Text der Rezension: |
"Das Buch untersucht einen
vergessenen Teil der Geschichte der Frauenbewegung und eine bislang wenig
erforschte Seite der Sozialreform im deutschen Kaiserreich: die soziale
Arbeit. Die Studie analysiert die umstrittenen religiösen Dimensionen
sozialer Reformvorhaben sowie den Versuch, Bildung und Arbeit als übergeordnete
Wertvorstellungen zu etablieren. Die Autorin enthüllt den `Glauben
an eine bessere Welt` als zentrales Motiv bürgerlichen Engagements."
So weit der Klappentext der hier zu besprechenden, an der FU Berlin eingereichten,
aber im Sonderforschungsbereich "Geschichte des neuzeitlichen Bürgertums"
der geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld
angefertigten Dissertation von Iris Schröder. Es handelt sich also
um einen Beitrag, der nicht aus der Historischen Pädagogik bzw. der
weitgehend von genuinen Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen
betriebenen Historischen Sozialpädagogik-/Sozialarbeitsforschung,
sondern aus der Feder einer Historikerin kommt. Das ist zugleich charakteristisch
für die historische Erforschung von Sozialpädagogik und Sozialarbeit:
Sie kann nur betrieben werden und wird auch tatsächlich nur betrieben
als interdisziplinäres Geschäft zwischen Sozial- und Wirtschaftgeschichte,
Ideen- und Mentalitätsgeschichte, Rechts- und Religionsgeschichte
sowie der Historischen Pädagogik. Diese Interdisziplinarität
ist das vielleicht herausstechendste Merkmal, worin sich die historische
Sozialarbeitsforschung von der Schulgeschichtsschreibung und anderen klassischen
Feldern der Historischen Pädagogik unterscheidet. Auf die Probleme,
die sich aus dieser an sich nur begrüßenswerten Tatsache einer
starken interdisziplinären Ausrichtung ergeben können, wird noch
zurückzukommen sein.
Das vorliegende Werk, ein
weiterer Beitrag der neuerdings so geschätzten Spezies der Diskursanalyse,
gliedert sich - von Einleitung und Schlußbetrachtung abgesehen -
in fünf Kapitel.
In der Einleitung wird ein
Überblick über den (internationalen) Stand der Forschung zum
Zusammenhang von Frauenbewegung und Sozialer Reform in der wilhelminischen
Phase des deutschen Kaiserreichs gegeben. Dabei will die Autorin insbesondere
die Befunde der Frauen- und Geschlechtergeschichte mit solchen der Wohlfahrts-
und Bürgertumsforschung zusammenführen. Ein besonderes Augenmerk
gilt dabei dem konflikthaften Verlauf der hier einschlägigen Diskurse,
denn dass das Engagement der in der bürgerlichen Frauenbewegung engagierten
Frauen konflikthaft gewesen ist, dass unterschiedliche Zielvorstellungen
usw. gegeneinander in Konkurrenz traten, wird unterstellt und im Verlauf
der Abhandlung an verschiedenen Stellen exemplarisch auch nachgewiesen.
Von den bisher in diesem Themenfeld vorgelegten Arbeiten unterscheidet
sich der Beitrag Schröders dadurch, dass er auf das Engagement der
bürgerlichen Frauen nicht unter dem Aspekt des Kampfes um die Verberuflichung
der Sozialen Arbeit fokussieren, vielmehr in eher allgemeiner Weise das
Wechselspiel zwischen Sozialer Arbeit, Sozialreform und Frauenbewegung
thematisieren will (S. 28). Ob das gelungen ist, wird zu prüfen sein.
Das erste Kapitel läßt
das weibliche Engagement in jenem Spannungsfeld von Frauenbewegung und
Sozialreform über eine Reihe von Fallbeispielen - so u. a. durch den
Frankfurter Verein für Hauspflege, den Leipziger Verein für Familien-
und Volkserziehung oder die Berliner Mädchen- und Frauengruppen für
soziale Hilfsarbeit -- konkret werden. Dieses hier sich nach der pragmatischen
Seite hin konkretisierende, ansonsten und darüber hinaus in einer
Fülle von publizistischen Beiträgen äußernde Engagement
habe, so Schröder, ganz unter dem Slogan des "Frauenwohls" gestanden
(S. 39 ff.), und sich insofern, als es der erklärten Beförderung
weiblicher Interessen dienen sollte, von der männlich betriebenen
Sozialreform durchaus deutlich unterschieden. Diese weiblichen Interessen
konnten einerseits auf Seiten der Klientel liegen, den armen Frauen, denen
in schwierigen Lebenslagen Hilfe zuteil werden sollte, andererseits sind
immer auch die Akteurinnen mit zu bedenken, die nicht nur altruistisch
handelten, sondern das Engagement in der Sozialen Arbeit ebenso sehr als
eine Form des politischen Engagements betrachteten, das die längst
überfällige Emanzipation weiter forcieren und dem allgemeinen
Anspruch auf politische Mitsprache nützen sollte: In der Sozialen
Arbeit gewann die "Frau der Zukunft" (S. 105), das mündige und politisch
engagierte Subjekt, konzeptionell Gestalt. Davon abgesehen birgt dieses
Kapitel manche interessante Entdeckung: Wer z. B. wusste schon, dass bereits
lange bevor die heute so hoch geschätzten qualitativen Methoden der
empirischen Sozialforschung in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts erstmals
in wissenschaftlich elaborierter Form zur Anwendung kamen, diese bereits
von eben jenen Frauen des höheren Bürgertums, von denen in Schröders
Arbeit die Rede ist, entwickelt und angewendet wurden, um - beispielsweise
- die Lebenswelt der Arbeiterinnen genau kennen und verstehen zu lernen
und darauf fußend die eigenen Hilfsangebote besser platzieren zu
können (S. 46 ff.).
Im Mittelpunkt des zweiten
Kapitels stehen die in der Frauenbewegung konkurrierenden Konzepte oder
Strategien weiblicher Sozialer Arbeit: einerseits, vertreten durch Henriette
Goldschmidt (S. 122 ff.), das Verlangen auf gleichberechtigte Teilhabe
an der öffentlichen Armenfürsorge, ohne freilich dieselbe grundsätzlich
anders zentrieren zu wollen. Der Kampf um das bis dato ausschließlich
von Männern ausgeübte Amt des Armenpflegers ist so gesehen kaum
anders zu werten als der Kampf um das Wahlrecht oder die Universitätszulassung.
Andererseits wollte Louise Otto-Peters, um eine Protagonistin der konkurrierenden
Richtung zu nennen, die Armenpflege grundsätzlich reformieren, nicht
einfach den männlich vorgeprägten Mustern folgen (S. 125 ff.).
Diese letztere Position konnte nach schwierigen Debatten und manchen Konflikten
innerhalb der Frauenbewegung wohl die Mehrheit der Frauen überzeugen,
unmittelbar und praktisch erfolgreich war dagegen die erstere Position,
denn in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts begannen in den meisten der
großen deutschen Städte zumindest die Diskussionen über
die Zulassung von Frauen zum Ehrenamt des Armenpflegers, ohne dass damit
die inhaltliche Ausgestaltung dieser Tätigkeit grundsätzlich
in Frage gestellt worden wäre. Die Autorin kann dabei zeigen, dass
und mit welchen Argumenten verschiedene große Kommunen diesem Ansinnen
zum Teil lang anhaltenden Widerstand entgegenzusetzen wussten (S. 145 ff.).
Das dritte Kapitel gehört
den konfessionellen Frauenbünden, die durch ihre Gründung in
den Jahren um 1900 das konfessionelle Element und damit ein Moment der
Spaltung in die bisher, von inhaltlichen Kontroversen abgesehen, recht
geschlossen operierende bürgerliche Frauenbewegung trugen. Jetzt wurden
sogar bislang konsensuell vertretene Positionen wieder in Frage gestellt.
Ein Beispiel: Nach übereinstimmender katholischer, evangelischer und
jüdischer Auffassung bedeutete die von der Frauenbewegung im Einklang
mit allen Verfechtern der Reform selbstverständlich geforderte Abschaffung
des Almosengebens einen Bruch mit tiefverwurzelten religiösen Überzeugungen,
denn im religiösen Kontext hatte Almosengeben immer als Werk der Barmherzigkeit
gegolten und besaß insofern einen Wert an sich - für beide:
den Almosengeber wie den Nehmenden (S. 183). Hier erwiesen sich konfessionell
geprägte Auffassungen als mit den Anliegen der Sozialen Reform nicht
kompatibel. Aber nicht nur das Verhältnis der konfessionell geprägten
Überzeugungen zur Reform, sondern auch das Verhalten der konfessionellen
Frauenbewegungen untereinander trug um und nach 1900 ein unerwartetes retardierendes
Moment in den Kampf um die Sozialreform und die erweiterte Teilhabe der
Frauen an den öffentlichen Dingen. So verweigerten einander die katholischen
und evangelischen Frauenbünde immer wieder die Kooperation, und beide
gemeinsam waren nicht frei von Antisemitismus, was natürlich wiederum
das Verhältnis zum zahlenmäßig starken Jüdischen Frauenbund
belastete. Zudem traten Spannungen auf zwischen den zwar aus religiösen
Motiven heraus, aber bewusst nicht in den konfessionellen Bünden agierenden
Frauen der allgemeinen Frauenbewegung und denen in den konfessionellen
Frauenbewegungen engagierten Frauen. Allgemein gesagt: Das konfessionelle
Moment ließ das weibliche Engagement der Frauen in der Sozialen Arbeit
und deren Reform nach 1900 vielgestaltiger und im Blick auf die Durchsetzung
der Ziele schwieriger werden, ja es trieb die Frauenbewegung in nicht wenigen
Fällen bis an den Rand der Spaltung. Es handelt sich hier um ein insgesamt
wichtiges Kapitel, denn Schröder stellt zu Recht fest (S. 160), dass
eben genau dieses konfessionelle Moment in den bisher vorgelegten historischen
Analysen zur Sozialreform und zur Sozialen Arbeit viel zu wenig Beachtung
gefunden hat, weil die Geschichte Reformdebatten bislang zu sehr von der
säkularen als der anfangs sicher dominanten, aber eben je länger
je mehr nicht mehr ausschließlichen Seite der Frauenbewegung her
geschrieben worden ist. Hier bewährt sich der konflikttheoretische
Ansatz, den die Verfasserin gewählt hat, weil er am Beispiel der konfessionellen
Verwerfungen nach der Jahrhundertwende das bislang dominante, mehr das
Vorwärts- und Zielgerichtete betonende Erzählschema der eingeführten
Historiographie aufbricht.
Im vierten Kapitel wird
ein weiteres wichtiges Reformprojekt der Frauenbewegung zum Thema, das
unter dem Schlagwort der "sozialen Frauenbildung" segelnde Projekt "Bildung".
Bildung, so die Autorin (S. 225), sei überhaupt das Zentralthema der
Frauenbewegung nach 1890 gewesen. Hier kann Schröder zeigen, wie die
Frauenbewegung weibliche Bildung einerseits ganz in den Bahnen des klassischen
Bildungsdiskurses führt, indem sie z. B. Bildung zur Voraussetzung
und Legitimation ihrer politischen Absichten erklärt. Erst der gebildeten
Bürgerin soll das Recht auf politische Mitwirkung zustehen, dieser
aber selbstverständlich und uneingeschränkt. Das ist genau die
soziologische Seite des bürgerlichen Bildungsbegriffs, wie sie im
gesamten 19. Jahrhundert, dem "bürgerlichen" Jahrhundert, kennzeichnend
für das Bildungsdenken gewesen ist. Der Bezug zur Reform der Sozialen
Arbeit ist da gegeben, wo Bildung inhaltlich konkret als weibliche Bildung
ausgelegt wird und dies auf der Grundlage des Lehrplans der sozialen Frauenschulen
geschieht. Während die preußische Mädchenschulreform den
Mädchen Zugang verschaffte zu einer männlich dominierten Bildung,
ging es in diesem Falle darum, "soziale Bildung" als weiblichen Gegenentwurf
zu präsentieren.
Im Mittelpunkt des fünften
Kapitels steht wiederum ein interessanter, in der bisherigen Forschung
noch nicht vertieft behandelter Aspekt: Das besondere Engagement der jungen
Frauen, der weiblichen Jugendbewegten innerhalb der Frauenbewegung, wie
sie sich im Gefolge der Heidelberger Generalversammlung des BDF von 1910,
die hier katalysatorhaft gewirkt hat, organisatorisch fester zusammenschlossen
(S. 299 ff.). Keine der in den letzten anderthalb Jahrzehnten erschienenen
(sämtlich von Frauen verfaßten!) Arbeiten zur weiblichen Jugendbewegung
hat dieser Versammlung und den von ihr ausgegangenen Impulsen ihre Aufmerksamkeit
geschenkt, obgleich doch bekannt war, dass aus den Männerbünden
heraus spätestens in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zahlreiche
Initiativen entstanden sind, die befruchtend auf die Sozialpädagogik
und die Sozialarbeit eingewirkt haben, und dies die Suche nach Vergleichbarem
auf Seiten der weiblichen Jugend doch hätte stimulieren können.
Jedenfalls werden ab 1910 in zahlreichen Ortsgruppen des BDF Jugendvereine
gegründet, die 1912 im Verband der "Jugendgruppen und Gruppen für
soziale Hilfsarbeit" zusammenfinden.
Trotz manchem, was die Arbeit
Schröders an neuen Perspektiven erbringt, das Gesamturteil muß
doch eher durchwachsen ausfallen. Das Inhaltsreferat zu den fünf Kapiteln
der Untersuchung hat es vielleicht schon deutlich werden lassen: so etwas
wie einen roten Faden, eine die Studie leitende Fragestellung sucht man
vergebens. Vieles wird angeschnitten, aber sehr häufig nicht zu einem
befriedigenden Ergebnis geführt. So wird zwar behauptet, das Konzept
der weiblichen Bildung, so wie es die bürgerliche Frauenbewegung entwickelt
und mit Hilfe der Sozialen Arbeit hat Gestalt werden lassen, reduziere
sich nicht auf einen Katalog beruflich verwertbarer Kenntnisse (S. 230).
Was aber nun genau weibliche Bildung, die die Möglichkeit autonomer
Lebensgestaltung und zugleich die Voraussetzung zur politischen Teilhabe
eröffnen sollte, inhaltlich ausmacht, das bleibt offen. Die von Schröder
in diesem Zusammenhang thematisierten Inhalte stehen alle in einem mehr
oder weniger engen Bezug zu den Erfordernissen einer reformierten Sozialen
Arbeit (schlicht deshalb, weil sie aus den Curricula der Sozialen Frauenschulen
deduziert werden). Was also "weibliche Bildung" über die Qualifikation
für eine professionelle Mitwirkung auf den verschiedensten Feldern
der Sozialen Arbeit hinaus ausmacht, bleibt unklar. Überhaupt, das
erklärte Bemühen der Verfasserin, die eigenen Überlegungen
nicht unter den Aspekt der Verberuflichungsgeschichte der Sozialen Arbeit
stellen zu wollen, wie das dem üblichen historiographischen Muster
entspreche (S. 28 ff.)! Es stimmt zwar, dass die bisherige Forschung überwiegend
so verfährt. Die Autorin kann aber den Nachweis nicht antreten, dass
es auch anders geht. Auch Schröder kommt immer wieder auf den Beruf
zu sprechen, so etwa wenn sie - wie eben ausgeführt - über den
Lehrplan der Sozialen Frauenschule die Inhalte weiblicher Bildung zu bestimmen
sucht (S. 238); oder wenn sie den Kampf um die weibliche Fabrikinspektorin
als Kampf für den qualifizierten Frauenberuf erzählt (S. 91 ff.).
Schlicht falsch ist die Behauptung, die bisherige Forschung habe übersehen,
"dass sich die soziale Bildung nicht in einer von Anfang an anvisierten
Verberuflichung erschöpft(e)" (S. 227). Nein, das hat die bisherige
Forschung tatsächlich nicht übersehen - das wäre bei der
starken Fixierung auf Alice Salomon (das immerhin könnte man den meisten
der bisher vorgelegten einschlägigen Arbeiten zum Zusammenhang von
Frauenbewegung, sozialer Reform und Sozialer Arbeit zurecht vorhalten)
auch ganz und gar unnormal, gilt doch Salomon zugleich als Verfechterin
einer "sozialen Frauenbildung" als Qualifizierung für Beruf und Ehrenamt.
In dieser offenkundig reduzierten Rezeption sind - jedenfalls im konkreten
Fall der hier zu besprechenden Arbeit - ganz augenscheinlich auch die Grenzen
der Interdisziplinarität erreicht, denn auch die sozialpädagogische
Forschung seit Münchmeiers (1981) und Sachßes (1986) Untersuchungen
vor mehr als (bzw. nahezu) 20 Jahren ist mit dem Urteil, der Forschungsstand
zum Zusammenhang von Frauenbewegung, Politik und Wohlfahrt sei nur "bescheiden"
zu nennen (S. 18), gewiss nicht zutreffend charakterisiert.
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