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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Moderow, Hans-Martin
Rezensiertes Werk: Kemnitz, Heidemarie: Lehrerverein und Lehrerberuf im 19. Jahrhundert. Ene Studie zum Verberuflichungsprozeß der Lehrertätigkeit am Beispiel der Berlinischen Schullehrergesellschaft (1813-1892). Weinheim: Deutscher Studienverlag, 1999. - 358 S. - (Bibliothek für Bildungsforschung; 14) ISBN: 3-89271-855-5
Erscheinungsjahr: 2001
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Hans-Martin Moderow
Universität Leipzig, Sonderforschungsbereich 417 "Regionenbezogene Identifikationsprozesse", Teilprojekt B1: Bildung regionaler Identität. Zum Einfluß des Bildungssystems auf Entstehung und Veränderung regionenbezogener Identifikationsprozesse.
Email: moderow@sfb417.uni-leipzig.de 
http://www.uni-leipzig.de/~sfb417

Text der Rezension:

 
Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist das Interesse der Verfasserin für die Entstehung des Lehrerberufs im 19. Jahrhundert. Die grundlegende These ihrer Berliner Habilitationsschrift besteht darin, daß Lehrervereine nicht nur traditionsreiche Organisationen zur Vertretung von Standesinteressen waren, sondern daß sie auch - wie die Geschichtsschreibung der Lehrervereine selbst immer schon behauptete - eine gewichtige Rolle bei der Professionalisierung gespielt haben, indem sie auch Ort der Lehrerbildung waren, die bisher aber weitgehend aus staatlicher Perspektive beschrieben wurde. 
Bis in die Gegenwart wird bei der Behandlung der Entstehung des Lehrerberufs mit dem Begriff der Professionalisierung operiert. In ihrer Einleitung setzt sich die Verfasserin ausführlich mit der theoretischen Diskussion um dieses Konzept auseinander. Sie referiert zutreffend die Differenz zwischen dem in der Geschichtswissenschaft vorherrschenden sozialgeschichtlich-strukturellen Modell (das auf die harten Kriterien für "Professionen" pocht) und dem Konzept in der Erziehungswissenschaft, dem es vornehmlich um die Handlungskompetenz des Lehrers geht. Sie selbst bevorzugt den Begriff der Verberuflichung als "Ausdifferenzierung einer spezialisierten Tätigkeit aus `multifunktionalen` oder `nebenberuflichen` Positionen" (S. 14 f.). Als Kriterien dieser Verberuflichung benennt Kemnitz die spezifische Ausbildung der im Beruf Tätigen, deren innerberufliche Selbstverständigung (kollektives Selbstbewußtsein), ihre soziale und materielle Absicherung und Anerkennung sowie die Institutionalisierung eines eigenständigen Berufsfeldes. Damit lasse sich der Wandel vom "Schulehalten" zu moderner Lehrertätigkeit ausreichend beschreiben.
   Eine Neubewertung von Teilaspekten der Lehrervereinsbewegung läßt sich nur aufgrund von regionalen oder lokalen Untersuchungen rechtfertigen. Indem sich die vorliegende Arbeit einem Berliner Lehrerverein zuwendet, liegt sie in einem allgemeinen Trend, der allgemeine Thesen zur Geschichte des Lehrerberufs am Einzelfall prüft. So ist es der Verfasserin auch möglich, Vergleiche mit Lehrervereinen in anderen Orten anzustellen. Ziel der Arbeit ist es zu beschreiben, wie die Lehrer der Berlinischen Schullehrergesellschaft sich zu Verberuflichung verhielten und welche Aktivitäten sie entfalteten.

Der Hauptkorpus der Arbeit ist in zwei Teile gegliedert. In einem ersten Durchgang beschreibt Kemnitz die Geschichte und die Tätigkeit der Berlinischen Schullehrergesellschaft in der Zeit von 1813 bis 1892. Zunächst wird der Kontext des starken quantitativen und qualitativen Wachstums des Berliner Elementarschulwesens und seine Kommunalisierung dargelegt. Besonders interessant sind die Ausführungen zur Berliner Lehrervereinslandschaft überhaupt, da die starken Standesorganisationen, die man vom Ende des 19. Jahrhunderts kennt, die Vielfalt solcher Organisationen oft vergessen lassen.
Die Berlinische Schullehrergesellschaft entstand 1813 auf Drängen Natorps, der die Bildung der Lehrer heben wollte und anfangs auch einen Zuschuß zahlte. Die erste Zeit war von starker (fast täglicher) Tätigkeit geprägt, die sich bald auf einem etwas niedrigeren Niveau stabilisierte. Man arbeitete als Lehrerschule und Bildungszirkel. Mitglieder waren Lehrer und Geistliche, letztere stellen gemeinsam mit den Schulvorstehern die maßgebenden Vorstandsmitglieder. Hier und für die spätere Zeit stellt die Verfasserin diese für den Verein bedeutenden Personen auch näher vor. Einer der Vorsitzenden, ein Geistlicher, der gleichzeitig für die Schulaufsicht zuständig und also Vorgesetzter war, prägte den Verein 24 Jahre lang.
   Auch unter dem Einfluß von Diesterwegs Wirken in Berlin und im Verein änderte der Verein ab 1835 seinen Charakter, indem man größeren Abstand vom Staat gewann und andererseits zu nur noch monatlichen Treffen überging, die mit einer Mahlzeit verbunden wurden. Damit hielt die Geselligkeit Einzug, die jedoch in der Hauptsache einem konkurrierenden Verein überlassen blieb. In den vierziger Jahren nahm der Verein an der allgemeinen Entwicklung teil, erlebte die Pestalozzifeiern und die Revolution. Die emanzipatorischen Bestrebungen kamen wirksam besonders in Petitionen sowie der Gründung von Kassen und Stiftungen zum Ausdruck. Das war auch von einem Anwachsen der Mitgliedschaft, einem steigenden Anteil einfacher Lehrer und von einem Generationenwechsel begleitet. Diesterweg dominierte den Verein, jedoch nicht ohne Differenzen wegen seiner relativen Radikalität (besonders in Fragen des Gewichts und des Stoffs des Religionsunterrichts). 
   Die gescheiterte Revolution von 1848/49 bedeutete keine Maßregelung des Vereins, wichtiger war das stark steigende Alter seiner Mitglieder und das Ausbleiben junger Lehrer. Kennzeichnend war jedoch das Ausscheiden Diesterwegs aus der Vereinsarbeit und das Fehlen von politischen Kontroversen. Gleichzeitig begann sich die materielle Lage der Lehrerschaft zu bessern. Vereinsneugründungen und die Einführung amtlicher Lehrerkonferenzen waren der Berlinischen Schullehrergesellschaft auch kaum zuträglich. So stand der Verein nicht mehr im Zentrum der Diskussionen der Berufsgruppe. Dennoch fanden weiter die monatlichen Versammlungen statt, auf denen - wenn auch intern - zuweilen heftige Auseinandersetzungen stattfanden. In dieser Zeit verschwinden die Geistlichen aus der Mitgliedschaft des Vereins.
   Nach der Fünfzigjahrfeier 1863 änderte sich im Verein nichts mehr. Er schloß sich ganz von den aktuellen Diskussionen und den jüngeren Lehrern ab, behielt aber seine Sitzungen bei. Dementsprechend dominierte im Verein die ältere, gehobene Volksschullehrerschaft. Als Altherrenkreis hat der Verein auch noch Jahre nach dem Ende seiner Protokolle im Jahre 1892 existiert.
   Die genannten Protokollbücher sind die Quellengrundlage für den zweiten Teil von Kemnitz` Arbeit. Deren Erhaltung muß als ein relativ seltener Glücksfall angesehen werden. Bevor die Verfasserin die Themen der dort protokollierten Vorträge auswertet, untersucht sie jedoch die in der ersten Phase der Vereinsgeschichte entstandene und später wieder abgestoßene Bibliothek. Sie enthielt die für die Zeit repräsentativen und nützlichen Werke und blieb diesbezüglich und in ihrem Umfang im Rahmen des in Deutschland Üblichen. Versuche systematischer Theoriebildung waren dabei für die Lehrer nicht interessant, sie bildeten eigene Relevanzkriterien aus den Bedürfnissen ihres alltäglichen Lehrerhandelns. Es bleibt aber unklar, wie intensiv die Bibliothek von den Mitgliedern benutzt wurde.
   Die Analyse der Vortragsthemen stützt die These, der Verein sei in seiner ersten Phase Lehrerschule gewesen. Im Vordergrund standen nämlich Themen der Didaktik und der einzelnen Schulfächer. Am stärksten theoretisch sind noch die Überlegungen über Begriff und Aufgabe der Volksschule. Auch hier vergleicht die Verfasserin mit anderen Berliner und auswärtigen Vereinen.

Insgesamt gelingt es Kemnitz überzeugend darzulegen, daß die Berlinische Schullehrergesellschaft besonders in ihrer ersten Phase eine bedeutende Rolle für die Lehrerbildung spielte und damit die Verberuflichung der Lehrertätigkeit im Verein voranbrachte. Richtig betont sie das Gewicht der Lehrervereine für den innerberuflichen Selbstverständigungsprozeß. Gleichzeitig wird klar, daß Vereine von Lehrern historisch verschiedene Funktionen ausfüllen und das es so etwas wie einen Lebenszyklus von Vereinen gibt. Die Verfasserin leistet somit einen bedeutenden Beitrag zur Differenzierung des Bildes von den Lehrervereinen des 19. Jahrhunderts.
   Dennoch stellen sich nach der Lektüre einige Fragen: Die Auswertung der Vereinsprotokolle und von zahlreichen Verwaltungsquellen ist vorbildlich - aber welches Gewicht hat die Pädagogische Presse der Zeit? Sie ist angeführt - doch vermißt man einen Hinweis darauf, daß und warum der behandelte Verein dort eine so geringe Rolle spielte. Weiter: Kemnitz vergleicht die Berlinische Schullehrergesellschaft mit Lehrervereinen in Nürnberg, Hamburg und Lübeck - das ist neu, doch handelt es sich durchweg um protestantische und tendenziell norddeutsche Vereine. Inwieweit sind die Ergebnisse des Vergleichs dann repräsentativ? Und was ergäbe ein internationaler Vergleich? Allerdings liegen für diesen Vergleich kaum Vorarbeiten vor. Schließlich kann der Rezensent nicht verhehlen, daß ihm die Bildungsrolle der amtlichen Konferenzen doch zu pauschal behandelt erscheint. Hier wäre eine detailliertere inhaltliche Auseinandersetzung erhellend gewesen.
   Das alles verkleinert den Verdienst der vorliegenden Arbeit nicht. Es handelt sich um einen wichtigen Schritt zu besserer Kenntnis des Lehrervereinswesens und zur Erforschung der Entstehung des modernen Lehrerberufs.

Erfassungsdatum: 29. 05. 2001
Korrekturdatum: 29. 05. 2001