Text der Rezension: |
Aus einer politischen Familie
stammend war Pieter Siemsen Kämpfer für den Sozialismus und bis
vor wenigen Jahren treuer, wenn auch nicht unangefochtener Anhänger
der kommunistischen Staatsauffassung à la DDR. Doch zu einem seiner
Geburtstage erlebte ich Mitte der 80er Jahre eine Gesellschaft von Freunden
der Sowjetunion, die dank Perestroika ihren Staat plötzlich kritisch
und locker sahen. Die Witze brachen den Bann des Gehorsams und ich hörte,
dass nicht mehr galt, "wer zu großen Zielen unterwegs ist, darf sich
an kleinen Dingen nicht stoßen", Gehorsam und Angst zugleich waren
gebannt. Eine Hoffnung war angekommen in seiner Datsche.
Pieter Siemsen, der Sohn
von August Siemsen, bekennt sich in seiner Autobiographie, die hier anzuzeigen
ist, zu all seinen großen Hoffnungen der politischen Jugend- und
Agitationsgruppen, der Gewerkschaften und Parteien ebenso wie zu den ganz
privaten Hoffnungen seiner Lieben, Freundschaften und Ehen. "Du musst mich
doch immer für einen Stalinisten gehalten haben", sagt er heute. Doch
er war zeitlebens ein wacher und scharfer Beobachter seines gesamten Umfeldes.
Und erst das macht das Buch lesenswert. Es führt uns in vielen Stationen
von Osnabrück über das Essen der Arbeiter- und Soldatenräte
nach Berlin-Neukölln, in das Internat Letzingen bei Magdeburg, wieder
nach Jena mit Privatunterricht bei seiner Tante Anna Siemsen und erneut
nach Berlin-Neukölln in die Karl-Marx-Schule, bevor 1933 als weitere
Stationen die Schweiz, Nazi-Deutschland und mit 23 Jahren das Exil in Argentinien
folgen, wo er 1937 bis 1952 lebte und arbeitete, vor allem als Setzer und
nicht selten als kommunistischer Schriftsteller in Exilzeitungen wie "Das
andere Deutschland" (Beispiele sind im Anhang abgedruckt). Höhepunkt
der bei aller Problematik immer mit Schmunzeln zu lesenden Autobiographie
ist allerdings für mich die Rückkehr nach Hamburg, Osnabrück
und Berlin, wo der Versuch in das gelobte Land, die junge DDR zu kommen,
so ganz anders und nur auf merkwürdigen Umwegen gelingt. Das Personenverzeichnis
erlaubt dem Leser den schnellen Blick auf die Stationen: Willi Kressman
(SPD Kreuzberg), Else Zaisser (Ministerin für Volksbildung in der
DDR) oder Robert Alt (ZK der SED, Humboldt-Universität).
Doch nicht allein die großen
Namen sind es, die das Buch so lesenswert machen, sondern die hellhörig
verzeichneten Einzelheiten, Warnungen, die er in den Wind schlug, protokolliertes
Mißtrauen gegen West-Emigranten und später, als er sein Ziel,
auch Mitglied der SED zu werden, erreicht hatte, das Misstrauen gegen Parteimitglieder
in seiner Südamerika-Redaktion oder in der DDR-Gesellschaft allgemein.
Alles nichts umwerfend Neues. Vielleicht?
Pieter Siemsen schließt
mit kritischen Betrachtungen seiner Mittel- und Südamerikareisen und
zu seinen Besuchen in Schulklassen. Für die Jugend wollte er sich
engagieren und mit ihr diskutieren und sich messen, so wie damals in seiner
angesehenen Neuköllner Reformschule. Enttäuscht muss er feststellen,
dass keine Fragen gestellt werden durften und Zeitzeugen-Veranstaltungen
zu einer unwürdigen Routine verkommen waren. Die Hoffnung auf die
Jugend hatte den noch immer begeisternden Sprecher in die Schulen geführt.
Er wollte sich mit den Jungen solidarisieren und messen! Und er war doch
zum Schweigen verurteilt und musste sich fügen.
Aber weil Pieter Siemsen
sein Gespür nicht verloren hat, verzichtet er darauf, von seinen letzten
Hoffnungen vor dem Anschluss der DDR zu berichten. Denn ganz sicher hatte
er auch dazu immer eine fundierte Meinung, aber ihm fehlte schon der nähere
Zugang zu den Vorgängen. "Schau mal, ich bin schon ein alter Mann,
aber ..." pflegt er heute 86jährig zu sagen und schon möchte
man mit ihm weiter diskutieren über die Politik, lebendig und anspruchsvoll
- wie sein zeittypisches selbstgestaltetes Leben.
(Der Autor der Besprechung
ist Hauptschullehrer an der Neuköllner Anna-Siemsen-Schule, hat über
die sozialdemokratische Namensgeberin seiner Schule gearbeitet und dabei
vor 20 Jahren Pieter Siemsen im Ortsteil Baumschulenweg kennengelernt)
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