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Die drei Preußischen Regulative "Über die Einrichtung
des evangelischen
Seminar-, Präparanden- und Elementarschulunterrichts" aus dem Jahr
1854
galten lange Zeit als der Inbegriff reaktionärer Bildungspolitik.
Mit ihrer
"Festschreibung der Volksbildung auf ein traditionales und religiös
fundiertes Konzept, das mit dem definierten Bildungsminimum klare Zeichen
einer Bildungsbegrenzung setzte" (so die Tagungseinladung), erschienen
sie Zeitgenossen wie (Bildungs-)Historikern als Antwort der Herrschenden
auf die revolutionären Bestrebungen der Jahre 1848/49. Erst modernisierungstheoretisch
inspirierte Studien der jüngeren Zeit haben an
dieser Deutung Zweifel angemeldet und darauf verwiesen, dass die Regulative
der Realität vor allem des ländlichen Schulwesens der Zeit deutlich
vorangeeilt seien und als erste gesamtstaatliche Normierung von Volksschule
und Lehrerbildung die Professionalisierung des Lehrerstands vorangetrieben
hätten. Alte Gewissheiten waren damit in Frage gestellt und Möglichkeiten
zu einer differenzierteren Betrachtung eröffnet, die seither allerdings
kaum genutzt worden sind. Gemeinsam mit der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche
Forschung in Berlin nahm die Sektion Historische Bildungsforschung in der
DGfE die 150. Wiederkehr des Erlasses der Regulative nun zum Anlass, der einschlägigen
Forschung durch eine Tagung neue Impulse zu verleihen.
Heidemarie Kemnitz (Braunschweig) nahm in ihrem Eröffnungsvortrag
den Faden der Diskussion auf, indem sie die Regulative im Kontext der
1848er-Revolution wie längerfristiger bildungshistorischer Entwicklungen
zu
verorten suchte. In Anknüpfung an die jüngeren Forschungsarbeiten
vermochte auch sie den Regulativen dabei keinen eindeutigen - sei es reaktionären,
sei es progressiven - Sinn abzugewinnen. Statt dessen stützte sie die
These von deren ambivalentem Charakter durch den Hinweis, dass im Gegensatz
zu den auch zeitgenössisch heftig kritisierten Beschränkungen bei
den Unterrichtsinhalten die Vorgaben in methodischer Hinsicht sowohl für
die Lehrerbildung wie für den Unterricht selbst auf allgemeine Zustimmung
gestoßen seien. Die Maxime, dass der Unterricht vor allem anschaulich
sein und zu klarem Denken und Sprechen erziehen müsse, war, wie Kemnitz
meinte, ebenso unumstritten wie der Grundsatz, dass es in der Lehrerbildung
in erster Linie auf die Vermittlung praktischer Lehrfähigkeit, nicht
aber breiten Wissens oder gar wissenschaftlichen Denkens ankomme. Die Tatsache,
dass in diesen Punkten auch die "Allgemeinen Bestimmungen" kaum Änderungen
brachten, die im Jahre 1872 die Regulative unter liberalen Vorzeichen ablösten,
ließ die Vortragende nach Kontinuitäten zumindest in diesem Bereich
und nach deren Bedeutung sowohl für die Einschätzung der Regulative
wie für die Periodisierung der bildungsgeschichtlichen Entwicklung insgesamt
fragen.
Der Rahmen für die Behandlung des Themas war damit abgesteckt, und
gerade die Frage nach der grundsätzlichen Bewertung und bildungshistorischen
Einordnung der Regulative wurde denn auch in fast allen Vorträgen aufgegriffen.
Bei aller Anerkennung "fortschrittlicher" Tendenzen in schulpraktischer Hinsicht
dominierte hierbei allerdings eine kritische Einschätzung, die letzten
Endes auf eine Bestätigung des früher
vorherrschenden Urteils hinauslief. So stellte Gert Geißler (Berlin)
in
seinem - dem Autor der Regulative, Ferdinand Stiehl, gewidmeten - Vortrag
die den Regulativen in der jüngeren Forschung zugeschriebenen positiven
Wirkungen bezüglich der Schulverhältnisse wie der Qualität
des Lehrpersonals in Zweifel und suchte mit Hinweis auf die Entwicklung in
den
nordeuropäischen Ländern zu belegen, dass bei liberalerem schulpolitischen
Kurs in beiderlei Hinsicht bessere Resultate zu erzielen waren. Seine
Ausführungen ließen implizit allerdings auch die Probleme erkennbar
werden, denen sich jede Wirkungsanalyse bei solch komplexen Zusammenhängen
gegenüber sieht.
Sylvia Schütze (Hannover) rekonstruierte anschließend auf breiter
Quellenbasis die Kontroverse zwischen Ferdinand Stiehl und seinem schärfsten
Widersacher Adolph Diesterweg. Ihr Bemühen galt dabei dem Nachweis, dass
die Positionen der beiden Gegenspieler in der Tat, wie von ihnen selbst behauptet,
unvereinbar gewesen seien. Mochten ihre schulpraktischen Forderungen auch
Ähnlichkeit aufweisen, so waren sie nach Schützes Auffassung doch
jeweils in unterschiedliche Konzeptionen mit unterschiedlichen Menschenbildern
und unterschiedlichen Bildungszielen eingebettet, die es bei der Interpretation
zu berücksichtigen galt. Sie widersprach damit zugleich allen Versuchen,
"Progessives" im "Reaktionären" zu entdecken, und beharrte auf einer
einheitlichen Deutung.
Eine vergleichbare Position vertrat Hans Jürgen Apel (Bayreuth) in
seinem
Vortrag über das Normativ zur Volksschullehrerbildung aus dem Jahr
1857 -
bayerisches Pendant zu den Preußischen Regulativen und diesen in
vieler
Beziehung ähnlich. So wollte Apel den bayerischen Bestimmungen zwar
eine gewisse Ambivalenz nicht absprechen, sah jedoch letztlich die
"professionsförderlichen" Ansätze, vor allem das Bemühen
um Verbesserung der methodischen Qualität des Unterrichts, das auch hier
zu erkennen ist, durch Bestrebungen zur Bildungsbegrenzung, zu dogmatischer
Fixierung und zur Überwachung der angehenden Lehrer ins Gegenteil verkehrt,
so dass sich das Normativ für ihn am Ende im Kräftefeld zwischen
"konservativ-reaktionären und aufgeklärten Richtungen" doch eindeutig
verorten ließ.
Weniger von historischem als von systematischem Interesse geleitet
beschäftigte sich Klaus-Peter Horn (Berlin) im folgenden Vortrag mit
dem den Regulativen innewohnenden Konzept der Vermittlung von Theorie und
Praxis in der Lehrerbildung. Dabei wies er nach, dass Theorie in den Regulativen
als Handlungswissen und Praxis technokratisch als dessen Anwendung begriffen
wird. Hinter der bis heute immer wieder erhobenen Forderung nach stärkerer
Praxisorientierung der Lehrerbildung vermutete Horn nun ein ähnlich kurzschlüssiges,
Reflexion und Wissenschaft ausschließendes Verständnis des Theorie-Praxis-Bezugs,
dem von Seiten der Universität, will sie Stätte der Lehrerbildung
bleiben, seiner Auffassung nach nicht durch "faule Kompromisse" im Stile
der Schulpraktika, sondern nur durch strikte Trennung zwischen wissenschaftlicher
und praktischer Ausbildung begegnet werden könne.
Marcelo Caruso (Berlin) blieb es vorbehalten, in seinem Schlussvortrag
den
Bogen zur Einführung zu schlagen, indem er sich noch einmal explizit
- nun
aber unter diskursanalytischen Vorzeichen - mit den historiographischen
Deutungen der "Stiehlschen" Regulative beschäftigte. Dabei meinte
er
deutliche Unterschiede zwischen Bildungsgeschichtsschreibung und allgemeiner
Historiographie entdecken zu können: Habe sich in ersterer unter Dominanz
des strukturgeschichtlichen Ansatzes das Deutungsmuster der "Ambivalenz" und
der Topos des "Spannungsfelds" ("zwischen Modernisierung und Disziplinierung")
durchgesetzt, so habe letztere die politische Seite stärker im Blick
behalten und gelange daher zu eindeutigeren Zuschreibungen. Dies gelte in
noch stärkerem Maße für die nordamerikanischen Historiker,
die in den Regulativen nach wie vor "das Herzstück der preußischen
Reaktion" sähen. Offenkundig liege den amerikanischen Betrachtern, so
resümierte Caruso in kühnem Versuch einer sozialhistorischen Vertiefung
dieses diskursanalytischen Befunds, angesichts der dort vorherrschenden egalitären
Grundeinstellung ein solches Deutungsmuster besonders nahe.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es der Tagung gelungen ist,
den Stand der Diskussion noch einmal prägnant vor Augen zu führen
und zugleich die Wege deutlich werden zu lassen, auf denen sich bildungshistorische
Forschung weiter zu bewegen hätte. Sinnvoll und notwendig wären
demnach nicht nur - trotz der erwähnten Probleme - weitere Analysen zur
Wirkung der Regulative auf die Entwicklung des Elementarschulwesens und der
Volksschullehrerbildung; sinnvoll und notwendig wäre vor allem eine genauere
Unterscheidung der verschiedenen Analyseebenen - Bildungspolitik, Bildungsverwaltung,
Bildungstheorie, Bildungseinrichtungen, Didaktik, Methodik u.a. -, um so
zu einer präziseren Bestimmung der jeweiligen Entwicklungen und der
- wohl doch nur als "spannungsvoll" vorstellbaren - Beziehungen zwischen ihnen
zu gelangen. Auf diesem Wege ließe sich auch eher die - weit über
die Einordnung der Stiehlschen Regulative hinaus bedeutsame - Frage beantworten,
ob, was politisch als "reaktionär" erscheint, notwendig auch pädagogisch
einen Rückschritt markiert.
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