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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Wiegmann, Ulrich
Rezensiertes Werk: Kerz-Rühling, Ingrid/Plänkers, Tomas (Hrsg.): Sozialistische Diktatur und psychische Folgen. Psychoanalytisch-psychologische Untersuchungen in Ostdeutschland und Tschechien. (Psychoanalytische Beiträge aus dem Sigmund-Freud-Institut, Bd. 4). Tübingen: Ed. diskord, 2000. - 218 S. ISBN 3-89295-686-3
Erscheinungsjahr: 2000
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
PD Dr. Ulrich Wiegmann
Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Forschungsstelle Berlin

Text der Rezension:

 
Der Band versammelt Beiträge einer Tagung, die unter dem selben Titel am 12. und 13. März 1999 am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt a.M. stattfand. Es wurden jedoch nicht alle Redebeiträge aufgenommen. Auch dafür ist den Herausgebern zu danken.
Wie im Vorwort erläutert, hatte es schon im Vorfeld der Tagung unter den Veranstaltern eine intensive Diskussion über die Beurteilung der DDR-Gesellschaft gegeben. Sogar der Tagungstitel wurde kurzfristig ein wenig gemildert.
Auch in dem jetzt vorgelegten Sammelband spiegelt sich die damalige Debatte wider. Sie begleitet die Kernthese, dass die realsozialistische Diktatur in der DDR wie auch immer charakteristische psychische Folgen hinterlassen hat. Dies zu erklären und zu verifizieren konnte daher nicht konfliktfrei vonstatten gehen. Als Autoren des Bandes wurden überwiegend west- und ostdeutsche Psychiater, Psychologen und Psychoanalytiker, gewonnen, aber auch eine Historikerin und ein Politologe. Diese Zusammensetzung verspricht einiges an interessanten, ildungsgeschichtlich eher unüblichen Zugängen und ungewöhnlichen Einsichten.
Zunächst fällt freilich sofort zweierlei auf. Zum einen, dass neben ganz spezifischen Fragestellungen (z.B. zum Verhältnis von ideologisch-sozialen Bedingungen und psychischen Erkrankungen) Themen behandelt werden, die auch in der bildungsgeschichtlichen DDR-Forschung der letzten 10 Jahre eine wichtige Rolle gespielt haben (insbesondere zum Lehrersein und -verhalten in der DDR und in den Neuen Bundesländern). Zum anderen wird sehr rasch bestätigt, dass die jeweiligen Resultate bislang gegenseitig überwiegend nicht zur Kenntnis genommen worden sind. Hier gibt es erheblichen Nachholbedarf. Geradezu unverständlich wirkt, dass bislang ostdeutsches Lehrerverhalten im Prozess der deutsch-deutschen Vereinigung z.T. weitgehend ohne Kenntnisnahme wichtiger psychologisch-psychoanalytischer Einsichten behandelt und diskutiert wurde. Aber Ignoranz herrscht unübersehbar auf beiden Seiten. Die in der hier dokumentierten psychologisch-psychoanalytischen Forschung verwendete historische/bildungsgeschichtliche Literatur spiegelt überwiegend in etwa den Stand vom Anfang der neunziger Jahre wider, der ja damals die Begründung dafür lieferte, DDR-Bildungsforschung ebenso breit wie intensiv zu fördern. Das aber fügt sich zu einer interessanten Konstellation: Die Forschungen wurden teilweise von - sogar vorab als unstrittig bezeichneten - Annahmen über gesellschaftliche Verhältnisse in der DDR oder über berufsspezifische Bedingungen angeregt, die dann notwendig mit den eigenen Erkenntnissen in Konflikt gerieten.

So ergab der von Ulrich Bahrke, Ronald Wittwar und Henrike Wolf unternommene Vergleich von psychotherapiebedürftig erkrankten Lehrern und DDR-Akademikern weder eine größere Häufigkeit psychischer und psychosomatischer Erkrankungen noch eine größere Häufigkeit systembedingter Konfliktauslöser in einer der Gruppen. Die Hypothese, dass DDR-Lehrer wegen besonders großer staatsideologischer Einflüsse und politischer Kontrollen unter einem erhöhten psychosomatischen Erkrankungsrisiko litten, bestätigte sich nicht.
Der Folgebeitrag von Ingrid Kerz-Rühling, Tomas Plänkers und Rene Fischer zum Verhältnis von sozialistischer Diktatur und Persönlichkeitsstruktur von Lehrern wiederum zeigt, dass totalitarismustheoretisch gestützte Vorannahmen über die DDR für die sehr interessanten und bildungsgeschichtlich wichtigen Einsichten über das Lehrerverhalten vor, während und seit dem politischen Umbruch gar nicht vonnöten gewesen wären, allenfalls, um die Untersuchung zu provozieren oder das eigene DDR-Bild theoretisch zu formieren. Dass die Forschungsresultate unabhängig von der Ausgangshypothese sehr beachtlich gerieten und manch bildungsgeschichtlich ungeklärtes Phänomen aufzuklären vermögen, bedeutet allerdings wohl auch, dass ein differenzierteres DDR-Bild ebenfalls kaum Einfluss auf die Untersuchungsresultate gehabt hätte. Gegenseitige Kenntnisnahme nützte so gesehen wohl vor allem der bildungsgeschichtlichen DDR-Forschung.
In dem Buch werden aber auch andere Auffassungen vertreten. Diese stützen sich auf den generellen Befund, dass trotz verbreiteter starker Thesen über die psychischen Folgen realsozialistischer Diktatur diese kaum empirisch belegt sind. Das motivierte den von Elmar Brähler, Jörg Schumacher und Martin Eisemann beschriebenen, methodisch schwierigen Versuch, Erziehungsverhalten in der DDR retrospektiv zu erfassen. Eine alles in allem sehr beeindruckende, geradezu glänzende Studie kommt endlich zu dem Ergebnis, dass die vielfach geäußerte und öffentlich heftig diskutierte Kritik an der familiären Erziehung in der DDR nicht länger unbefangen zu rechtfertigen sei. Zumindest könnten die Befunde das herrschende Vorurteil erheblich irritieren, wenn es sich denn durch die Resultate von Forschung beeindrucken läßt.
Aus bildungsgeschichtlicher Perspektive dürften der nachfolgende Beitrag von Erdmuthe Fikentscher und Tom Alexander Konzag zu Persönlichkeitsmerkmalen und Familientypologie ost- und westdeutscher Psychotherapiepatienten sowie Francesca Weils Mikrostudie über Soziale Verhaltensmuster und ihre Veränderungen im Arbeitsalltag 1970-1997 und ebenso Michael Sebeks Frage: Wo stehen wir mit unseren Patienten? weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Hingegen verdient der Aufsatz von Helmut Müller-Enbergs über Motive von DDR-Bürgern, nicht mit dem Ministerium für Staatssicherheit zu kooperieren, größere bildungsgeschichtliche Beachtung, allein schon, weil er das Stasithema in seine historiographischen Schranken weist. War "die DDR ... ein Volk von `Spitzeln`? Wohl kaum". Aber ein Volk der Verweigerer von Spitzeldiensten war die DDR angesichts der schätzungsweise 600 000 inoffiziellen und 250 000 hauptamtlichen Mitarbeiter in der Geschichte der DDR auch nicht. Die sehr unterhaltsam präsentierten Ergebnisse stehen zugegeben am Beginn systematischer Forschung. Man darf also gespannt bleiben.

Erfassungsdatum: 20. 11. 2000
Korrekturdatum: 02. 04. 2004