Die Seiten werden nicht mehr aktualisiert – hier finden Sie nur archivierte Beiträge.
Logo BBF ---
grün und orangener Balken 1   grün und orangener Balken 3

HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Konrad, Franz-Michael
Rezensiertes Werk: Iris Schröder: Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890-1914. Campus-Verlag; Frankfurt/New York, 2001. 368 S. (Reihe "Geschichte und Geschlechter"; 36); ISBN 3-593-36783-1
Erscheinungsjahr: 2002
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Prof. Dr. Franz-Michael Konrad
Historische und Vergleichende Pädagogik, Katholische Universität Eichstätt, Ostenstrasse 26, 85071 Eichstätt
e-mail: franz.konrad@ku-eichstaett.de

Text der Rezension:
 

"Das Buch untersucht einen vergessenen Teil der Geschichte der Frauenbewegung und eine bislang wenig erforschte Seite der Sozialreform im deutschen Kaiserreich: die soziale Arbeit. Die Studie analysiert die umstrittenen religiösen Dimensionen sozialer Reformvorhaben sowie den Versuch, Bildung und Arbeit als übergeordnete Wertvorstellungen zu etablieren. Die Autorin enthüllt den `Glauben an eine bessere Welt` als zentrales Motiv bürgerlichen Engagements." So weit der Klappentext der hier zu besprechenden, an der FU Berlin eingereichten, aber im Sonderforschungsbereich "Geschichte des neuzeitlichen Bürgertums" der geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld angefertigten Dissertation von Iris Schröder. Es handelt sich also um einen Beitrag, der nicht aus der Historischen Pädagogik bzw. der weitgehend von genuinen Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen betriebenen Historischen Sozialpädagogik-/Sozialarbeitsforschung, sondern aus der Feder einer Historikerin kommt. Das ist zugleich charakteristisch für die historische Erforschung von Sozialpädagogik und Sozialarbeit: Sie kann nur betrieben werden und wird auch tatsächlich nur betrieben als interdisziplinäres Geschäft zwischen Sozial- und Wirtschaftgeschichte, Ideen- und Mentalitätsgeschichte, Rechts- und Religionsgeschichte sowie der Historischen Pädagogik. Diese Interdisziplinarität ist das vielleicht herausstechendste Merkmal, worin sich die historische Sozialarbeitsforschung von der Schulgeschichtsschreibung und anderen klassischen Feldern der Historischen Pädagogik unterscheidet. Auf die Probleme, die sich aus dieser an sich nur begrüßenswerten Tatsache einer starken interdisziplinären Ausrichtung ergeben können, wird noch zurückzukommen sein. 
Das vorliegende Werk, ein weiterer Beitrag der neuerdings so geschätzten Spezies der Diskursanalyse, gliedert sich - von Einleitung und Schlußbetrachtung abgesehen - in fünf Kapitel. 
In der Einleitung wird ein Überblick über den (internationalen) Stand der Forschung zum Zusammenhang von Frauenbewegung und Sozialer Reform in der wilhelminischen Phase des deutschen Kaiserreichs gegeben. Dabei will die Autorin insbesondere die Befunde der Frauen- und Geschlechtergeschichte mit solchen der Wohlfahrts- und Bürgertumsforschung zusammenführen. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei dem konflikthaften Verlauf der hier einschlägigen Diskurse, denn dass das Engagement der in der bürgerlichen Frauenbewegung engagierten Frauen konflikthaft gewesen ist, dass unterschiedliche Zielvorstellungen usw. gegeneinander in Konkurrenz traten, wird unterstellt und im Verlauf der Abhandlung an verschiedenen Stellen exemplarisch auch nachgewiesen. Von den bisher in diesem Themenfeld vorgelegten Arbeiten unterscheidet sich der Beitrag Schröders dadurch, dass er auf das Engagement der bürgerlichen Frauen nicht unter dem Aspekt des Kampfes um die Verberuflichung der Sozialen Arbeit fokussieren, vielmehr in eher allgemeiner Weise das Wechselspiel zwischen Sozialer Arbeit, Sozialreform und Frauenbewegung thematisieren will (S. 28). Ob das gelungen ist, wird zu prüfen sein.
Das erste Kapitel läßt das weibliche Engagement in jenem Spannungsfeld von Frauenbewegung und Sozialreform über eine Reihe von Fallbeispielen - so u. a. durch den Frankfurter Verein für Hauspflege, den Leipziger Verein für Familien- und Volkserziehung oder die Berliner Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit -- konkret werden. Dieses hier sich nach der pragmatischen Seite hin konkretisierende, ansonsten und darüber hinaus in einer Fülle von publizistischen Beiträgen äußernde Engagement habe, so Schröder, ganz unter dem Slogan des "Frauenwohls" gestanden (S. 39 ff.), und sich insofern, als es der erklärten Beförderung weiblicher Interessen dienen sollte, von der männlich betriebenen Sozialreform durchaus deutlich unterschieden. Diese weiblichen Interessen konnten einerseits auf Seiten der Klientel liegen, den armen Frauen, denen in schwierigen Lebenslagen Hilfe zuteil werden sollte, andererseits sind immer auch die Akteurinnen mit zu bedenken, die nicht nur altruistisch handelten, sondern das Engagement in der Sozialen Arbeit ebenso sehr als eine Form des politischen Engagements betrachteten, das die längst überfällige Emanzipation weiter forcieren und dem allgemeinen Anspruch auf politische Mitsprache nützen sollte: In der Sozialen Arbeit gewann die "Frau der Zukunft" (S. 105), das mündige und politisch engagierte Subjekt, konzeptionell Gestalt. Davon abgesehen birgt dieses Kapitel manche interessante Entdeckung: Wer z. B. wusste schon, dass bereits lange bevor die heute so hoch geschätzten qualitativen Methoden der empirischen Sozialforschung in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts erstmals in wissenschaftlich elaborierter Form zur Anwendung kamen, diese bereits von eben jenen Frauen des höheren Bürgertums, von denen in Schröders Arbeit die Rede ist, entwickelt und angewendet wurden, um - beispielsweise - die Lebenswelt der Arbeiterinnen genau kennen und verstehen zu lernen und darauf fußend die eigenen Hilfsangebote besser platzieren zu können (S. 46 ff.).
Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels stehen die in der Frauenbewegung konkurrierenden Konzepte oder Strategien weiblicher Sozialer Arbeit: einerseits, vertreten durch Henriette Goldschmidt (S. 122 ff.), das Verlangen auf gleichberechtigte Teilhabe an der öffentlichen Armenfürsorge, ohne freilich dieselbe grundsätzlich anders zentrieren zu wollen. Der Kampf um das bis dato ausschließlich von Männern ausgeübte Amt des Armenpflegers ist so gesehen kaum anders zu werten als der Kampf um das Wahlrecht oder die Universitätszulassung. Andererseits wollte Louise Otto-Peters, um eine Protagonistin der konkurrierenden Richtung zu nennen, die Armenpflege grundsätzlich reformieren, nicht einfach den männlich vorgeprägten Mustern folgen (S. 125 ff.). Diese letztere Position konnte nach schwierigen Debatten und manchen Konflikten innerhalb der Frauenbewegung wohl die Mehrheit der Frauen überzeugen, unmittelbar und praktisch erfolgreich war dagegen die erstere Position, denn in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts begannen in den meisten der großen deutschen Städte zumindest die Diskussionen über die Zulassung von Frauen zum Ehrenamt des Armenpflegers, ohne dass damit die inhaltliche Ausgestaltung dieser Tätigkeit grundsätzlich in Frage gestellt worden wäre. Die Autorin kann dabei zeigen, dass und mit welchen Argumenten verschiedene große Kommunen diesem Ansinnen zum Teil lang anhaltenden Widerstand entgegenzusetzen wussten (S. 145 ff.).
Das dritte Kapitel gehört den konfessionellen Frauenbünden, die durch ihre Gründung in den Jahren um 1900 das konfessionelle Element und damit ein Moment der Spaltung in die bisher, von inhaltlichen Kontroversen abgesehen, recht geschlossen operierende bürgerliche Frauenbewegung trugen. Jetzt wurden sogar bislang konsensuell vertretene Positionen wieder in Frage gestellt. Ein Beispiel: Nach übereinstimmender katholischer, evangelischer und jüdischer Auffassung bedeutete die von der Frauenbewegung im Einklang mit allen Verfechtern der Reform selbstverständlich geforderte Abschaffung des Almosengebens einen Bruch mit tiefverwurzelten religiösen Überzeugungen, denn im religiösen Kontext hatte Almosengeben immer als Werk der Barmherzigkeit gegolten und besaß insofern einen Wert an sich - für beide: den Almosengeber wie den Nehmenden (S. 183). Hier erwiesen sich konfessionell geprägte Auffassungen als mit den Anliegen der Sozialen Reform nicht kompatibel. Aber nicht nur das Verhältnis der konfessionell geprägten Überzeugungen zur Reform, sondern auch das Verhalten der konfessionellen Frauenbewegungen untereinander trug um und nach 1900 ein unerwartetes retardierendes Moment in den Kampf um die Sozialreform und die erweiterte Teilhabe der Frauen an den öffentlichen Dingen. So verweigerten einander die katholischen und evangelischen Frauenbünde immer wieder die Kooperation, und beide gemeinsam waren nicht frei von Antisemitismus, was natürlich wiederum das Verhältnis zum zahlenmäßig starken Jüdischen Frauenbund belastete. Zudem traten Spannungen auf zwischen den zwar aus religiösen Motiven heraus, aber bewusst nicht in den konfessionellen Bünden agierenden Frauen der allgemeinen Frauenbewegung und denen in den konfessionellen Frauenbewegungen engagierten Frauen. Allgemein gesagt: Das konfessionelle Moment ließ das weibliche Engagement der Frauen in der Sozialen Arbeit und deren Reform nach 1900 vielgestaltiger und im Blick auf die Durchsetzung der Ziele schwieriger werden, ja es trieb die Frauenbewegung in nicht wenigen Fällen bis an den Rand der Spaltung. Es handelt sich hier um ein insgesamt wichtiges Kapitel, denn Schröder stellt zu Recht fest (S. 160), dass eben genau dieses konfessionelle Moment in den bisher vorgelegten historischen Analysen zur Sozialreform und zur Sozialen Arbeit viel zu wenig Beachtung gefunden hat, weil die Geschichte Reformdebatten bislang zu sehr von der säkularen als der anfangs sicher dominanten, aber eben je länger je mehr nicht mehr ausschließlichen Seite der Frauenbewegung her geschrieben worden ist. Hier bewährt sich der konflikttheoretische Ansatz, den die Verfasserin gewählt hat, weil er am Beispiel der konfessionellen Verwerfungen nach der Jahrhundertwende das bislang dominante, mehr das Vorwärts- und Zielgerichtete betonende Erzählschema der eingeführten Historiographie aufbricht.
Im vierten Kapitel wird ein weiteres wichtiges Reformprojekt der Frauenbewegung zum Thema, das unter dem Schlagwort der "sozialen Frauenbildung" segelnde Projekt "Bildung". Bildung, so die Autorin (S. 225), sei überhaupt das Zentralthema der Frauenbewegung nach 1890 gewesen. Hier kann Schröder zeigen, wie die Frauenbewegung weibliche Bildung einerseits ganz in den Bahnen des klassischen Bildungsdiskurses führt, indem sie z. B. Bildung zur Voraussetzung und Legitimation ihrer politischen Absichten erklärt. Erst der gebildeten Bürgerin soll das Recht auf politische Mitwirkung zustehen, dieser aber selbstverständlich und uneingeschränkt. Das ist genau die soziologische Seite des bürgerlichen Bildungsbegriffs, wie sie im gesamten 19. Jahrhundert, dem "bürgerlichen" Jahrhundert, kennzeichnend für das Bildungsdenken gewesen ist. Der Bezug zur Reform der Sozialen Arbeit ist da gegeben, wo Bildung inhaltlich konkret als weibliche Bildung ausgelegt wird und dies auf der Grundlage des Lehrplans der sozialen Frauenschulen geschieht. Während die preußische Mädchenschulreform den Mädchen Zugang verschaffte zu einer männlich dominierten Bildung, ging es in diesem Falle darum, "soziale Bildung" als weiblichen Gegenentwurf zu präsentieren. 
Im Mittelpunkt des fünften Kapitels steht wiederum ein interessanter, in der bisherigen Forschung noch nicht vertieft behandelter Aspekt: Das besondere Engagement der jungen Frauen, der weiblichen Jugendbewegten innerhalb der Frauenbewegung, wie sie sich im Gefolge der Heidelberger Generalversammlung des BDF von 1910, die hier katalysatorhaft gewirkt hat, organisatorisch fester zusammenschlossen (S. 299 ff.). Keine der in den letzten anderthalb Jahrzehnten erschienenen (sämtlich von Frauen verfaßten!) Arbeiten zur weiblichen Jugendbewegung hat dieser Versammlung und den von ihr ausgegangenen Impulsen ihre Aufmerksamkeit geschenkt, obgleich doch bekannt war, dass aus den Männerbünden heraus spätestens in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zahlreiche Initiativen entstanden sind, die befruchtend auf die Sozialpädagogik und die Sozialarbeit eingewirkt haben, und dies die Suche nach Vergleichbarem auf Seiten der weiblichen Jugend doch hätte stimulieren können. Jedenfalls werden ab 1910 in zahlreichen Ortsgruppen des BDF Jugendvereine gegründet, die 1912 im Verband der "Jugendgruppen und Gruppen für soziale Hilfsarbeit" zusammenfinden.
Trotz manchem, was die Arbeit Schröders an neuen Perspektiven erbringt, das Gesamturteil muß doch eher durchwachsen ausfallen. Das Inhaltsreferat zu den fünf Kapiteln der Untersuchung hat es vielleicht schon deutlich werden lassen: so etwas wie einen roten Faden, eine die Studie leitende Fragestellung sucht man vergebens. Vieles wird angeschnitten, aber sehr häufig nicht zu einem befriedigenden Ergebnis geführt. So wird zwar behauptet, das Konzept der weiblichen Bildung, so wie es die bürgerliche Frauenbewegung entwickelt und mit Hilfe der Sozialen Arbeit hat Gestalt werden lassen, reduziere sich nicht auf einen Katalog beruflich verwertbarer Kenntnisse (S. 230). Was aber nun genau weibliche Bildung, die die Möglichkeit autonomer Lebensgestaltung und zugleich die Voraussetzung zur politischen Teilhabe eröffnen sollte, inhaltlich ausmacht, das bleibt offen. Die von Schröder in diesem Zusammenhang thematisierten Inhalte stehen alle in einem mehr oder weniger engen Bezug zu den Erfordernissen einer reformierten Sozialen Arbeit (schlicht deshalb, weil sie aus den Curricula der Sozialen Frauenschulen deduziert werden). Was also "weibliche Bildung" über die Qualifikation für eine professionelle Mitwirkung auf den verschiedensten Feldern der Sozialen Arbeit hinaus ausmacht, bleibt unklar. Überhaupt, das erklärte Bemühen der Verfasserin, die eigenen Überlegungen nicht unter den Aspekt der Verberuflichungsgeschichte der Sozialen Arbeit stellen zu wollen, wie das dem üblichen historiographischen Muster entspreche (S. 28 ff.)! Es stimmt zwar, dass die bisherige Forschung überwiegend so verfährt. Die Autorin kann aber den Nachweis nicht antreten, dass es auch anders geht. Auch Schröder kommt immer wieder auf den Beruf zu sprechen, so etwa wenn sie - wie eben ausgeführt - über den Lehrplan der Sozialen Frauenschule die Inhalte weiblicher Bildung zu bestimmen sucht (S. 238); oder wenn sie den Kampf um die weibliche Fabrikinspektorin als Kampf für den qualifizierten Frauenberuf erzählt (S. 91 ff.). Schlicht falsch ist die Behauptung, die bisherige Forschung habe übersehen, "dass sich die soziale Bildung nicht in einer von Anfang an anvisierten Verberuflichung erschöpft(e)" (S. 227). Nein, das hat die bisherige Forschung tatsächlich nicht übersehen - das wäre bei der starken Fixierung auf Alice Salomon (das immerhin könnte man den meisten der bisher vorgelegten einschlägigen Arbeiten zum Zusammenhang von Frauenbewegung, sozialer Reform und Sozialer Arbeit zurecht vorhalten) auch ganz und gar unnormal, gilt doch Salomon zugleich als Verfechterin einer "sozialen Frauenbildung" als Qualifizierung für Beruf und Ehrenamt. In dieser offenkundig reduzierten Rezeption sind - jedenfalls im konkreten Fall der hier zu besprechenden Arbeit - ganz augenscheinlich auch die Grenzen der Interdisziplinarität erreicht, denn auch die sozialpädagogische Forschung seit Münchmeiers (1981) und Sachßes (1986) Untersuchungen vor mehr als (bzw. nahezu) 20 Jahren ist mit dem Urteil, der Forschungsstand zum Zusammenhang von Frauenbewegung, Politik und Wohlfahrt sei nur "bescheiden" zu nennen (S. 18), gewiss nicht zutreffend charakterisiert.

Erfassungsdatum: 16. 05. 2002
Korrekturdatum: 02. 04. 2004