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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Prange, Klaus
Rezensiertes Werk: Sozialpädagogik - eine deviante Karriere. Rezension zu Reyer, Jürgen: Kleine Geschichte der Sozialpädagogik: Individuum und Gemeinschaft in der Pädagogik der Moderne. Baltmannsweiler: Schneider Verl. Hohengehren, 2002. - 336 S. (Grundlagen der sozialen Arbeit; 6); ISBN 3-89676-432-2
Erscheinungsjahr: 2002
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Prof. Dr. Klaus Prange
Universität Tübingen, Institut für Erziehungswissenschaft, 
Münzgasse 22-30
72070 Tübingen

Text der Rezension:
 

Für den gegenwärtigen Zustand dessen, was im akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb unter dem Titel "Sozialpädagogik" firmiert, scheint sich in vielen Fällen eine Variation der bekannten Definition von Gertrud Bäumer aus dem von Nohl und Pallat herausgegebenen "Handbuch der Pädagogik" (Bd. 5, 1929, S. 3) anzubieten: sie umfasst alles, was irgendwie "sozial" ist und nicht Pädagogik. Das mag überscharf erscheinen, aber die jetzt von Jürgen Reyer vorgelegte "Kleine Geschichte der Sozialpädagogik" versucht dafür den Nachweis zu liefern: Die ursprüngliche Thematik einer sozial fundierten Pädagogik, wie sie im 19. Jahrhundert als Antwort auf die Modernisierungskrise und im Gegenzug zur vorherrschenden Persönlichkeits- und Individualpädagogik entstanden ist, sei preisgegeben und durch die "Objektbereiche der Kinder-, Jugend- und Familienfürsorge" (S. 4) ersetzt worden. Was noch unter dem Titel der Sozialpädagogik erscheint, setze vielmehr die ältere Fürsorgewissenschaft fort und präsentiere sich als pädagogisch entsorgte Sozialarbeit. Die Neubearbeitung des von H.-U. Otto und H. Thiersch herausgegebenen "Handbuchs der Sozialarbeit/Sozialpädagogik" (Neuwied 2001) bestätige endgültig die vollzogene Dekomposition der Sozialpädagogik und ihre Verwandlung in Sozialarbeit, so Reyer in seinem "Nachruf" auf die Sozialpädagogik (Z.f.Päd., 2002, Heft 3, S. 398-413).

Eine deviante Karriere also, deren Ursprung, Umbruch und Ergebnis Reyer in der "kleinen Geschichte" in drei großen Abschnitten nachzeichnet. Der erste Abschnitt befasst sich mit der "Entstehung des sozialpädagogischen Problems im Übergang zur Moderne" (S. 13-98), der zweite mit dem "sozialpädagogischen Reform- und Theorieverbund zur Modernisierung der Pädagogik - ca. 1880 bis 1933" (S. 99-244), und der letzte Abschnitt beschreibt "Siechtum, Tod und Wiederkehr des Verdrängten" (S. 246-273). Nach Anlage und Intention ist das durchaus nicht nur eine "kleine", sondern eher eine großformatige Geschichte, und auch nicht nur eines Teilbereichs der Erziehung, sondern ihres zentralen Themas, nämlich des problematisierten Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft bzw. Gesellschaft. Sozialpädagogik, so Reyer, hat "es mit dem pädagogisch vermittelten Verhältnis zwischen dem freien, selbsttätigen Individuum, in neuer Terminologie: mit dem sich selbst entwerfenden Subjekt, und den überindividuellen Sozial- und Gemeinschaftsformen zu tun" (S. 4f.). Problematisch ist dieses Verhältnis historisch in dem Augenblick geworden, als der "praktische Zirkel von Sitte und Handeln" zerbrochen sei, wie Reyer im Anschluss an D. Benner sagt (S. 7), mit der Folge, dass das Erziehen ausdrücklich thematisiert und damit theoriebedürftig geworden sei. Pädagogik ist gleichermaßen Folge und Antrieb des Modernisierungsprozesses, und eine ihrer Varianten ist Sozialpädagogik als Versuch, das Erziehungsproblem über ein ausgearbeitetes Verständnis von Staat, Gesellschaft und/oder Gemeinschaft zu traktieren.

Dieses "Begriffsverständnis" der Sozialpädagogik (S. 4) bildet den Leitfaden für die Rekonstruktion ihrer Geschichte. Im ersten Abschnitt begegnen die vertrauten Namen der pädagogischen Historiographie und werden vor dem sozialgeschichtlichen Hintergrund nach ihrem Beitrag für die so verstandene Sozialpädagogik gewürdigt. Zunehmend wird deutlich: recht verstandene Pädagogik ist Sozialpädagogik; fragt sich nur: was ist eine recht verstandene Sozialpädagogik? Diese Frage verschärft sich in dem Maße, wie der sozialstrukturelle Differenzierungsprozess voranschreitet und die Pädagogik sich genötigt sieht, ihrerseits differenzierter darauf zu antworten. Das wird im zweiten und umfangreichsten Abschnitt vorgeführt. Aus reicher Detailkenntnis werden die sozialpädagogischen Reflexe nachgezeichnet, die sich gleichermaßen in den "Bewegungspädagogiken" (damit sind die reformpädagogischen Aspirationen gemeint) und in schulreformerischen Aktivitäten finden wie in den neuen Disziplinen der "Milieukunde, der pädagogischen Soziologie, der pädagogischen Psychologie und der völkischen Pädagogik" (S. 188 ff.). Reyer konstatiert einen "sozialpädagogischen Theorieverbund" (S. 137 ff.), dem einerseits explizit sozialpädagogische Selbstbestimmungen der Gesamtpädagogik entsprechen (z.B. bei Paul Natorp) und der sich andererseits auf Ausdifferenzierungen im Wissenschaftssystem stützen kann, nämlich Fachgebiete und Themenrichtungen wie "Evolutionismus, Völkerpsychologie und Sozialpsychologie als Grundlage der Sozialpädagogik" (S. 158 ff.).

Dies alles wird nicht nur narrativ vergegenwärtigt, sondern mit positiven und negativen Akzentsetzungen kritisch begleitet, um auf die aktuelle Pointe dieser Geschichte zuzusteuern. Das findet sich im dritten Abschnitt: In dem Maße wie sich die Bezüge und Aktionsfelder des sozialpädagogischen Interesses erweiterten, ist die Hauptfrage nach dem pädagogischen Verhältnis von Individuum und Sozialität aus dem Blick geraten. Reyer kennt die Schuldigen: es sind die Adepten und Enkelschüler Herman Nohls, denen diese Fehlentwicklung anzukreiden ist. Schon das repräsentative "Handbuch der Pädagogik" hatte offenbart, dass die sozialpädagogische Thematik (im Sinne Reyers) nicht mehr theoriegeleitet artikuliert, sondern dem damals aktuellen sozialpolitischen und bald dem nationalpolitischen Interesse geopfert worden sei: Mit der Auflösung und Fragmentierung des von Reyer unterstellten sozialpädagogischen Theorieverbunds erscheint unter dem Titel der Sozialpädagogik nur noch etwas sehr Reduziertes, was ebenso gut auch Sozialpolitik und Fürsorgewissenschaft heißen könnte.

Das Merkwürdige ist nun, dass nach dem Krieg gerade die Liquidatoren des alten und richtigen "Theorieverbunds" zu Initiatoren der neuen Nachkriegssozialpädagogik geworden sind. In der quasi offiziösen Selbstbeschreibung der Sozialpädagogik, die Klaus Mollenhauer geliefert hat, kehrt diese Doppelung von Fragmentierung und Reduktion wieder und prägt das vorherrschende Bild, die moderne Sozialpädagogik habe ihren Ausgang aus der Reformpädagogik geisteswissenschaftlicher Provenienz genommen. Das Gegenteil ist richtig, so Reyer. Die Nohlschule trägt die Verantwortung für den breiten Strom einer entgrenzten und pädagogisch entkernten Sozialarbeit, die schließlich mit der Berufung auf Alltag, Lebenslagen und Lebenswelt irgendwie alles, was im "Leben" vorkommt, wahlweise zum Thema der Sozialpädagogik oder Sozialarbeit oder sozialen Arbeit mache, doch ohne identifizierbaren Kern und theoretische Substanz. Für die professionspolitische Unterfütterung wird vor allem Hans Thiersch dingfest gemacht, der mit "seelsorgerisch inspirierter Sprachgewalt" (S. 256) durch Emphase ersetze, was an theoretischer Umrissschärfe fehle.

Damit mündet die Geschichte endgültig in eine scharfe, von Invektiven nicht freie Kritik des gegenwärtigen sozialpädagogischen Establishments und der "Machthaber der akademischen Sozialpädagogik" (S. 271). Auch das "äußere Erscheinungsbild von Sozialpädagogik in Form von akademischen Zulassungsarbeiten bis hin zu Habilitationen, von Publikationen und Tagungen, von Professorenstellen und Studentenzahlen" (S. 244) kann Reyer nicht imponieren. Keine noch so geschickte und geschäftige Positionspolitik kann verbergen, dass die "innere fachwissenschaftliche Gestalt" (ebd.) der Sozialpädagogik in Frage steht. Aber auch die Allgemeine Pädagogik bekommt ihr Fett ab, wenngleich Reyer in der "Allgemeinen Pädagogik" von D. Benner Anzeichen für die "Wiederkehr des Verdrängten" erkennen kann. Das Problem der sozialen Verortung des Individuums meldet sich unvermeidlich und nötigt die Pädagogik, egal ob als Allgemeine oder als Sozialpädagogik, dieses Problem als Lern- und Erziehungsproblem aufzunehmen. Dem lässt sich zustimmen, doch mit einem Vorbehalt, was den Ort angeht, wo diese Thematik zu behandeln ist. Es ist nicht einzusehen, dass "die" Sozialpädagogik oder "die" Allgemeine Pädagogik oder sonst eine Bereichspädagogik hier eine besondere Zuständigkeit für sich reklamieren können, und zwar deshalb nicht, weil es sich gar nicht um eine Frage der internen Wissenschaftsorganisation und Zuständigkeit für das "Soziale" handelt: Es ist überall und jederzeit präsent und wird in den Bereichspädagogiken in unterschiedlichen Hinsichten thematisiert. Das heißt: Dem Prozess der sozialstrukturellen Ausdifferenzierung entspricht nicht umstandslos und direkt die Ausdifferenzierung der Pädagogik. Sie hat vielmehr gegenüber diesem von ihr weder herbeigeführten noch aufzuhaltenden Prozess ein Thema zur Geltung zu bringen: das Lernen der Individuen unter den Sozialbedingungen der Gegenwart. Blickt sie vornehmlich auf das Lernen, ist sie primär Individualpädagogik, blickt sie auf das Erziehen, ist sie sozialpädagogisch orientiert. Dieser Zusammenhang lässt sich nicht auf Fächer und Bereiche verteilen; er ist jederzeit gegeben als Tatbestand - dann sprechen wir von Sozialisation - und aufgegeben als Programm, dann sprechen wir ausdrücklich von Erziehung. Das erklärt, weshalb die real existierende Sozialpädagogik immer dann, wenn sie pädagogisch sich artikuliert, ebenso gut Allgemeine Pädagogik ist, und wenn sie sich direkt in helfender Intention auf Notlagen aller Art bezieht, verwandelt sie sich in Sozialarbeit und Sozialpolitik oder in bloße Sozialrhetorik.

Was Reyer den Repräsentanten dieser Sozialpädagogik/Sozialarbeit vorhält, lässt sich insofern auch auf ihn selbst wenden: Er will Sozialpädagogik als Inbegriff der Gesamtpädagogik, den Teil als Ganzes, zwar nicht als Korrelat der "Lebenswelt", wohl aber als Korrelat der Erziehungswelt. Doch auch der von Reyer beschriebene "sozialpädagogische Theorieverbund" ist historisch vergangen und im übrigen viel zu unbestimmt, um einem Titel die hinreichend genaue Bedeutung und der Sozialpädagogik jene disziplinäre Identität zu geben, die ihre Protagonisten zugleich prätendieren und immer noch suchen. Was diese "kleine Geschichte der Sozialpädagogik" auch lehrt, ist eben dies: Disziplinen und Subdisziplinen einer Disziplin bestehen und florieren heute nicht nur dank ihrer Themen und Methoden, ihrer positiven Ergebnisse und klaren Anwendungsbezüge; es gibt sie ebenso gut als Dauereinrichtung ihrer Selbstproblematisierung und permanenten Unbestimmtheit.

Erfassungsdatum: 28. 05. 2002
Korrekturdatum: 02. 04. 2004