm Dilthey und früher schon von Friedrich
Daniel Ernst Schleiermacher, später von Eduard Spranger.
Außerdem kann der Ablauf der erstmaligen Institutionalisierung der
universitären Disziplin Pädagogik in Berlin meine Annahme stützen,
dass eine Pädagogik als eigenständige Wissenschaft von ihrem Ursprung
her nicht ausgereift war, was heißt, sie separierte sich, machte sich
selbständig ohne ein ausgereiftes kategoriales System zu haben. Dafür
steht auch Johann Wilhelm Himly: Er war Staatsbeamter, Geheimer Kriegsrat
und Zensor und derjenige, der kurz nach der Eröffnung der Universität
an der Philosophischen Fakultät die "venia docendi" für Pädagogik
beantragte und erhielt. Von diesem ist nicht eine Spur weder in der Disziplingeschichte
noch in der weiter gefassten Geschichte pädagogischen Denkens zu finden.
„Dabei muss er“, so beschreibt es ein Band zur Berliner Universitätsgeschichte
(auf den ich mich im Folgenden beziehe), „bei genauerem Hinsehen zu den ersten
gerechnet werden, die das Fach Pädagogik nicht aus der Theologie heraus
oder in der Kombination ‚Philosophie und Pädagogik’, sondern mit eigenständigem
Anspruch eines Redens über Erziehung vertraten.“ (H. Kemnitz, in: Pädagogik
unter den Linden 2000, S. 19) Himly war Anhänger von Pestalozzi und
was ihn auszeichnete, war, dass er jede Erziehungstheorie daran maß,
wie praktisch sie sei. Damit steht am Anfang der Verselbständigung der
Disziplin bereits das sie bis heute begleitende Dilemma: ein Theorie-Praxis-Missverständnis.
In diesem Zusammenhang ist auch aufschlussreich, dass noch nach der Gründung
der Pädagogischen Abteilung im Philosophischen Seminar 1913 unter F.J.
Schmidt bzw. des Pädagogischen Seminars unter Spranger pädagogische
Veranstaltungen von Angehörigen anderer Institute oder Seminare angeboten
wurden. Die Institutionalisierung war somit zuerst eine Sammlung und Fokussierung
philosophischer, philologischer und historischer Themen mit dem Ziel eine
bestimmte Berufsgruppe zu professionalisieren. Der Eindruck bleibt latent,
dass der Institutionalisierung eigener Lehrstühle und dem damit einhergehenden
notwendigen Abgrenzungs- und Legitimationsprozess geschuldet ist, dass die
Pädagogik bis heute als Wissenschaft in kategorialen und identifikatorischen
Schwierigkeiten steckt.
In jenem Abgrenzungsprozess, der sich im Bezug auf (soziale, politische,
ökonomische) Geschichte sowie ihre eigene vollzog, verlor m. E. nach
pädagogische Wissenschaft nicht nur ein historisches Bewusstseins ihres
Werdens (So erfindet man das Rad in Bildungsreformen gern immer wieder neu
z. B., wenn es um schülerzentriertes Lernen geht, um Ganzheitlichkeit
u. a. m. Derzeit erleben wir eine Renaissance der ‚Erziehung’, ‚entdecken’
neu die Notwendigkeit von Grenzensetzen), sondern insbesondere ihr kritisches
Profil und Potenzial, denn die Geschichte der Pädagogik lässt sich
auch als eine Kritikgeschichte schreiben. Schon immer wurde sie von benachbarten
Wissenschaften aber auch intern nach ihren wissenschaftlichen Kategorien
befragt, an ihre Verantwortung gemahnt, jedoch gleichzeitig in ihre Grenzen
verwiesen. Einer der vehementesten Kritiker war Siegfried Bernfeld. In seiner
1925 erschienenen Schrift „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ nennt
er unverblümt drei Hauptkritikpunkte:
Die Pädagogik, d. h. die pädagogische Wissenschaft bürdet
Erziehung eine nicht einzulösende Verantwortung auf,
sie beschreibt Ziele, die mit den Mitteln der erzieherischen Praxis nicht
erreichbar sind,
ihr fehlt die Verbindung zur Praxis.
Er suche vergeblich, so schreibt er, nach den Kriterien für Wissenschaft
und er bezweifele die Professionalität der Pädagogen, indem er
die Motive für die Berufsentscheidung in der eigenen verdrängten
triebwilden Kindheit zu entdecken meint:
„Unbewusste, erkenntnisfremde, unkontrollierbare Einmischung der Affekte
findet im Zentrum des pädagogischen Systems statt“. Er diffamiert nicht
das Anliegen und die außerordentliche Intuition großer Pädagogen.
Aber es sind ihm eben „Leistungen der Intuition“, die aus „dem Tiefen Unbewussten“
entspringen und sich wissenschaftlichen Kategorien bzw. Kriterien verschließen.
„Jede pädagogische Lehre – jede der Dichtungen über Erziehung
[…] macht eine Aussage über die Realität: Wenn Du meine Methode
befolgst, dann erreichst du, dass aus deinen Zöglingen wahr und wahrhaftig
jene Menschen werden, von denen als den Idealen oder Zielen ich eingangs
sprach. Und diese Behauptung, dieses Versprechen ist das wichtigste Stück
der ganzen Lehre, ohne es bestünde sie überhaupt nicht.“ (Bernfeld
1925, S. 32)
Sie werden sich im zweiten Teil meiner Ausführungen wieder an Bernfeld
erinnern.
Nun soll daraus nicht folgen, die Profession aufzugeben, ich müsste
ja grundsätzlich an meiner beruflichen Entscheidung verzweifeln. Vielmehr
regt eben diese Kritik an, über das Verhältnis von Theorie und
Praxis, außerdem die Rolle als Lehrender immer wieder zu reflektieren
und die Rolle, den Sinn und Zweck von Theorie zu stärken. Um noch einmal
Bernfeld zu zitieren: Die Theorie ins rechte Licht zu rücken, hieße,
zu begreifen, dass Pädagogik als Wissenschaft nur ihre Existenz legitimieren
kann, in dem sie zur „Rationalisierungsinstanz der gesellschaftlichen Prozesse,
die wir Erziehung nennen“ (Bernfeld 1925, S. 34), reift und sich auch so
darstellt.
Für die Zeit nach 1945 ist sicher Adorno zuerst zu nennen, geht es
um die Kritik der Pädagogik: Folgt man ihm, wäre Kritische Erziehungswissenschaft
die Methode gegen ein weit verbreitetes Bedürfnis (bereits schon der
Studierenden, wie ich in Seminaren immer wieder erfahren konnte) nach Sicherheit,
nach Strategien der An- und Einpassung an einen für bereits aus der
Studierenden-Perspektive einengenden und angstauslösenden Berufsalltag.
Erziehungswissenschaft muss dagegen Zumutungen setzen: Erziehung hätten
die Studierenden dann – „in diesem Augenblick des allgegenwärtigen Konformismus“
- zu begreifen als „Aufgabe, Widerstand zu kräftigen“, und eben nicht
„Anpassung zu verstärken“ Adorno 1971). Eine Aufgabe, die ihnen interkulturelle
Bildung und Erziehung im eigentlichen abverlangt.
Die Bernfeldsche Kritik kann durchaus als schmerzhaft empfunden werden
(Kritik wird gern auch abgewehrt, weil sie vermeintlich diskreditiert oder
Bedeutung schwächt); das sehe ich anders: Bernfeldsche „Schelte“ kann
ebenso gut als Entlastung empfunden werden, indem sie die der Pädagogik
gern aufgebürdete ‚Allmacht’, gar gesellschaftsverändernd zu wirken,
relativiert. Und – so verstehe ich es – Bernfeld setzt dagegen Bedeutungszuwachs:
Indem er den Erziehungsbegriff erweitert, ihn als „gesellschaftlichen Prozess“,
der auf eine Entwicklungstatsache, nämlich Kindheit reagiert, betrachtet,
gelänge es der Pädagogik, sich von der einengenden Bezugnahme auf
die (meist schulisch fokussierte) Praxis zu befreien.
Ich möchte diesen Teil schließen mit Wolfgang Brezinka: Er richtet
in seinem neuesten Buch „Erziehung und Pädagogik im Kulturwandel“ (2003)
die Kritik vor allem auf die Vermischung von zwei Theorietypen, die ihm das
Grundübel bei der Bestimmung und Legitimation der Disziplin zu sein
scheinen: die praktische Theorie der Erziehung und die wissenschaftliche
Theorie der Erziehung (Erziehungswissenschaft): „Dieses undifferenzierte
Gemisch mit vielen Philosophischen Zutaten wurde und wird von seinen Produzenten
seit Jahrzehnten als ‚Wissenschaftliche Pädagogik’ ausgegeben. Es ist
nach wissenschaftlichen Maßstäben chaotisch und nach praktischen
Maßstäben unbrauchbar, schädlich und überflüssig.“
(S. 181)
Um den Bezug zur interkulturellen Pädagogik nun herzustellen: Wolfgang
Nieke stellte noch 1995 fest, dass das, was mit interkultureller Erziehung
bezeichnet wird, innerhalb der pädagogischen Praxis und der erziehungswissenschaftlichen
Theorie einen noch nicht hinreichend geklärten Status hätte. Der
Begriff selbst umreiße jeweils einen Teilbereich aus Praxis und Theorie,
der als Gegenstand interkulturelle Pädagogik hat.
Die historische Perspektive kann uns die Ursachen dieser Vermischung bzw.
Selbstdefinitionsprobleme aufzeigen.
Es wäre noch genauer zu untersuchen, ob eine heute vorschnell eingenommene
ablehnend-negative Haltung gegenüber jenen, die auf Traditionen, alte
Werte und die Klassiker sich berufen, letztlich die Geschichtslosigkeit der
Pädagogik noch vorantreibt. Solche Einschätzungen diskreditieren
m. E. die Wissenschaft von der Erziehung insgesamt. Die „Macht der Traditionen“,
darin werden heute vor allem Hemmnisse und Grenzen von Schulentwicklung vermutet,
wird argwöhnisch beäugt. Als Bildungshistoriker muss man zu einem
anderen Schluss kommen, denn gerade in Umbruchzeiten fanden Menschen in Überlieferungen
Kraft und Mut und Legitimation für Veränderung. So auch die Losung
der Reformation und implizit Luthers: Ad Fontes: „Auf der Suche nach den
Quellen (der Kirchenväter, der Geschichtsschreibung wie Eusebius von
Caesarea oder der Juden wie Falvius Josephus, der griechischen Antike durchdrang
besonders die späten Jahrzehnte des 15. und Anfang des 16. Jh. eine
Begeisterung, die mitreißend und ansteckend wirkte) pflanzte sich das
Bewusstsein eines neuen Aufbruchs und einer allgemeinen Erneuerung durch
weiteste Teile Europas fort.“ (Steinmetz 1988, S. 28) Ein Schwung, den keine
noch so ausgeklügelte empirische Bildungsforschungsstudie bisher auszulösen
vermochte. „Die Grundströmung der Zeit war das überaus lebhafte
Verlangen, zu den Quellen der Bildung und des Wissens zu gelangen…“ (ebd.
S.27) Ad fontes!
Die hier angedeutete Relevanz der Besinnung auf die historischen Wurzeln
für das Selbstverständnis und Selbstwertgefühl der Disziplin
betrifft in gleichem, wenn nicht höherem Maße die interkulturelle
Pädagogik. Sie ist mit dem Erbe der allgemeinen Pädagogik belastet,
jedoch zusätzlich mit ihrer Herkunft: der Ausländerpädagogik.
Theorie-Praxis-Missverständnisse sind womöglich noch stärker
ausgeprägt, da sich die Teildisziplin ganz direkt aus praktischen (und
akut zu befriedigenden) Bildungsbedürfnissen entwickelte, der Anwesenheit
von Kindern nichtdeutscher kultureller und sprachlicher Herkunft in deutschen
Schulen. Nach meinem Verständnis von interkultureller bzw. antirassistischer
Pädagogik muss sie sich als kritischer Anteil an allgemeiner Erziehungswissenschaft
(fast zwangsläufig) definieren, weil sie eben jene Aspekte von Pädagogik
und pädagogischem Handeln thematisiert, die aktuelle gesellschaftliche
Prozesse von Migration, Integration und Ausgrenzung als Ursachen für
sowie in ihren Auswirkungen auf Bildungschancen (oder eben Beschränkungen)
für bestimmte Teile der Gesellschaft betreffen. Dabei kommt sie m. E.
nicht ohne historische Perspektive aus, die Entstehungszusammenhänge
von Rassismus und Unterdrückung und eben auch deren Tradierung durch
Bildung und Erziehung bis heute aufzeigen.
2. Vom Schulmanagement zur Lehrerbildung
Während meiner Tätigkeit am Zentrum für Fernstudien und
Universitäre Weiterbildung der Universität Kaiserslautern wurde
ich mit Fragen und Problemen der Schulentwicklung und – für meinen Zusammenhang
wichtiger – mit Theorieabstinenz und Reflexionsverweigerung konfrontiert.
Die meist langjährig im Beruf tätigen Lehrer traten den Dozenten
als Experten entgegen: ‚Sagt ihr uns nicht, was Schule ist und wie Unterricht
zu führen sei.’
Was hat dieser Befund aus der Lehrerweiterbildung in einem berufsbegleitenden
Fernstudiengang mit der Lehre und den ersten Lehrerfahrungen hier [an der
TU Berlin] zu tun. Gern und voreilig wird unterstellt, dass solche Haltungen
Ergebnis langjähriger Routinen seien, Abschleifungs- und Erschöpfungserscheinungen.
Meine Vermutung ist eine andere: Theoriemissverständnis und Reflexionsverweigerung
bzw. –unfähigkeit werden bereits in den Beruf mit eingebracht, bestimmen
womöglich die grundsätzliche „Verwertungsperspektive“ auf das Hochschulstudium.
In der Rückschau erkenne ich Argumentationsweisen der erfahrenen Lehrer
bei den Studierenden wieder: Manche Studierende wiederholen bereits eins
ums andere Mal ihre Vorstellungen, wie Unterricht sich abspielen soll, bei
manchen Diskussionen mit den Studenten spüre ich eine gewisse liebenswürdige
Arroganz: Vor mir sitzen die zukünftigen Experten; man weiß jetzt
schon – gespeist allerdings nur aus eigenen Schulerfahrungen und Alltagsverständnis
– um die wirklichen Probleme der antizipierten Berufspraxis, die Dozentin,
sie hat wohl nicht wirklich Ahnung von der Realität. Die antizipierten
interkulturellen Problemlagen scheinen dann fast übermächtig und
lassen manche Studierende schon vor Beginn ihrer Tätigkeit resignieren.
Dazu gesellt sich allzu oft „Reflexionsabstinenz“, der ein verkürztes
Theorie-Praxis-Verständnis zugrunde liegt, das u. a. in einer Überhöhung
der Praxiserfahrung seinen Ausdruck findet: „Auch heute noch werden LehramtsanwärterInnen
in der Praxis von Schule und Studienseminar immer mal wieder mit der Formel
‚begrüßt’, nun doch am besten alles zu vergessen, was auf der
Universität gelernt wurde; erst jetzt werde das eigentlich wichtige
Wissen vermittelt.“(Arnold 2003, S. 164)
Bender-Szymanski hat dazu im Jahr 2002 Ergebnisse einer Untersuchung bei
Referendaren vorgelegt, die belegen, dass für die Bewältigung interkultureller
Situationen im Unterricht entscheidend war, welche Deutungsmuster diese mitbrachten,
in wie weit ihre Bereitschaft und Fähigkeit ausgeprägt war, die
Situation zu prüfen und zu analysieren und gewohnte Sichtweisen und
Rollenzuweisungen zu hinterfragen. Diejenigen Referendare, die dazu nicht
bereit waren, keine Strategien dafür besaßen, neigten sehr schnell
zu resignativem Verhalten, sie zeigten sich änderungsresistent, zogen
sich auf die schlechten Rahmenbedingungen zurück bzw. betrachteten interkulturelle
Situationen oder gar Konflikte als störend, Schüler nichtdeutscher
Herkunft ausschließlich unter defizitären Aspekten. Ihr pädagogisches
Anliegen bestand darin, den Schülern die Notwendigkeit der Anpassung
an das dominante Normen- und Regelsystem verständlich zu machen. Die
eigenen Denk- und Handlungsmuster blieben davon unberührt.
„Ad fontes“ - würde hier bedeuten, nach den Ursachen solchen Verhaltens
zu fragen; und ich würde damit gern den Fokus – Bernfeld folgend − auf
die Persönlichkeit der Studierenden, d. h. der zukünftigen Lehrerinnen
und Lehrer lenken: War es im ersten Teil die Geschichte, wäre ihr biografischer
(d. h. in der Vergangenheit liegender) Hintergrund jetzt die Quelle, um dieses
Phänomen zu entschlüsseln. Damit wäre vermieden, sofort und
ausschließlich auf die Rahmenbedingungen und Strukturen für Defizite
in der Umsetzung interkultureller Erziehungskonzepte zu verweisen und dort
nach Ursachen zu suchen.
Die Person des zukünftig Lehrenden gerät in den Blick. Um darzulegen,
dass dies genauso notwendig ist wie der Blick in die Geschichte, um interkulturelle
Bildung und Erziehung zu gestalten, möchte ich im Folgenden erwachsenenpädagogisch
argumentieren. (Dies sozusagen des Erbe, das ich aus Kaiserslautern mitbringe.)
In der Kompetenzdebatte hat sich in den letzten Jahren die Überzeugung
durchgesetzt, dass für eine erfolgreiche „Nachreifung“ in der Weiterbildung
– und ich weite dies ausdrücklich auf die höhere, die universitäre
Bildung aus (immerhin die Reifeprüfung haben die Studierenden ja schon
abgelegt) - früh grundgelegte Emotionsmuster des Einzelnen transformiert
werden müssen, soll Kompetenzentwicklung und -zuwachs gelingen (vgl.
auch Bernfeld). Dies rückt die „Emotionale Intelligenz“ in den Mittelpunkt
der Überlegungen und trägt der Erkenntnis Rechnung, dass Gefühle
unseren Verstand wesentlich prägen. Die Frage, ob und inwieweit jemand
in der Lage ist, Bekanntes los zu lassen, Neues zu konstruieren und zu gestalten
– und dies betrifft ja direkt die interkulturelle Kompetenz - , hat demnach
mehr mit seinen grundlegenden emotionalen Mustern zu tun als mit „irgendwelchen“
kognitiven Wissensbeständen oder Kompetenzen.
In diesem Kontext käme es darauf an, dass sich zukünftige Lehrkräfte
Veränderungskompetenzen aneignen, denn die Anstöße zur derzeit
geforderten und beförderten Veränderung von Schule können
nur von innen wirksam werden. Veränderungskompetenz wird verstanden
als die Fähigkeit, Wandel zu gestalten und Krisen zu überwinden,
setzt somit grundlegende emotionale Fähigkeiten zum Umgang mit Angst
(vor Neuem etc.) voraus. Viele Menschen sind durch die Angst vor Veränderung
geradezu gelähmt, mindestens doch behindert in ihrer Gestaltungskraft,
sie antizipieren vorschnell Probleme und Konflikte, sie suchen Sicherheit
in Routinen. Sie folgen Emotionsmustern, die sie sich früh z. B. durch
Bedrohungserfahrungen angeeignet und etabliert haben – und zwar bevor sie
an die Universität kommen (womöglich werden diese noch verstärkt
an der Universität). Diese gilt es im Rahmen tiefgreifender transformativer
Lernprozesse bewusst werden zu lassen, um aus ihren lähmenden Wirkungen
aussteigen zu können (vgl. Arnold 2003).
Dazu kommt, dass die später in der Berufspraxis erlebte und tradierte
systemische „Gefangenschaft“ durch ein spezifisches Theorie-Praxis-Verständnis
begründet ist: Handlungsmuster und -routinen, die sich „bewährt“
haben, werden zu einem theoretischen Konstrukt zur Begründung und zur
Legitimierung des eigenen Praxishandelns errichtet und gespeichert. Das Ganze
wird zusätzlich kompliziert dadurch, dass in diesem Konstrukt eine beabsichtigte
Wirkung implementiert ist, dass den Handlungsroutinen bestimmte Wirkungen
– und zwar als Kausalzusammenhang – zugemutet werden. Hinterfragt wird dies
kaum (vgl. wieder Bernfeld). Dem wäre eine „systemische Gestaltungsprofessionalität“
entgegenzusetzen, die davon auszugehen hätte, dass das Handeln des Einzelnen
in einem System Teil eines komplexen Gefüges von Wechselwirkung ist;
die Wirkung jenes Handelns kann kaum im Voraus berechnet werden. „Zwischen
den Absichten, die wir mit unserem Handeln verbinden, und ihren Wirkungen
innerhalb sozialer Systeme besteht ein großer Unterschied“. (Simon
1999, S. 9)
Vielleicht wirkt dies ein wenig eklektizistisch, wenn ich hier wieder Platon
bemühe: Dieser schlug sich schon mit dem Wirkungsproblem herum: „Wir
müssen daher, so hierüber denken, dass die Unterweisung nicht das
sei, wofür einige sich vermessen sie auszugeben. Nämlich sie behaupten,
wenn keine Erkenntnis in der Seele sei, könnten sie sie ihr einsetzen,
wie wenn sie blinden Augen ein Gesicht einsetzten“. Vielmehr ist es „die
Kunst der Umlenkung, nicht die Kunst ihm das Sehen erst einzubilden, sondern
als ob es dies schon habe und nur nicht recht gestellt sei und nicht sehe,
wohin es solle, ihm dieses zu erleichtern.“ (Platon 1999)
Das bedeutet jedoch nicht, dass der Einzelne, schon gar nicht ein Lehrer,
in Resignation verfallen müsste gegenüber diesen komplexen und
weitgehend unberechenbaren Wirkungsweisen. Für die Konzeption von Weiterbildungsangeboten
und speziell dem Fernstudiengang „Schulmanagement“ kam es vielmehr darauf
an, eine in diesem Sinne veränderte Herangehensweise zu konzeptionalisieren,
d. h. Kompetenzen, die es erlauben, diese Komplexität und Widersprüchlichkeit
aufzudecken, wurden thematisiert. Denn: Nur, wer sich der Relativität
des eigenen Wirklichkeitskonzeptes und der Wirkungen des Handelns bewusst
wird, hat die Möglichkeit, dieses zu verändern und andere Deutungen
sowie Handlungsmuster – zunächst „probeweise“, dann als neue vorläufige
Deutungs- und Handlungsroutine nutzend – zu entwickeln. Der Erfolg gab dem
Konzept Recht und sollte auch anregen, solche Überlegungen in die Lehrererstausbildung
zu implementieren.
Zentrales Anliegen wäre dann, in der Ausbildung die „emotionalen Grundmuster“
einer Person, auf der ihre bevorzugten kognitiven Weisen der Welterkenntnis
gewissermaßen aufruhen, anzusprechen. Denn in diesem – vornehmlich
angstbesetzten - Bereich gilt es, Veränderungskompetenz zu verwurzeln.
Durch die Erkenntnis, dass Machbarkeit und Beherrschbarkeit eine Illusion
ist, kann Angst abgebaut und können Potenziale für Veränderung
frei werden. Der Einzelne „lernt“, die eigene Steuerungsleistung zu relativieren
und Wirkungsunsicherheit auszuhalten. Anzustreben wäre pädagogische
Gelassenheit.
3. Schlussfolgerungen
Mein aus der berufsbiografischen Erfahrung und Deutung dieser Erfahrungen
erwachsener spezifischer Anspruch an interkulturelle Bildung und Erziehung
in Forschung und Lehre muss demnach auf einer historisch basierten, kritisch-reflexiven
Pädagogik ruhen.
Das Anliegen meiner Überlegungen besteht vor allem darin, Diskurs
anzuregen. Deshalb plädiere ich zusammenfassend für drei grundlegende
Veränderungen im Verständnis, im Umgang und vor allem in der „Vermittlung“
pädagogischen Wissens auch und insbesondere im interkulturellen Bereich.
1. Historische Perspektiverweiterung
Horst Fuhrmann hat vor einiger Zeit ein Buch geschrieben „Überall
ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit“ (München
1996). Erst die historische Analyse z. B. solcher Themen wie Vorurteile,
Stereotypen und Feindbilder, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit weitet den
Blick dafür, wie tief unsere kulturellen Deutungsmuster – z. B. von
rassistischen Denkmustern durchdrungen und damit auch unsere Vorstellungen
von Mensch, Gesellschaft, Natur usw. von diesen Phänomenen geprägt
sind. Von der Rasselehre des Nationalsozialismus lässt sich schnell
positiv abgrenzen, wie steht es jedoch mit den positiv besetzten Kulturtraditionen
– Aufklärung und Philosophie z. B., in die eben auch rassische Vorurteile
implementiert sind: „Der Neger stellt, wie schon gesagt worden ist, den natürlichen
Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar; von aller Ehrfurcht
und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muss man abstrahieren,
wenn man ihn richtig auffassen will: es ist nichts an das Menschliche Anklingende
in diesem Charakter zu finden“, schreibt Hegel im 18. Jahrhundert., immerhin
ein geachtetes Beispiel deutscher Philosophiegeschichte.
2. Belebung des kritischen, historisch gewachsenen Potenzials
Ich möchte mich hier nochmals auf Adorno (1971), seine Ausführungen
im Gespräch mit Becker zur „Erziehung zur Entbarbarisierung“ beziehen.
Vom Grund her wird Erziehung – und hier ist interkulturelle Pädagogik
direkt angesprochen – im Zusammenhang mit dem Kulturbegriff problematisiert
(vorher führte er schon Gedanken über das „Unbehagen in der Kultur“
bezogen auf Freud aus, S. 90). Bereits in dem Begriff der angeblich „kultivierenden
Erziehung“, entdeckt er jedoch „barbarische Elemente“: „Ich glaube“, so Adorno
weiter, „dass gerade diese repressiven Momente der Kultur in den der Kultur
Ausgelieferten die Barbarei produzieren und reproduzieren.“ (S. 122) „Mir
scheint, dass […] es einen objektiven Grund der Barbarei gibt, den ich ganz
einfach bezeichnen möchte als Scheitern der Kultur. Die Kultur, die
ihrem eigenen Wesen nach den Menschen alles Mögliche verspricht, hat
dieses Versprechen gebrochen. Sie hat die Menschen geteilt.“ (S. 128) Dieses
muss aufklärend den Menschen zu Bewusstsein gebracht werden. (S. 129)
Und wenn ich eine kritische Perspektive anstrebe, dann ist auch der Verweis
auf die materialistische Kritik nicht von vornherein auszuschließen:
Sie betrachtet die ausschließliche, jedoch verschleierte Funktion von
Erziehung zur „gelungenen Anpassung des Menschen an die gesellschaftlichen
Erfordernisse“ unter kapitalistischen Verhältnissen als Instrument der
Unterwerfung (Wie z. B. in: „Erziehung im Kapitalismus“ von Freerk Huisken
(1998) nachzulesen ist, der sich im Übrigen auch mit Rassismus und Ausländerfeindlichkeit
befasst hat.).
Für Kritik an interkultureller Pädagogik bedeutet dies eben auch
aufzuzeigen, dass sie und wo sie durch die Art und Weise der Fokussierung
von Multikulturalität gerade festschreibt, was sie zu problematisieren
angetreten ist. Durch die Verwendung des Begriffs Kultur setzt sich interkulturelle
Bildung bzw. Interkulturelle Kompetenzentwicklung der Kritik aus, „sich eines
Konzeptes zu bedienen, das als Grenzmarkierung gesellschaftlicher Inklusions-
und Exklusionsverfahren gekennzeichnet wird, das den Menschen auf seine Zugehörigkeit
zu ethnischen Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaften festlege, als kollektive
‚Kerker’ das Individuum seines Anspruchs auf Autonomie beraube und rassistische
und ethno-nationalistische Ausgrenzungsstrategien im neuen Gewande fortschreibe.“
(Bender-Szymanski 2002, S. 153)
Pädagogik hätte in diesem Spannungsfeld von Kulturalisierung
und der Kritik an den gesellschaftlichen und strukturellen Verhältnissen
die komplexen Wechselwirkungen zwischen struktureller Diskriminierung und
der persönlichen Verantwortung bzw. Gestaltungsmöglichkeit zu thematisieren
und auch Wirkmöglichkeiten aufzuzeigen. Ich plädiere für eine
kritisch orientierte Erziehungswissenschaft. Um noch einmal Adorno zu zitieren:
„Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion.“
(Adorno 1971, S. 90) In diesem kritischen Anspruch sollten sich Teildisziplinen
nicht weiter separieren und von einander abgrenzen, sondern integrativ interdisziplinär
arbeiten. Wenn ich Nieke folge, dann bedarf es im eigentlichen (bei aller
Vorsicht) keiner eigenständigen interkulturellen Pädagogik, sondern
ich verstehe interkulturelle Erziehung eher innerhalb einer kritischen Pädagogik
als regulatives Prinzip, ob und inwieweit erziehungswissenschaftliche Theorien
und pädagogische Konzeptionen der dauerhaft zu akzeptierenden multikulturellen
Gesellschaft, den daraus erwachsenden gesellschaftlichen An- und Widersprüchen
gerecht werden. Und sie sollte die Ausweitung der Perspektive von einem eher
schulpädagogisch gelenkten Blick auf die gesellschaftliche Komplexität
der Themen und Problematiken unterstützen.
3. Perspektivwechsel: „Blick zurück in die eigene Biografie“
Die Frage der Professionalität, des eigenen Rollenbildes bewegt die
Studierenden heftig. Es steht außer Frage, dass ich ihnen im Sinne
der Professionalisierung u. v. a. Wissenselementen eine wissenschaftlich
begründete und handhabbare Rassismusdefinition mit geben muss, wichtiger
scheint jedoch die Anregung selbstreflexiven Potenzials. Lassen Sie mich
noch einmal einen erwachsenenpädagogischen Bezug herstellen: Ich beziehe
mich dabei auf Arnold und votiere dafür, dass der Studierende mit seinen
gerade in interkulturellen Fragestellungen undifferenzierten Deutungsmustern
stärker in den Blickpunkt des Interesse des Lehrenden und seines eigenen
vor allem rückt. Ich als Dozentin kann mich leicht auf meine fachliche
Kompetenz zurückziehen, in dem ich beispielsweise die Ergebnisse neuer
Forschungen referiere und damit vermeintlich falsche Deutungsmuster durch
die Überzeugungskraft des Wissens verändere. Es ist fraglich, ob
dadurch langjährig und erfolgreich verwendete Strategien entkräftet
und dazu noch Veränderung angeregt werden können. Um tatsächlich
zu einem erweiterten Verständnis der eigenen Deutungen und deren Bedeutungen
für das Rollenverständnis im späteren Beruf zu kommen, scheint
es jedoch bedeutungsvoller, „sich auch stärker auf die Lebenssituation
der Teilnehmer ein(zu)stellen, deren Deutungsmuster als Ausdruck und Ergebnis“
ihrer Biografie zu verstehen und zum „eigentlichen Ausgangspunkt und Inhalt
des Bildungsprozesses zu machen“ (Arnold 2001, S.168 ff.) Insofern wird
die eigene Biografie als „Lerngeschichte“ sichtbar. Im Interkulturellen Bereich
bedeutet das: Weniger den Blick auf das Fremde zu richten, als vielmehr auf
die eigene kulturell geprägte, im Sozialisations- und Erziehungsprozess
angeeignete „Gefangenschaft“ zu entschlüsseln.
Es gäbe noch andere Schlussfolgerungen zu formulieren, u. a. was veränderte
Formen der universitären Lehre betrifft. Es wäre nachzudenken über
stärker kollegiale, d. h. teamorientierte Arbeit unter Dozenten, fachübergreifend
und systematisch. Das würde bedeuten, authentischer für die spätere
Tätigkeit in den Schulen im Bereich Schulentwicklung notwendige Arbeitsformen
bereits an der Universität zu erproben; in meinem Verständnis ein
sinnvoller und universitär zu vertretender „Praxisbezug“, wie er so
gern angemahnt wird.
Ein Blick noch ein letztes Mal zurück in die Geschichte macht deutlich,
dass Universitäten eben auch von ihren Anfängen her von Kritik
begleitet waren: So äußerte Martin Luther - einer Überlieferung
in den Tischreden zufolge: „Die hohen Schulen wären wert, dass man sie
alle zu Pulver machte; nichts Höllischer und Teuflischer ist auf Erden
kommen von Anbeginn der Welt.“
Literatur
Adorno, Th. W.: Erziehung zur Mündigkeit, Berlin 1971
Arnold, R.: Erwachsenenbildung. Eine Einführung in Grundlagen, Probleme
und Perspektiven, Baltmannsweiler 2001
Arnold, R.: „Nun vergesst mal schön, was Ihr auf der Universität
gelernt habt!“ Plädoyer für das vernetzte Zusammenwirken unterschiedlicher
Wissensformen in der Lehrerbildung, in: PÄDForum 3/2003, S. 164-167
Arnold, R.: Emotionale Kompetenz und emotionales Lernen in der Erwachsenenbildung,
Kaiserslautern 2003
Bender-Szymanski, D., Interkulturelle Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern
aus der Sicht der empirischen Bildungsforschung, in: Auernheimer, G. (Hrsg.),
Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität, Opladen
2002, S. 153-182
Bernfeld, S.: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Leipzig 1925
Brezinka, W.: Erziehung und Pädagogik im Kulturwandel, München
Basel 2003
Huisken, F.: Erziehung im Kapitalismus. Von den Grundlügen der Pädagogik
und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten, Hamburg
1998
Kemnitz, H.: Johann Friedrich Wilhelm Himly. Ein Pestalozzianer als erster
Privatdozent für Pädagogik an der Berliner Universität, in:
Klaus Peter Horn/Heidemarie Kemnitz (Hrsg.): Pädagogik Unter den Linden.
Von der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 bis zum
Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002
Oelkers, J.: Einführung in die Theorie der Erziehung, Weinheim und
Basel 2001
Platon: Das Höhlengleichnis. Ausgewählt und kommentiert von R.
Winkel, in: Pädagogisches Forum 1/1999, S. 26-48
Simon, F. B., Die Kunst, nicht zu lernen und andere Paradoxien in Psychotherapie,
Management und Politik, Heidelberg 1999
Steinmetz, Max: Thomas Müntzers Weg nach Allstedt. Eine Studie zu seiner
Frühentwicklung, Berlin 1988
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