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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Rogler, Rudolf
Rezensiertes Werk: Pieter Siemsen: Der Lebensanfänger. Lebenserinnerungen eines anderen Deutschen : Stationen eines politischen Lebens: Weimarer Republik - Nazi-Deutschland - Argentinien - DDR - BRD. - Berlin: Trafo-Verl. (Finkenstr. 8, 12621), 2000. - 34,80 DM
Erscheinungsjahr: 2000
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Rudolf Rogler

Text der Rezension:

 
Aus einer politischen Familie stammend war Pieter Siemsen Kämpfer für den Sozialismus und bis vor wenigen Jahren treuer, wenn auch nicht unangefochtener Anhänger der kommunistischen Staatsauffassung à la DDR. Doch zu einem seiner Geburtstage erlebte ich Mitte der 80er Jahre eine Gesellschaft von Freunden der Sowjetunion, die dank Perestroika ihren Staat plötzlich kritisch und locker sahen. Die Witze brachen den Bann des Gehorsams und ich hörte, dass nicht mehr galt, "wer zu großen Zielen unterwegs ist, darf sich an kleinen Dingen nicht stoßen", Gehorsam und Angst zugleich waren gebannt. Eine Hoffnung war angekommen in seiner Datsche.
Pieter Siemsen, der Sohn von August Siemsen, bekennt sich in seiner Autobiographie, die hier anzuzeigen ist, zu all seinen großen Hoffnungen der politischen Jugend- und Agitationsgruppen, der Gewerkschaften und Parteien ebenso wie zu den ganz privaten Hoffnungen seiner Lieben, Freundschaften und Ehen. "Du musst mich doch immer für einen Stalinisten gehalten haben", sagt er heute. Doch er war zeitlebens ein wacher und scharfer Beobachter seines gesamten Umfeldes. Und erst das macht das Buch lesenswert. Es führt uns in vielen Stationen von Osnabrück über das Essen der Arbeiter- und Soldatenräte nach Berlin-Neukölln, in das Internat Letzingen bei Magdeburg, wieder nach Jena mit Privatunterricht bei seiner Tante Anna Siemsen und erneut nach Berlin-Neukölln in die Karl-Marx-Schule, bevor 1933 als weitere Stationen die Schweiz, Nazi-Deutschland und mit 23 Jahren das Exil in Argentinien folgen, wo er 1937 bis 1952 lebte und arbeitete, vor allem als Setzer und nicht selten als kommunistischer Schriftsteller in Exilzeitungen wie "Das andere Deutschland" (Beispiele sind im Anhang abgedruckt). Höhepunkt der bei aller Problematik immer mit Schmunzeln zu lesenden Autobiographie ist allerdings für mich die Rückkehr nach Hamburg, Osnabrück und Berlin, wo der Versuch in das gelobte Land, die junge DDR zu kommen, so ganz anders und nur auf merkwürdigen Umwegen gelingt. Das Personenverzeichnis erlaubt dem Leser den schnellen Blick auf die Stationen: Willi Kressman (SPD Kreuzberg), Else Zaisser (Ministerin für Volksbildung in der DDR) oder Robert Alt (ZK der SED, Humboldt-Universität).
Doch nicht allein die großen Namen sind es, die das Buch so lesenswert machen, sondern die hellhörig verzeichneten Einzelheiten, Warnungen, die er in den Wind schlug, protokolliertes Mißtrauen gegen West-Emigranten und später, als er sein Ziel, auch Mitglied der SED zu werden, erreicht hatte, das Misstrauen gegen Parteimitglieder in seiner Südamerika-Redaktion oder in der DDR-Gesellschaft allgemein. Alles nichts umwerfend Neues. Vielleicht?
Pieter Siemsen schließt mit kritischen Betrachtungen seiner Mittel- und Südamerikareisen und zu seinen Besuchen in Schulklassen. Für die Jugend wollte er sich engagieren und mit ihr diskutieren und sich messen, so wie damals in seiner angesehenen Neuköllner Reformschule. Enttäuscht muss er feststellen, dass keine Fragen gestellt werden durften und Zeitzeugen-Veranstaltungen zu einer unwürdigen Routine verkommen waren. Die Hoffnung auf die Jugend hatte den noch immer begeisternden Sprecher in die Schulen geführt. Er wollte sich mit den Jungen solidarisieren und messen! Und er war doch zum Schweigen verurteilt und musste sich fügen.
Aber weil Pieter Siemsen sein Gespür nicht verloren hat, verzichtet er darauf, von seinen letzten Hoffnungen vor dem Anschluss der DDR zu berichten. Denn ganz sicher hatte er auch dazu immer eine fundierte Meinung, aber ihm fehlte schon der nähere Zugang zu den Vorgängen. "Schau mal, ich bin schon ein alter Mann, aber ..." pflegt er heute 86jährig zu sagen und schon möchte man mit ihm weiter diskutieren über die Politik, lebendig und anspruchsvoll - wie sein zeittypisches selbstgestaltetes Leben.
 

(Der Autor der Besprechung ist Hauptschullehrer an der Neuköllner Anna-Siemsen-Schule, hat über die sozialdemokratische Namensgeberin seiner Schule gearbeitet und dabei vor 20 Jahren Pieter Siemsen im Ortsteil Baumschulenweg kennengelernt)

Erfassungsdatum: 15. 11. 2000
Korrekturdatum: 02. 04. 2004