Text der Rezension: |
Ist das Nomen "Jugend" nun
den abstrakten oder den konkreten Substantiven zuzurechnen? Jugend im Sinne
von Lebensalter, das "Jugendalter", ist gewiss abstrakt zu begreifen, während
Jugend im Sinne von "junger Mensch" oder "Jugendlicher" auf eine konkrete
Erscheinung verweist. Der Begriff ist also schillernd. Die parallelen französischen
und italienischen Originalausgaben vermeiden zumindest im Titel diese Ambivalenz
und verwenden das jeweilige konkrete Nomen: "Storia di Giovani" und "Histoire
des jeunes". Damit bleibt jedoch die Sache selbst nicht weniger ambivalent.
Die beiden renommierten Herausgeber dieses italienisch-französischen
Gemeinschaftswerkes sind sich einig, dass es die Jugend oder die Jugendlichen
als solche nicht gibt. So schreiben denn die 18 überwiegend italienischen
und französischen Autoren auch die Geschichten unterschiedlicher Jugenden,
wobei die in den jeweiligen Epochen, Gesellschaften und Kulturen dargestellte
Jugend auch nicht die Jugend der jeweiligen Zeit insgesamt erfasst. Besonders
der erste Band konzentriert sich weitgehend auf die männliche Jugend
der Oberschicht. Ausnahmen bilden lediglich die Beiträge von Norbert
Schindler und von Elliot Horowitz. Die Mädchen und jungen Frauen werden
bis auf wenige Ausnahmen bestenfalls marginal und quotengemäß
erwähnt. Zwar betonen die Herausgeber in der Einleitung, dass auch
die geschlechtliche und soziale Differenzierung zu einer Geschichte der
Jugend gehöre und dem gemäß auch dargestellt werde, die
einzelnen Autoren sind allerdings nur bedingt dieser Vorgabe gefolgt. Dies
mag vor allem an der Quellenlage liegen. Zweifelsohne ist diese an einer
männlichen Oberschicht orientiert. Dass die vorhandenen und leichter
zugänglichen Quellen zunächst einmal herangezogen werden, ist
in einem Sammelwerk schon aus Gründen der Wissenschaftsökonomie
geboten. Die meisten Autoren beziehen sich auf bereits veröffentlichte
Quellen. Für die Einbeziehung weiterer, weniger begünstigter
Gruppen müsste die Quellenbasis erweitert werden und das bisher bekannt
gewordenen Material neu gelesen werden. Die wäre ein neues und umfangreiches
Vorhaben.
Vorab muss man den Herausgebern
und den Autoren dafür danken, dass sie sich überhaupt dieser
Thematik angenommen, neue Fragestellungen aufgeworfen und informative und
anregende Synthesen erstellt haben. Wenn 18 Autoren sich eines schillernden
Gegenstandes annehmen und wenn zudem die Herausgeber Methoden- und Gestaltungsfreiheit
zusichern, dann fallen die einzelne Beiträge sowohl hinsichtlich der
angewandten Methoden, der vermittelten Informationen und des Umfanges recht
unterschiedlich aus. Und die Unterschiede sind erheblich. So denkt auf
knapp 10 Seiten der italienische Kunsthistoriker Giovanni Romano in essayistischer
Weise über "Jugendbilder in der Moderne" nach , während Luisa
Passerini auf 85 Seiten die "Jugend als Metapher" in einer umfänglichen
Untersuchung darstellt.
Die einleitenden Überlegungen
der Herausgeber zum Begriff der Jugend zeigen, dass nur eine grundsätzliche
Konkordanz zwischen den Vorgaben und den einzelnen Beiträgen besteht.
Offensichtlich haben die Herausgeber den Autoren kaum, zu wenig oder überhaupt
nicht in ihre Synthesen "hineingeredet". Sie begründen dies mit der
Offenheit der Methoden. Dennoch herrscht nicht nur Beliebigkeit. Eingehalten
wurde, weil selbstverständlich - Jugend muss ja biotisch und soziokulturell
irgendwie definiert werden - das Konzept der "Liminalität": der transistorische
Zustand zwischen der Kindheit und dem Erwachsensein. Jugend hat demnach
"ihren Platz zwischen den beweglichen Rändern der Abhängigkeit
des Kindes und der Autonomie des Erwachsenen, in jener Phase - die nichts
als Übergang ist". Diese Bestimmung könnte aus einem beliebigen
Lehrbuch der modernen Jugendpsychologie, -soziologie oder -pädagogik
stammen und enthält dennoch nur die halbe Wahrheit. Denn wo haben
heute die Kinderarbeiter und Kindersoldaten und ihre Eltern, falls überhaupt
vorhanden, angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen oder der ökonomischen
Zwänge überhaupt eine Chance zur "Autonomie". Dies gilt für
historische Gesellschaften wahrscheinlich ebenso wie für die benachteiligten
Gruppen der heutigen Welt. Auch für privilegierte Jugendliche traditionaler
und historischer Gesellschaften waren die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung
angesichts der Macht der Alten doch oft recht gering. Ausdrücklich
lehnen die Herausgeber mit Verweis auf ihr Konzept der Liminalität
eine chronologische Fortschreibung der Geschichte der Kindheit von Philippe
Ariès ab. Die "Eigenart" der Jugend soll unterstrichen und als "ein
gesellschaftliches und kulturelles Konstrukt" begriffen und gedeutet werden.
Der Hinweis auf Ariès bedeutet zugleich eine Abkehr von dem großem
Wurf einer linearen Geschichtsschreibung: "So wollen die hier versammelten
Texte weder das Bild einer kontinuierlichen historischen Entwicklung noch
das einer Homogenität von sozialen und kulturellen Inhalten zeichnen."
Da das biotisch-soziale Konzept der Liminalität dies allein nicht
leisten kann, wird es um die aus der Ethnologie bekannte Perspektive der
rites de passage erweitert. Damit werden die sozialen und kulturellen Riten
jugendlicher Liminalität zu einem besonderen Objekt der Untersuchung
erhoben, eine Bestimmung, die von den meisten Autoren auch mehr oder weniger
beachtet wird.
Mit dem Begriff "Jugend"
verbinden sich auch die Vorstellungen, Bilder und Mythen, die sich die
Gesellschaften von ihrer Jugend machen. Die Strategien und Formen der kulturellen
Sozialisation der jungen Generation sind zwar verschieden, zeigen aber
als konstante Tendenz das Bemühen der Älteren, den Jüngeren
Rollen zuzuweisen und ihnen Werte und Regeln aufzuzwingen. Meist registrieren
die Älteren mit Angst und Besorgnis die Abweichungen von überlieferten
Werten, Normen und Verhaltensmustern. Aber die konstatierte Auflehnung
der Jungen gegen die Werte, Normen und den Verhaltenskodex der Älteren
scheint vor allem ein typischer Konflikt der modernen Gesellschaften zu
sein. So erfährt denn auch die Moderne und ihre totalitären Verzerrungen
in der Geschichte der Jugend eine besondere Berücksichtigung.
Band I behandelt über
2500 Jahre Geschichte auf 431 Seiten, während der Band II sich auf
505 Seiten mit der aufmüpfigen Jugend des "langen" 19. Jahrhunderts
und den Mythen und Metamorphosen der Jugend des 20. Jahrhunderts befasst.
Die Geschichte der Jugend ist keine Weltgeschichte der Jugend und auch
keine Geschichte der europäischen Jugend. Thematisiert wird der traditionelle
westeuropäische Kanon: die Antike - d.h. das homerische Griechenland,
die hellenischen Poleis Sparta und Athen, die römische Republik und
das Imperium - das abendländliche Mittelalter, die Renaissance, die
Frühe Neuzeit, der Absolutismus, die Aufklärung, die Französischen
Revolution und ihre Auswirkungen, das 19. und 20. Jahrhundert. Untersuchungsgegenstand,
Quellen und Literatur beziehen sich vorwiegend auf Italien und Frankreich.
England und Deutschland werden aber teilweise mitberücksichtigt.
Die Autorenbeiträge
werden eröffnet mit einer Untersuchung von Alain Schnapp zum Bild
der Jugend in der griechischen Polis. Souverän werden Sekundärliteratur,
die Texte der griechischen Philosophen und Dichter und 40 ikonographische
Quellen ausgewertet, um die Erscheinungsformen und die Rolle der männlichen
Jugend darzulegen und zu bestimmen. Ausgang der Untersuchung bildet die
Idee der Paideia. Thematisiert werden: die Altersklassen bei Homer, die
Begründung der geregelten Erziehung bei Kretern und Spartiaten, die
attische Ephebie, die Bedeutung der Jagd für die Sozialisation und
Initiation der jungen Krieger. Dem aus der Ethnologie in vielen Gesellschaften
bekannten Brauch der Zieh- oder Pflegschaft ist ein eigenes Kapitel gewidmet.
Weitere Kapitel befassen sich, mit der Kunst ein Jüngling zu sein
und der Kunst in der Polis zu leben. In der Paideia werden die Erziehung
des Körpers und des Geistes verbunden. Nur bedingt partizipieren die
Mädchen an diesem Modell. Ihrer Erziehung widmet der Verfasser lediglich
drei Seiten, die zudem noch in einem Kontext zur Erziehung der männlichen
Jugend stehen. Eine Untersuchung über die Erziehung der jugendlichen
Krieger kann die homosexuellen Beziehungen zwischen dem Eromenen und dem
Erasten nicht übersehen. Alain Schnapp setzt sich mit den seit dem
19. Jahrhundert diskutierten Theorien der griechischen Homosexualität
auseinander und unterstützt die Auffassung, die in der homosexuellen
Liebe ein besondere Form der Soziabilität sieht.
Augusto Fraschetti entfaltet
die Welt der jungen Römer vom Romulus-Remus-Mythos aus. Am Anfang
der römischen Geschichte stehen zwei Jünglinge. Mit der Stadtgründung
endet die in der Wildnis der Wälder und Berge zugebrachte Lebensphase.
Remus, der mit seinem Sprung über die Mauer den neuen Lebensstil und
den befriedeten städtischen Lebensraum nicht respektierte, wurde gleichsam
im Namen der Zivilisation von dem brüderlichen Stadtgründer getötet.
So wird das Schicksal des Remus zum Symbol des Ausschlusses unzulässiger
Praktiken und Verhaltensweisen aus dem Raum der Stadt. Die Zähmung
der wilden Jugend bildet eine Konstante der römischer Sozialisation.
Fraschetti stellt die verschieden Stufen der Integration der männlichen
Jugend vor und informiert über Feste und Initiationsriten und die
mit ihnen verbundene Erfahrung der Wildnis. Diese endet mit dem Anlegen
der Männertoga. Mit dem Eintritt in die Stadt werden nun Forum und
Kapitol die Bezugsgrößen des jungen Bürgers. Die Bedeutung
des Heerwesens für die Sozialdisziplinierung des jungen Römers
und das Verhältnis zwischen den Jungen und Alten wird ausführlich
gewürdigt. Fraschetti vermutet, dass die vor allem in den westlichen
Provinzen anzutreffenden kommunalen Jugendorganisationen und die von ihnen
veranstalteten Spiele (lusus iuvenum) ursprünglich einen doppelten
Zweck erfüllten: Vorbereitung auf die Teilhabe an der kommunalen Politik
und Kontrolle über eine Alterklasse, deren Energien unter Umständen
gefährlich werden konnten.
Elliot Horowitz informiert
über 500 Jahre Jüdische Jugend in Europa (1300-1800) und stellt
gleich zu Beginn fest, dass für den beschriebenen Zeitraum nicht von
der Welt junger Juden gesprochen werden könne, sondern von recht unterschiedlichen
Welten. Und dies nicht nur hinsichtlich der epochalen Veränderungen,
die in diesen 500 Jahren die Welt überhaupt veränderten. Kulturelle
Unterschiede existierten zwischen den mediterran-sephardischen und den
aschkenasischen Judenheiten in Mittel und Osteuropa, wobei innerhalb des
aschkenasischen Judenheit erhebliche Unterschiede zwischen dem Osten und
Westen vorhanden waren. Die soziokulturellen Differenzen wirkten sich auch
auf die jugendlichen Lebenswelten aus. Allgemein bestand innerhalb der
jüdischen Gesellschaften eine ausgeprägte Geschlechter- und Klassendifferenz.
Andererseits verbindet alle
Juden die Verpflichtung ihr Leben nach der Thora und der Halacha zu gestalten.
Diese Besonderheiten für das Leben junger Juden werden von Horowitz
präzise dargestellt. Wir werden informiert über die Jungen, die
mit 10 Jahren bereits am Wendepunkt ihres Lebens stehen, über das
Heranwachsen unter den Augen des Rabbiners und über die Eheschließung
als Voraussetzung für die volle Akzeptanz als Erwachsener. Besonders
die wohlhabenden Frommen heirateten früh. Ihnen galt die Ehe als eine
moralische Ordnungsmacht, zumal auch der soziale Status eines im Alter
fortgeschrittenen Junggesellen gering war. Ausführlich befasst sich
Horowitz mit den Schwierigkeiten, die die Aufbringung der Mitgift den Brautvätern
bereitete, und den Mitgiftgeschäften, bei denen oft die jungen Ehemänner
von den Schwiegervätern getäuscht wurden.
Horowitz beschäftigt
sich nicht nur mit den jungen Juden der Oberschicht, sondern thematisiert
auch die Rollen der Mädchen und jungen Frauen. Ein größerer
Abschnitt ist den männlichen und weiblichen Dienstbotenkarrieren gewidmet.
Die sexuellen Probleme, die sich aus dem Dienstverhältnis ergeben,
werden eingehend erörtert. Der Beitrag von Horowitz erfasst alle sozialen
Segmente der Lebenswelt junger Juden und Jüdinnen.
Der Beitrag von Christiane
Marchello-Nizia beschäftigt sich mit der fiktiven und exklusiven Welt
des Rittertums und des höfischen Lebens. Auf der Grundlage der volkssprachigen
Literatur - dem höfischen Roman und der chansons de geste - wird die
Lebensweise, der Verhaltenkodex und das Wertesystem der in den Sagenkreisen
um Karl den Großen und König Artus versammelten symbolischen
Gestalten beschrieben und interpretiert. Zwei Vorstellungen beherrschen
nach Marchello-Nizia die europäische Literatur zwischen dem 11. und
16. Jahrhundert: Liebe und Heldentat, Rittertum und höfisches Leben.
Immer sind die Helden Jünglinge oder solche Männer, die Eigenschaften
der Jugend besitzen. Über Jugend und Schönheit verfügen
auch die idealen Frauengestalten dieser Literatur. Die Frau erscheint als
die eigentliche Gestalterin des höfisches Leben und der courtoisie.
Ausführlich wird die
Semantik des Rittertums expliziert. Die von Marchello-Nizia vorgestellten
und gedeuteten Jugendwelten sind fiktive Welten, jenseits der geschichtlichen
Lebenswirklichkeit. Und wie real sind Rittertum und höfisches Leben?
Die Antwort der Verfasserin ist eindeutig: "Höfisches Leben ist gewiss
ein Ideal der Gesellschaft und damit real."
Zu fragen wäre nun
nach der Wirkung dieser Literatur auf die Leser, wobei diese rezeptionsgeschichtlich
zunächst einmal zu erfassen wäre. Bestimmte für das wirkliche
Leben gedachte Implikationen sind aber durchaus aus dem Schicksal der dargestellten
Jünglinge zu erkennen. Ihnen ist es nämlich beschieden "sterben
zu müssen: in exemplarischer Weise und wenn möglich ästhetisch
zu Nutz und Frommen der Institution, um das Leben der Gruppe zu sichern."
Hier ist noch ein weites Feld zu bearbeiten: der schöne Schein und
die hässliche Wirklichkeit.
Christiane Marchello-Nizia
hat in einer anregenden und reich dokumentierten literaturwissenschaftlichen
Analyse Rittertum und höfisches Leben vorgestellt und die ideelle
Rolle der Jugend und die Funktion von Jugendlichkeit dargelegt. Ihren Hinweisen
zur Mentalitätsgeschichte sollte über die symbolische Ebene hinaus
nachgegangen werden.
Ohne Anführungszeichen
stellt Elisabeth Crouzet-Pavan ihre Studie zur Jugend im mittelalterlichen
Italien (13. bis 15. Jahrhundert) unter den abgewandelten Baudelaire`schen
Titel: Eine Blume des Bösen.
Es sind nicht nur Bußprediger
wie Bernhardin von Siena und Savonarola, welche die Zügellosigkeit,
die Verderbtheit der Sitten, die Verschwendungssucht, die Spottlust und
die Gewalttätigkeit der männlichen Jugend und der jungen Männer,
der età di 30 in 35 anni, in scharfen Worten geißeln. Auch
die von Crouzet-Pavan herangezogenen Chroniken malen ein "rabenschwarzes
Bild" der Jugend und verurteilen das ausgelassene Treiben der jugendlichen
Kohorten. Auch in den Akten der Justiz findet die Verfasserin zahlreiche
Belege für gewalttätige Übergriffe der giovani. Neben den
giovani tadeln Bernardin und Savonarola noch einen weiteren, ihnen unliebsamen
Stand: die Frauen. Beide wurden für dieselben Schwächen gescholten,
für denselben Mangel an Zucht in Worten, Taten und Vergnügungen.
Gegen beide Gruppen mobilisierte Savonarola seine stets gewaltbereiten,
gut organisierten Kinderscharen.
Die in den Quellen auf der
Ebene der historia rerum gestarum dargestellten negativen Jugendbilder
werfen einige Fragen auf. Spiegeln sie die Wirklichkeit der jugendlichen
Lebenswelt wider oder nur die negativen Projektionen besorgter Erwachsener
? Wie steht es um die Verfasstheit einer Gesellschaft, die solche Blüten
des Bösen hervorbringt? Wie verhalten sich diejenigen, die über
die Macht und die Ressourcen verfügen? Offensichtlich konnte die Autorin
im engen Rahmen dieser Studie Fragen dieser Art nicht näher treten.
Es würde sich gewiss lohnen diese in einer generationenübergreifenden
Studie zu untersuchen. Crouzet-Pavan verschließt sch überdies
nicht dem gesellschaftlichen Konnex jugendlichen Handeln. So weist sie
auf den radikalen Protest des heiligen Franz von Assisi hin. Dieser bedeutete
ja nicht nur die Abkehr von den Zerstreuungen der privilegierten giovani,
sondern richtete sich vor allem auch gegen die in den Vätern konfigurierte
gesellschaftliche Ordnung. Auch die beschriebene Inanspruchnahme der Jugendkohorten
durch die Adelshäuser, den Hof und die Kommune weist auf das soziale
Gefüge hin, aus dem sich die Aktionen der Jugendlichen erklären.
Die kriegerischen Spiele, die die Kommunen bei den großen lokalen
Festen, beim Besuch hoher Persönlichkeiten und anderen außergewöhnlichen
Ereignissen anordneten, wurden von den Brigaden der Jugendlichen durchgeführt.
Die Klage über die
Exzesse und Regelverletzungen der Jugend spiegelt auch den langen Prozess
der Zivilisierung und der Zähmung der Gewalt durch die neuen, das
Gewaltmonopol beanspruchenden kommunalen und etatistischen Ordnungsmächte
wider. Die Anwendung von Gewalt, die einst die soziale und symbolische
Rolle vor allem der jungen Leute aus den Adelsfamilien und ihres Anhanges
konturierte, galt nun als obsolet. Diese am Schluss des Aufsatzes geäußerte
Ansicht besitzt eine hohe Plausibilität.
Embleme, Attribute und Inszenierungen
der Jugend in der mittelalterlichen Darstellung behandelt Michel Pastoureau
in einer interessanten Studie, deren Aussagen, durch 22 authentische Abbildungen
belegt, überprüfbar und nachvollziehbar sind. Einbezogen in den
ikonologischen Befund werden die Diskurse des 14. und 15. Jahrhunderts,
die sich mit der Klassifizierung und Bewertung der Lebensalter befassen.
Es sind vor allem die Vorstellungen, die man sich im Mittelalter von der
Jugend machte, die von Pastoureau untersucht werden. Ermittelt wird die
in Bildern dargestellte "Idee der Jugend" und ihre ikonologische Inszenierung.
Der Autor entziffert den Code, die Attribute und die Verfahren, die verwendet
wurden, um die Jugendlichen von anderen Personen abzugrenzen. Da mittelalterliche
Bilder stets auch über sich hinaus verweisen, fragt Pastoureau nach
dem verborgenen Sinn, der sich mit der Gestalt des Jugendlichen verbindet
und fragt weiter, wofür die jeweilige Jugendgestalt steht. Schwieriger
als die Entzifferung des religiösen Sinns gestaltetet sich die Aufdeckung
des realen Gehalts, der eventuell ausgedrückten Gefühle und der
angesprochenen sozialen Ethik. Dem Autor gelingt es, die aufgeworfenen
Fragen im Rahmen der ihm zu Verfügung stehenden methodischen Möglichkeiten
zu beantworten und eröffnet seinen Lesern Einblicke in eine nicht
nur ferne Welt, in eine Welt, die durchaus auch eine aufmüpfigen Jugend
kannte, "eine erregte, laute Gesellschaft", und die ihre Jugend in Diskurs,
Heraldik und Dichtung mit der Farbe Grün, dem Symbol der Lebenskraft
- der viriditas - kennzeichnete.
Nicht fiktive, sondern reale
Jugendliche in Aktion beschreibt und analysiert Norbert Schindler in einer
Studie mit dem provokativen Titel Die Hüter der Unordnung.
Es geht, wie der Untertitel
eröffnet, um Rituale der Jugendkultur in der frühen Neuzeit.
Die Studie gründet auf der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur
zur Volkskultur, zu Karneval, Charivari, Rügebrauchtum, Winterbräuchen,
Haberfeldtreiben und den Schweizer Knabenschaften. Herangezogen wird auch
die Literatur zur Devianzproblematik und Sozialdisziplinierung. Primärquellen
wie Sittenmandate, Ratsverordnungen, Stadtrechte und Visitationsberichte
verleihen der Untersuchung eine gediegene historiographische Grundlage.
Der Verfasser wertet sein Material souverän aus und vereinigt es zu
einer überzeugenden Synthese. Eröffnet wird die Darstellung mit
einer Beschwerde mehrerer protestantischer Pfarrer, die beim Rat der Stadt
Schaffhausen gegen nächtliche Übergriffe (kotverschmierte Türschlösser,
abgehauene Obstbäume) protestieren und eine Abstellung dieses groben
Unfuges forderten. Damit ist das durchgängige Leitthema angeschlagen:
die anonymen Attacken von meist jugendlichen Cliquen gegen unliebsame Personen,
meist ausgeführt mit der stillen Duldung der Erwachsenen. Unterschiedlich
waren die Anlässe, die die jugendlichen Protestaktionen auslösten,
ebenso unterschiedlich die Protestformen, die von scherzhaften Streichen
bis zu kollektiven Charivaris und Rügepraktiken gegen sozialmoralische
Verfehlungen reichten. Die Hüter der Unordnung waren die eigentlichen
lausstarken Hüter einer traditionellen und popularen Ordnung, die
sich einer egalisierenden Modernisierung und Sozialdisziplinierung von
Oben entzog. Sie wendeten sich vor allem gegen die geistlichen Repräsentanten
einer neuen Ordnung: die reformierten Prediger in der Schweiz und die Jesuiten
in Bayern. Die Freiräume die den Jugendlichen stillschweigend zugestanden
wurden, hatten ihren festen Platz im Tagesablauf: Ihnen gehörte die
Nacht. Schindler stellt die Kultur der männlichen Jugendgruppen und
ihre formalisierten Aktionen ausführlich dar und unterzieht die "Jugendstreiche"
einer soziokulturellen Interpretation. Auch im ländlichen Raum hatte
sich schließlich mit der fortschreitenden Alphabetisierung, den sozioökonomischen
Veränderungen und der Konsolidierung der staatlichen Gewalt ein neues
Wertesystem etabliert, das die von den Jugendlichen ausgeübte Volksjustiz
entbehrlich machte.
Renata Ago, die sich mit
den jungen Adligen im Zeitalter des Absolutismus befasst, sieht diese privilegierte,
in ihrem Handlungsspielraum aber sehr eingeschränkte Gruppe, in eine
antithetische Bewegung zwischen väterlicher Autorität und Freiheit
eingebunden. Mit einem Auszug aus Alessandro Manzonis Roman Die Verlobten,
eröffnet sie ihre Studie. Geschildert wird die Gewohnheit des Vaters
der Nonne von Monza, eines vornehmen Mailänder Edelmannes, alle jüngeren
Kinder beiderlei Geschlechts für das Kloster zu bestimmen, um dem
Erstgeborenen das Erbe ungeschmälert zu erhalten. Ausgehend von diesem
Text verweist Renata Ago auf ein Milieu, in dem die Väter eine absolute
Macht ausüben und ohne Rücksicht auf die individuelle Wünschen
der Betroffenen Familienpolitik betreiben und durchsetzen konnten. Dieses
gängige Geschichtsbild wird von Renata Ago zwar nicht grundlegend
revidiert, aber dennoch nicht unerheblich korrigiert. Die von ihr zusammengetragenen
Zeugnisse zeigen eine komplexere und widersprüchlichere soziale Wirklichkeit.
Die standesgemäße Versorgung der Nachgeboren wurde, seit sich
im Verlauf des 16. Jahrhunderts die Primogenitur in den westeuropäischen
Adelsfamilien weitgehend durchgesetzt hatte, zu einem Problem, das intelligentere
Lösungen erforderlich machte als die von Manzoni geschilderte, zumal
in protestantischen Ländern das Kloster als Ausweg nicht zur Verfügung
stand. Die meisten Eltern waren sich durchaus ihrer Verantwortung gegenüber
den nachgeboren Kindern bewusst und setzen mehr auf Überredung als
auf bedingungslosen Gehorsam, zumal besonders in Italien in katholischen
Predigten immer wieder auf die Entscheidungsfreiheit für die Gültigkeit
der Ehe oder des Priesteramtes hingewiesen wurde. Ausführlich befasst
sich Renata Ago mit den Familienpraktiken des "italienischen Modells".
Die Mädchen und Knaben wurden auf ihre zukünftigen Lebensrollen
durch eine auf diese abgestimmte intentionale Erziehung vorbereitet, so
dass sie, herangewachsen , die ihnen zugedachte Rolle so weit verinnerlicht
hatten, dass sie der Familie in der Regel keine Probleme mehr bereiteten.
So weit das Modell und die Erwartungen der Familienoberhäupter. Eine
typische Form des jugendlichen Protestes gegen die zugemutete Lebensrolle
war die heimliche Eheschließung. Renata Ago stellt solche Fälle
vor und weist auf die unterschiedlichen Reaktionen der staatlichen, kirchlichen
und familialen Autoritäten in den italienischen Stadtstaaten, im katholischen
Frankreich und im protestantischen England hin. Renata Agos Studie verbindet
in ausgewogener Form normative Quellen mit konkreten Fallbeispielen.
Giovanni Romano eröffnet
den zweiten Band der Geschichte der Jugend mit einem anregenden Essay über
Jugendbilder in der Moderne, wobei mit der Moderne zeitlich die Großepoche
zwischen dem ausgehenden 15. und frühen 19. Jahrhundert begriffen
wird. 27 abgebildete Jugendbildnisse werden einer knappen Deutung unterzogen.
Romano steht der Aussagekraft der Bilder im Hinblick auf die Chance "etwas
über die Jugendlichen als menschliche und gesellschaftliche Gruppe
zu erfahren" kritisch gegenüber. Der Rezensent sieht sich nicht in
der Lage, zu beurteilen, ob dies ein grundsätzliches Problem oder
ein Problem der angebotenen Bilderwahl ist. Eindringlich warnt der Autor
vor unzulässigen aktualisierenden Interpretationen von Bildzeugnissen,
vor einem Verfahren, das von den Kunsthistorikern längst aufgegeben
worden, nun aber bei Kulturhistorikern erneut in Mode gekommen sei. In
seiner chronologischen Übersicht stellt Romano fest, dass es Leonardo
da Vinci gewesen sei, der erstmals Gefühlsregungen des Menschen in
sinnlicher Form dargestellt habe. Im Verlauf des 16. Jahrhundert seien
bei den Jugendbildnissen die Merkmale der Jugendlichkeit allmählich
hinter die der Standeszugehörigkeit zurückgetreten. Carravaggio
habe mit seinen Genrebildern im 17. Jahrhundert eine "kulturelle Revolution"
ausgelöst. Im 18. Jahrhundert und der Romantik habe sich in der Malerei
der Gedanke durchgesetzt, in der Natur lägen ursprüngliche Reinheit
und Tugend verborgen und das Jugendalter sei das am wenigsten von der Zivilisation
berührte. Mir scheint, dass Romano diese doch eher auf die Kindheit
bezogene Theorie zu undeutlich auf das nicht mehr so naive Jugendalter
überträgt. Romano konstatiert eine Zunahme der Jugendbildnisse
und weist auf die Doppelbildnisse und Freundschaftsbilder hin, die eine
neue Solidarität der Jüngeren gegenüber der feindlichen
Welt der Älteren erkennen ließen.
Der Krieg hat ein jugendliches
Antlitz. So lautet, in Anspielung auf Vorstellungen von Gabriele D`Annunzio
der erste Satz der Studie von Sabina Loriga über die Militärerfahrung
junger Männer. Erst mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht
bevölkerten junge Männer die Armeen, während in den stehenden
Heeren des 17. und 18. Jahrhunderts vorwiegend Soldaten jenseits des Jugendalters
dienten. Sie galten als zuverlässiger, stabiler und erfahrener als
junge Leute. Dennoch hatten die Heere, besonders in Frankreich und trotz
der allmählichen Einrichtung von Altersgrenzen, noch lange Zeit Jugendliche
in sehr jungem Alter aufgenommen. Am Beispiel Frankreichs und Italiens
zeigt Sabina Loriga auf, wie die Wehrpflicht von den Jugendlichen aufgenommnen
und welche Praktiken angewandt wurden, um sich ihr zu entziehen. Allerdings
spielte die Armee auch ein wichtige Rolle bei der Alphabetisierung der
männlichen Bevölkerung. Der Gedanke, dass der Offizier als "Lehrer
der Nation" auch für die moralische Erziehung der Bürger verantwortlich
sei, wurde nicht nur in Frankreich von Militärpädagogen vertreten.
Besonders nationalistische Gruppen stellten die Militärzeit als eine
soziale und affektive Grenze zwischen Jugend und Erwachsenenalter und als
Ort der Initiation dar. Damit verbunden waren der Kult der Männlichkeit
und sein Rituale.
Das am Anfang angeführte
Zitat evoziert bewusst die Vorstellung eines heldenhaften Todes auf dem
Schlachtfeld. Die Rhetorik vom männlichen Tod, die in allen europäischen
Nationen gepflegt wurde, erwies sich angesichts der Materialschlachten
des Ersten Weltkrieges als schwülstiges und leichtfertiges Pathos
und als ein Verbrechen nicht nur an der jungen Generation: Ein Antlitz
wurde zur Fratze.
Daniel Fabre beschreibt in
seinem Beitrag Burschen, Mädchen und das Volksfest eine Jugend in
Aktion. Sein Untersuchung gehört zu den wenigen in dieser Geschichte
der Jugend, in der nicht nur über die Jugend nachgedacht und Vorstellungen
und Jugendbilder reflektiert werden, sondern eine konkrete Jugend in einer
konkreten Situation vorgestellt wird. Dargestellt wird die Rolle der Burschen
und Mädchen bei der Planung, Organisation, Gestaltung und Durchführung
des jährlichen Volksfestes, das zugleich das Kirchweihfest (fête)
ist, in einem Dorf der Montagne Noire im Jahr 1960. Die Jugend agiert hier
nach ähnlichen Ritualen wie sie Norbert Schindler ("Die Hüter
der Unordnung") beschrieben hat. Sie handelt als eigene, von der Dorföffentlichkeit
anerkannte Instanz. Das lokale Volksfest gilt als das "temporäre Reich"
der Jugend. Beide Geschlechter spielen in diesem Reich ihre vorgegebenen
und unterschiedenen Rollen. Fabre schildert in dichter Beschreibung die
Stationen und den Verlauf dieses Festes und stellt diese unter die sprechenden
Titel: Unter dem grünen Dach - Die wohltemperierte Courtoisie - Die
Nacht der Burschen. Die seit der frühen Neuzeit bekannten Aktionen
feiern in dieser Nacht fröhliche Urständ: Schabernack, Charivari,
Schimpf und Spott in jeder Form, jedoch stets innerhalb des von der Dorfgemeinschaft
noch tolerierten Rahmens. Die Jugendlichen sind auch hier die Träger
sozialer Kontrolle, die Hüter der (Un-)Ordnung. Mit der Farandole
und ihrer harmonischen Unordnung endet das Fest. Das Dorffest kultiviert
nicht nur das überlieferte Brauchtum. Es ist auch der Ort der Präsentation
des Neuen und Modischen und der Ort des galanten Aufeinanderzugehens von
Burschen und Mädchen. Fabre sieht in diesem aus vorindustrieller Zeit
stammenden Fest, ein Mittel für die Konstitution des gemeindlichen
Zusammenhaltes und für die Selbstkonstruktion der Jugendlichen als
fertige Erwachsene und Dorfbewohner.
Jugend werde im 19. Jahrhundert
weitgehend mit der akademischen Jugend und den demokratischen oder nationalistischen
Auseinandersetzungen identifiziert, während die Jugendlichen aus dem
Arbeitermilieu, denen Gymnasium und Universität verschlossen waren,
weniger mit dem Begriff Jugend in Verbindung gebracht worden seien. Auf
diese vergessene Arbeiterjugend macht Michelle Perrot unter der Überschrift
Zwischen Werkstatt und Fabrik aufmerksam.
Die mit 14 Jahren aus der
Volkschule entlassenen Halbwüchsigen traten sofort und meist als Schwerarbeiter
in die Arbeitswelt ein, die ihre körperlichen, geistigen, sozialen
und psychischen Kräfte voll absorbierte. Sie hatten ebenso wenig eine
Jugend wie die schwer arbeitenden Kinder in den Ländern der 3. und.
4. Welt von heute. Ihnen fehlte die Latenz- und Formationsphase der bürgerlichen
Jugend, die eine günstige Voraussetzung für die Soziabilität
und Selbstbestimmung bildet. Diese Jugend hatte innerhalb der Arbeiterfamilie
und der Arbeiterklasse keine Chance, sich selbst zu bestimmen. Von ihr
wurden Gehorsam und Arbeit erwartet. Michelle Perrot geht den Vorstellungen
nach, die sich die Gesellschaft von diesen Jugendlichen machte, deckt deren
Ängste vor dieser Jugend auf und beschreibt die typischen Lebensabläufe.
Des weiteren schildert die Autorin die Härte und die Gewalt in den
Werkstätten, die den „Lehrlingen“ nur die Wahl ließ zwischen
Auflehnung und Ausreißen oder der stummen Unterwerfung, um später
selbst die einmal erfahrene Repression an den noch Schwächeren aggressiv
abzuleiten. Mehr als die Werkstatt begünstigte die Fabrik kollektive
Aktionen von Jugendlichen. Sie beteiligten sich eher an Streiks und sammelten
sich um “Rädelsführer“. Michelle Perrot behandelt ausführlich
das Leben in der Arbeitersiedlung und verweist auf die Präsenz der
Familie und den in ihr herrschenden „Kult des Vaters“. Sein autoritäres
Vorbild wurde von den Jungen reproduziert, während die Mädchen
der Arbeiterklasse sozial und sexuell in sich sämtliche Nachteile
vereinigten. Ausführlich geht die Autorin auf die Welt der Arbeiterinnen
ein und gibt Auskunft über die Liebe, die Ehe und die Ehe ohne Trauschein.
Die Quellenlage für eine Geschichte der Arbeiterjugend gestaltet sich
insofern schwierig, weil diese Jugend sich im Gegensatz zur bürgerlichen
Jugend kaum selbst artikulierte. Diese Jugend wird in den Quellen eher
vorgestellt. Michelle Perrot ist es dennoch gelungen die Oberfläche
dieser Quellen – es handelt sich vorwiegend um formelle und informelle
Enqueten, um Presseberichte, Gerichtsakten und Autobiographien – zu durchdringen.
Die beachtliche Sekundärliteratur wurde konsequent konsultiert und
ausgewertet.
Jean-Claude Caron wendet
sich dem bevorzugten und sprechenden Teil der Jugend zu: den Gymnasiasten
in Frankreich und Europa. Der Obertitel Jugend und Schule verweist auf
das dieser Jugend eingeräumte Privileg einer Latenz- und Formationsphase,
denn die Schule, die Caron vorstellt, war nicht die Schule des Volkes.
In den Enqueten wird für die kommunalen höheren Schulen, die
collèges, der Anteil von Arbeitersöhnen über das 19, Jahrhundert
hinweg auf 2-2,5 % beziffert und auf nur 1,5 % für die elitäreren
staatlichen Schulen, die lycées. Vom Ancien régime bis zum
Ende des 19. Jahrhunderts wurde durchgängig die Furcht artikuliert,
zuviel Unterricht für die Massen des Volkes könne das soziale
und ökonomische Gleichgewicht stören, da eine zu hohe Zahl von
Gebildeten Arbeitslosigkeit und damit Aufruhr und Revolution provoziere.
Caron geht der Entstehung
nationaler Erziehungen in den europäischen Staaten nach und der Entdeckung
der Jugend als nationaler Wert. Eng damit verbunden war die Diskussion
um das Verhältnis von Familie und Schule. Caron konstatiert eine zunehmende
Verlagerung der Sozialisation von der Familie auf die Schule (Die Schule
gegen die Familie). Dies gelte auch bedingt für die Volksschule, die
im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht nur in Frankreich konsequent ausgebaut
wurde. Der Besuch des Gymnasiums setzte den Abschluss der Volksschule und
eine finanzielle Wohlsituiertheit der Familie voraus, die es ihr erlaubte,
das Schulgeld und die sonstigen Aufwendungen zu bezahlen und auf die Arbeitskraft
des Kindes zu verzichten.
Die Lehrinhalte in den Gymnasien
waren weiterhin dem griechisch-lateinischen Bildungskanon des Ancien Régime
verpflichtet und reproduzierten vor allem in Frankreich eine intellektuelle
Elite, die sich von den Pas latins abgrenzte und damit auch von Absolventen
solcher Schulen, in denen Realien, moderne Fremdsprachen oder berufliche
Fertigkeiten gelehrt wurden. Das Leben in den Höheren Schulen stellt
der Verfasser unter den sprechenden Titel Das collège oder die Einschließung
von Körper und Geist. Der Unterricht wurde bestimmt durch den magistralen
Vortrag; das Schulleben vollzog sich nach dem Prinzip von Strafe und Belohnung
(Lorbeerkranz und Rute). Auflehnung und Widerstand wurden zwar gewaltsam
unterdrückt, kamen aber immer wieder vor. Die jugendliche Violenz
richtete sich im Alltag gegen einzelne Lehrer und gegen Mitschüler.
„Mobbing“ war üblich. Anhand von Beispielen aus der Literatur werden
die Sexualität und die affektiven Bedürfnisse der in den Internaten
eingeschlossenen Jugendlichen vorgestellt und reflektiert.
Dass von 66 Textseiten nur
acht der schulischen Sozialisation der weiblichen Jugend gewidmet sind,
weist nicht auf eine Blickverengung des Autors hin, sondern spiegelt die
gesellschaftliche Realität des 19. Jahrhunderts wider. Nur allmählich
setzte sich eine höhere Schulbildung auch für die weibliche Jugend
durch. Caron beschreibt und erläutert unter dem provokativen Titel
Die Parias der Menschheit eindringlich die retardierende Entwicklung der
höheren Mädchenschulen.
In collège und lycée
wurden – dies ist die abschließende Wertung von Jean-Claude Caron
– durchaus Individuen erzogen, die den Normen der „neuen Gesellschaft“
– Leistung, Verdienst, Konkurrenz, Erfolg usw. – voll entsprachen.
Caron stützte sich
für seine interessante und informative Studie auf die Belletristik,
die Memoiren- und Debattenliteratur und auf einschlägige wissenschaftliche
Untersuchungen französischer und englischer Provenienz.
Sergio Luzatto stellt seiner
Untersuchung über die Jungen Rebellen und Revolutionäre zwischen
1789 und 1917 einen Ausspruch von George Sand voran: Die Revolution hat
das Alter erfunden. Nicht allein die Erfindung der Jugend gehörte
zu den widersprüchlichen Erscheinungen der Großen Revolution
und der Revolutionen, die sich auf sie beziehen. Während die
Jakobiner die in ihrem Sinn erzogenen Jugendlichen frühzeitig zu erwachsenen
Revolutionären machen wollten, legten nach Ende der Jakobinerherrschaft
die Thermidorianer, die im übrigen von den Muscadins der Jeunesse
dorée im Kampf gegen die Jakobiner unterstützt wurden, eine
deutlich von Kindheit und mittlerem Erwachsenenalter geschiedene Altersklasse
juristisch fest. Gleichzeitig etablierte sich mit der "Geburt des Greises"
( J.-P. Gutton: Naissance du veillard. Paris 1988) die Herrschaft der Alten.
Am Beispiel der Altersgrenzen für die Wählbarkeit und das Wahlrecht
in Frankreich verdeutlicht Luzatto die unterschiedliche öffentliche
Wertschätzung der Jugend. Offensichtlich war auch den bürgerlichen
Reformern und Revolutionären die Spontaneität der Jugend nicht
geheuer. Luzatto weist darauf hin, dass von der französischen und
italienischen Karboneria bis zu den deutschen Wandervogel-Bünden und
ihrem Protest gegen das wilhelminische Bürgertum die Jugend weitgehend
als unruhig und rebellisch empfunden wurde. Diese unruhige Jugend wird
jedoch nicht in Aktion dargestellt. Mehr als die tatsächliche Präsenz
der Jugendlichen in den verschiedenen europäischen Revolutionen geht
es Luzatto um ihre „imaginierte Präsenz“. So stehen denn auch nicht
in erster Linie die Jugendlichen im Mittelpunkt, die an revolutionären
Handlungen beteiligt waren oder sich in einer der zahlreichen Protestbewegungen
artikulierten, „sondern all diejenigen Rebellen und Revolutionäre
jeglichen Alters, die sich jung fühlten und als Junge kämpften“.
Und diese "grauen Bärte" stellten in der Protestgesellschaft durchaus
keine Quantité négligeable dar.
Jugend wird somit zu einem
die Generationen übergreifenden Topos, der besonders von den totalitären
Bewegungen des 20. Jahrhunderts aufgegriffen und zu einem Kult „ewiger
Jugend“ hochstilisiert wurde. Zwischen den sich permanent jung fühlenden
Altrevolutionären und den nachgeborenen Jungen - den "braunen Bärten"
- bestand ein ambivalentes Verhältnis. Neuere von Luzatto herangezogenen
Ergebnisse der sozialgeschichtlichen Forschung korrigieren denn auch das
Bild einer stets vorwärts gewandten und revolutionären Jugend.
Der von Luzatto verfasste Abriss der Geschichte der jungen Rebellen und
der oft nicht mehr jungen Revolutionäre ist gleichzeitig eine Geschichte
der Rezeption der Großen Französischen Revolution, ihrer Mythen
und Riten, und ihrer Faszination auf die europäischen Revolutionäre,
die zudem meist als Emigranten in Paris lebten. Luzatto versammelt die
gesamte revolutionäre Prominenz und ihre Gegner in seiner facettenreichen
Geschichte einer unruhigen und rebellischen Jugend und zeigt auf der Grundlage
von Aufzeichnungen, Briefen, Memoiren, Romanen und der zeitgenössischen
Historiographie die Vorstellungen auf, die sich die Gesellschaft im allgemeinen
und die im Lebensalter fortgeschrittenen Revolutionäre jeden Alters
und jedweder Couleur im besonderen von der Jugend machten.
Ihren Beitrag über die
Jugend im italienischen Faschismus stellt Laura Malvano unter die Überschrift
Jugendmythos im Bild. Es geht auch in diesem Beitrag um die imaginierte
Jugend, und zwar einerseits um deren bildnerische Darstellung im eigentlichen
Sinne und andererseits um Jugendbilder im uneigentlich-metaphorischen Sinne:
um die Denk- und Wunschbilder, die der Faschismus von der Jugend entwarf
und den Werten und Leitbildern, die er damit verband. Beide Bildbegriffe
konturierten einen Jugendbegriff, der jede historische und generationengebundene
Bedeutung überstieg. Er stand, wie Laura Malvano betont, „für
das Idealmodell einer Lebensnorm“. Ein von der Verfasserin zitierter Aufsatz
vom 10. Februar 1932 in der Zeitschrift Gioventù Fascista präzisiert
diese Vorstellung von Jugend bereits programmatisch in der Überschrift:
La giovinezza è un simbolo. Die Botschaft aber lautet im Klartext:
„ Der Faschismus ist Jugend, das unerbittliche Gesetz der Zeit aber ist
das Altern.“
Laura Malvano weist nach,
wie dank einer geschickten Propaganda der vielgestaltige Begriff der Jugend
zu einem konstituierenden Element des Systems wurde und sich jedweder historischen
oder soziologischen Konnotation entäußerte. An 33 ausgewählten
Bildbeispielen erkundet die Autorin deren Aussage und Wirkabsicht. Die
Sujets der ausgewählten Bilder werden in motivverwandten Einheiten
angeordnet und kontextuell interpretiert: Der Jüngling „von schöner
Gestalt“ - Der Athlet als Symbol des faschistischen Stils - Das „junge
fruchtbare“ Volk - „Der Duce ist der Jüngste von uns allen“ - Die
Jugend in Uniform. Die große Bildervielfalt, die abwechslungsreichen
Bildtypen und die sie begleitenden vielfältigen verbalen Artikulationsformen
konstruierten eindringlich den Mythos einer lichten Jugend im Faschismus.
Laura Malvano hat die Elemente, aus denen dieser Mythos sich aufbaut, ermittelt
und die Vielheit seiner bildlichen Ausdrucksformen ansprechend und quellennah
herausgearbeitet und situationsbezogen durchleuchtet.
Die Jugend im Dritten Reich
steht unter ähnlichen Vorzeichen wie die Jugend im italienischen Faschismus.
Sie wird ebenfalls als eine imaginierte und mystifizierte Jugend vorgestellt.
Sie transzendiert, losgelöst von Zeit und Raum, die konkret vorfindliche
Jugend und steht zugleich als Synonym und Metapher für den Nationalismus.
Éric Michaud untersucht diese Jugend unter der Perspektive Soldaten
einer Idee und weist an einschlägigen Zitaten nach, dass im Nationalsozialismus
der Begriff der Jugend positiv besetzt war und Alter (Gregor Strasser 1927:
Macht Platz, ihr Alten! Baldur von Schirach 1934: Fort mit dem Alten!)
eine negative Konnotation erfahren hatte. Selbstverständlich strahlte
der „Führer“ ewige Jugend aus und die morschen Knochen sollten zittern
vor dem Andrängen der Jugend und der neuen Zeit.
Über die Schule und
die Hitlerjugend suchte der rassistische Staat die deutsche Jugend im nationalsozialistischen
Geist zu erziehen. Die Rassenlehre wurde auf dreifache Weise in den Bildungsprozess
eingebunden. Sie war Erziehungsziel, Unterrichts- und Schulungsprinzip
und Unterrichtsfach. Sowohl in den Schulen als auch in den nationalsozialistischen
Jugendorganisationen wurden die Jugendlichen angehalten, sich mit dem Führer
zu identifizieren und seinen Wunsch zu erfüllen. Von den Mädchen
und jungen Frauen wurde erwartet, dass sie „dem Führer ein Kind schenken“
und so als „Soldatinnen einer Idee“ ihre rassische und nationale Pflicht
erfüllten. Éric Michaud rekonstruiert diese Implikationen und
ihre konkreten Bezüge zur nationalsozialistischen Lebenswelt auf der
Grundlage von zahlreichen originalen Schrift- und Bildquellen. Darüber
hinaus spricht er die konkurrenzorientierte Dynamik an, die sich auf alle
Gliederungen des nationalsozialistischen Systems erstreckte. Er weist auch
auf die jugendliche Minderheit hin, die sich im aktiven Widerstand (Beispiele:
Weiße Rose; Edelweißpiraten) oder in passiver Opposition (Swingjugend)
zum nationalsozialistischen System und seiner totalen Vereinnahmung befasst.
Diese Jugend, die eine Gegenwelt zum Jugendmythos der Nationalsozialisten
bildete, stellt der Verfasser in Aktion und im konkreten Lebensvollzug
dar. Nicht in den Jugendmythos passten die rassisch verfolgten Jugendlichen:
die Juden und die Sinti und Roma. Sie kommen auch bei Éric Michaud
leider nicht vor.
Im Beitrag von Luisa Passerini
werden konsequent die Personen und Personengruppen behandelt, die über
die Jugend geredet und geschrieben haben. Es geht also um die Metageschichte
der Jugend. Ausdrücklich lehnt es die Autorin ab, die Geschichte der
tatsächlichen Jugend historisch zu rekonstruieren. Nur die imaginierte
Jugend interessiert. Der Titel ist Programm: Jugend als Metapher für
gesellschaftliche Veränderung. Dargestellt wird dies an der Jugenddebatte
in zwei unterschiedlichen und gegenläufigen Systemen: dem faschistischen
Italien und den Vereinigten Staaten der fünfziger Jahre. Passerini
stellt die Kontroversen über die Jugend, die in beiden Gesellschaften
geführt wurden, nebeneinander. Eine vergleichende Gegenüberstellung
wird nicht angeboten. Dies wird mit der unterschiedlichen Quellenlage begründet,
die im Falle der Debatte im Faschismus sich weitgehend auf primäre
Quellen stütze, während die Darstellung der amerikanischen Jugenddebatte
vorwiegend auf sekundären Quellen beruhe. Abgesehen davon, dass wissenschaftliche
Untersuchungen, die in den fünfziger und sechziger Jahren zur Jugendfrage
in den USA veröffentlicht wurden, ebenso primäre Belege für
einen geführten Diskurs darstellen wie die Artikel in den faschistischen
Zeitschriften, scheint mir die Weigerung der Verfasserin, einen Vergleich
vorzunehmen, schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil die Ergebnisse als
das aus den Quellen Ermittelte durchaus für einen Vergleich bereitstehen.
Die Aufzeichnung zweier gegenläufiger Debatten in einem Aufsatz sollte
das Aufspüren von Gemeinsamkeiten und Differenzen nicht allein dem
Leser überlassen. In ihren methodischen Vorbemerkungen nennt Passerini
denn auch formale Konstanten, die in beiden Gesellschaften auch die Debatte
über die Jugend beeinflussten: die Eingebundenheit in die jeweilige
Gesellschaftsideologie und, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung,
die kapitalistischen Vorgaben. Beide Gesellschaften teilten die Illusion,
man könne Werte früherer Zeiten wieder mit Leben erfüllen,
wie etwa die Familie, die Gemeinschaft, das Vaterland, wobei die Inhalte
dieser Illusion zwar verschieden seien, die technischen Lösungen sich
aber wiederum ähnelten. Gemeinsam sei auch die Ablehnung des Fremden
gewesen, weil man dahinter Abnormalität und den Bruch mit der Gesellschaft
vermutete. In beiden Gesellschaften habe die Debatte um die Jugend eine
tiefe Krise offengelegt, wobei diese im demokratischen System der Vereinigten
Staaten voll zum Ausbruch gekommen sei und zu einer kritischen Betrachtung
der westlichen Demokratie und ihrer Begrenztheiten geführt habe, im
faschistischen Italien habe die Debatte um Jugend „die Wurzeln der Schwäche
jeglicher Form von Totalitarismus freigelegt“.
Die Gleichsetzung von Faschismus/Jugend
und Jugend/Krieg hatte über Propaganda und Metaphorik hinaus auch
einen realen demographischen Hintergrund. Die faschistischen Führer
gehörten der Kriegsgeneration an, wurden zwischen 1890 und 1900 geboren
und organisierten die faschistischen Aktionen der Kampfzeit. 1924 waren
von 220 faschistischen Abgeordneten 146 nicht älter als 40 Jahre.
In den zwanziger Jahren erfolgte die Gründung der paramilitärischen
faschistischen Jugendorganisationen. Damit wurde die totalitäre Sozialisation
der Generation, die weder am Ersten Weltkrieg noch am Marsch auf Rom teilgenommen
hatte, eingeleitet. Zugleich sollte eine neue politische Elite herangezogen
werden. Die Debatte konzentrierte sich um die von Giuseppe Bottai herausgegebene
Zeitschrift Critica fascista und erfuhr ein unterschiedliches oft polemisches
Echo in der faschistischen Presse und in den Jugendzeitschriften. Sie verfolgte
zwei nicht immer unterscheidbare Richtungen. Es ging zum einem um die „Ämterfrage“,
d.h. um die Postenvergabe und die Karrieren junger Faschisten, zum anderen
um die innere Erneuerung des Faschismus. Im Namen der Jugend und der ihr
zugeschriebenen Ideale wurde Kritik an der Praxis des faschistischen Regimes
zum Ausdruck gebracht. Luisa Passerini beschreibt detailliert diese Debatte,
in die Mussolini selbst eingegriffen hatte, und weist nach, dass die Debatte
über die Jugend indirekt eine Debatte über die Krise, insbesondere
über die ideologische, des faschistischen Systems war. Jugend wurde
zur Metapher für Vitalität, Bewegung, Enthusiasmus, Originalität,
Erfindungsreichtum, für Kampf und Erneuerung schlechthin und gegen
Sattheit, Erstarrung und bürgerliches Behagen reklamiert und mobilisiert.
Anderseits wurden auch die Anpassung und das egoistische Karrierestreben
angeprangert.
Parallel zur Debatte über
die Jugend befasste sich die italienische Filmproduktion mit der Jugendthematik.
Die Gleichsetzung von Jugend und Modernität trat in unterschiedlichen
Varianten auf. Jugendliche Figuren wurden mit dem immer wiederkehrenden
Motiv der Lebensentscheidung konfrontiert, wobei stereotyp ein laszives
Leben einem tüchtigen und tätigen gegenübergestellt wurde.
Meist waren es weibliche Figuren, die Einfluss auf die existenzielle Entscheidung
der männlichen Protagonisten nahmen. Passerini untersucht etwa 12
Filme auf ihre gesellschaftliche Aussage und gelangt zu dem Ergebnis: Die
Jugendlichen verkörpern zum einen die gesellschaftlichen Ängste
(z.B. Arbeitslosigkeit; Sinnlosigkeit des Lebens) und stehen zum anderen
für eine positive Zukunft.
Luisa Passerini sieht die
Jugenddebatte in den Vereinigten Staaten angesiedelt zwischen der Forderung,
den Heranwachsenden die Freiheit und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung
zu gewähren, und dem Anspruch die kreativen Impulse der Jugend zu
vereinheitlichen, zu kollektivieren und in die Gesellschaft zurückzulenken.
Eine Kodifizierung der Jugendzeit als eigener Lebensabschnitt sei nach
dem Zweiten Weltkrieg erfolgt und mit Begriff des teenager verbunden worden.
Das Schlüsseljahr für die Formierung der Teenager sei das Jahr
1955 gewesen. Passerini schildert den Siegeszug der Teenager und analysiert
die parallel laufende öffentliche Debatte über die Jugend, an
der sich Psychologen, Pädagogen, Soziologen, Justizbeamte und Politiker
beteiligten. Gefragt wurde, wie man der sichtbar geworden Andersartigkeit
der Jugend begegnen könne und welche Verantwortung man für eine
fremd gewordene Jugend trage. Die jugendliche Sexualität wurde erstmals
öffentlich thematisiert, zumal sie gleichzeitig Ausdruck der Jugendrevolte
war. Den Diskurs über die Jugend in den USA ergänzt Passerini
wie am Beispiel des faschistischen Italien mit zeitgenössischen Filmen,
in denen sich die Auseinandersetzung um die Jugend besonders eindruckvoll
äußerte . Analysiert werden u.a. Kultfilme wie On the Waterfront
(1954) mit Marlon Brando; East of Eden (1955) und Rebel Without a Cause
(1955) mit James Dean; Baby Doll (1956) mit Caroll Baker. Neben diesen
Teenpics bildete die Schallplatte ein weiteres Medium, in dem sich die
neue Jugendkultur ausdrückte, und vermittelte vor allem über
Stars wie Elvis Presley die Andersartigkeit des neuen „Jugendstils“.
Zum Abschluss ihrer Studien
zur Debatte über die Jugend meditiert Luisa Passerini über die
Möglichkeit eine Metaphysik der Jugend zu schreiben, verbunden mit
einer Analyse ihrer Kontinuitäten und Brüche und formuliert als
Forschungsaufgaben u.a. die Vorgeschichte der angeführten Debatten
sowie die Kontinuitäten und Brüche zwischen der Jugendkultur
der fünfziger Jahre und der Studentenbewegung in der zweiten Hälfte
der sechziger Jahre. Und: eine vergleichende Analyse der verschiedenen
Debatten und ihres soziokulturellen Kontextes an unterschiedlichen Orten
und zu unterschiedlichen Zeiten!
Der renommierte Jugendforscher
Jürgen Zinnecker, der mit Studien zur Jugendkultur und zur Lebensphase
Jugend im internationalen Vergleich, vor allem aber durch seine Mitarbeit
am Jugendwerk der Deutschen Shell und den von diesem herausgegebenen Enqueten
zur Jugendfrage, hervorgetreten ist, beschließt die 2500 Jahre umfassende
Geschichte der Jugend mit einer Übersicht über das Jungsein in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die er unter den Haupttitel
Metamorphosen im Zeitraffer stellt. Ihn interessiert die Einpassung der
Jugend in die europäische Dienstleistungskultur. Dabei konstatiert
er einen Paradigmenwechsel vom Krieger und Arbeiter zum Sportler und Ästheten.
Das Bild einer streitbaren Jugend sei in den Medien in zwei Erscheinungsformen
präsent: als Streetfighter oder als Friedenkämpfer. Letztere
verkörperten das Gewissen der Gesellschaft, während die subkulturellen
Randgruppen der Skinheads oder Hooligans vom „Zitat der überlieferten
Männerkultur“ lebten. Merkmal der Dienstleistungskultur sei die Modellierung
weiblicher und männlicher Jugendkörper.
Als Konstante des Jungseins
nennt Zinnecker die Verankerung der Jüngeren in der vorgefundenen
Welt und reflektiert den Wandel dieser Welt und seiner Auswirkungen auf
das Jungsein seit 1945. Nach 1945 treten andere Konstrukteure von Jugend
auf: die Massenmedien, die Freizeit und Konsumindustrie, das Bildungs-
und Wissenschaftssystem – und die Jugendlichen selbst. Zinneckers Beitrag,
der mehrfach auf die Einleitung der Herausgeber Bezug nimmt, kann daher
auch als das von diesen nicht offerierte Schlusswort gelesen werden. Wenn
Zinnecker prägnant und durchaus in kategorischer Absicht formuliert
Jugendliche Generationen konstituieren sich in der Gesellschaft über
Jugenddiskurse, verweist er damit auf eine in zahlreichen Beiträgen
thematisierte und in unterschiedlichen geschichtlichen Erscheinungsformen
auftretende Konstante.
Für die Zeitgeschichte
stellt er fest, dass in dem von den Medien seit Jahrzehnten forcierten
Diskurs bestimmte Themen durchgehend präsent seien: Gewalt, Sexualität,
Kriminalität, Suchtverhalten. Horrorgeschichten, die sich ältere
Generationen über die Jugend erzählen, und vermutete Gefahren,
die von der Jugend ausgehen, lassen sich – auch dies wurde in der Geschichte
der Jugend erkennbar - über die Jahrhunderte hin nachweisen. Auch
der von Zinnecker konstatierte “falsche“ Jugenddiskurs, in dem die Jugend
lediglich für den nicht ausgesprochenen allgemeinen politisch-gesellschaftlichen
Diskurs steht, hat Tradition. Ausführlich geht Zinnecker auf das seit
den fünfziger Jahren zu beobachtende Phänomen der Scholarisierung
der Jugendphase ein und der Übertragung des einstigen, kulturellen
Elitemodells auf (fast) alle Mitglieder der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang
macht er auf Paradoxien in den neuen Jugendbiographien aufmerksam:
einerseits die Verlängerung des Bildungsmoratoriums und damit ein
späterer Beginn des Erwerbslebens und der Familiengründung und
anderseits das Bestehen auf dem Status des nicht mehr abhängigen Jugendlichen.
Dies drückt sich auch in der politischen Partizipation, den eigenständigen
Wohnformen, der Selbstinitiation und der Gruppeninitiation aus. Darüber
hinaus imitieren Erwachsene jugendliche Moden und Lebensformen, so dass
sich die Statusdifferenzen zwischen der Postadoleszenz und dem Erwachsensein
verwischen.
Zum Abschluss seiner Phänomenologie
des Jungseins in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fragt Zinnecker,
ob der beschleunigte Wandel innerhalb kürzester historischer Zeit
Momente linearen Voranschreitens enthalte. Er versagt sich eine eindeutige
Beantwortung der aufgeworfenen Frage, sieht allerdings empirisch bestimmbare
linear verlaufende Entwicklungsstränge für den von ihm beschriebenen
Zeitraum: die Tendenz zur Verlängerung der Lebensphase Adoleszenz
und ihrer Verschulung bei gleichzeitiger Schrumpfung des Anteils von Jugendlichen
an der Gesamtbevölkerung in einer demographisch alternden Gesellschaft.
Er erkennt allerdings – und hierin befindet er sich im Konzens mit den
Herausgebern -, dass diese Linearität keine historische Relevanz hat.
Daher haben die Herausgeber durchaus zu Recht ein Konzept des linearen,
geradlinigen Fortschreitens für ihre Geschichte der Jugend abgelehnt
und den Autoren eine eher zyklische Betrachtungsweise historischer Phänomene
empfohlen. Dieser zyklische Charakter des Jungseins, den auch Zinnecker
für historische Epochen durchaus anerkennt, kann jedoch bestimmte,
mit dem Jungsein verbundene Konstanten (biologische Befindlichkeit, jugendliche
Liminalität und Unruhe usw.) nicht verkennen. Von einer historischen
Anthropologie wäre demnach zu erwarten: die Bestimmung anthropologischer
Konstanten und die phänomenale Ausgestaltung dieser Konstanten an
bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten, die Ermittlung der Bedingungen,
die zu unterschiedlichen, variablen Erscheinungsformen führten. Offensichtlich
ist eine sozialorientierte Historisierung der Kulturwissenschaft und ihres
Ablegers der Historischen (!) Anthropologie für eine Geschichtsschreibung
der Lebensalter und der mit ihr verbundenen Geschichte der Generationen
weiterhin ein Desiderat. Grundsätzlich aber ist festzustellen: Das
von Giovanni Levi und Jean-Claude Schmitt initiierte Experiment, Jugend
als historisches Phänomen in einem besonderen kulturwissenschaftlichen
Verständnis auf der Ebene der Vorstellungen, Bilder und Diskurse zu
thematisieren und von einer Expertengruppe darstellen zu lassen, ist gelungen.
Der nicht an die konzeptionellen
Vorgaben und die editorische Ökonomie gebundene Rezensent wird den
Herausgebern und Autoren wahrscheinlich nicht gerecht, wenn er ihnen eine
Liste weiterer, abermals 1000 Seiten füllender Themen, entgegenhielte,
etwa in dem Stil: Die Jugend der Kreuzzugszeit – Die Jugend in den mittelalterlichen
Städten – Die Jugend der reformatorischen Bewegung – Die Jesuiten
und die Jugend – Mädchen und Junge Frauen in den evangelischen Damenstiften
– Jugendliche Emanzipation und Jugendbewegung usw. Ein generelles Desiderat
muss dennoch angesprochen werden: Dass die Korrespondenz zwischen der imaginierten
Jugend und der tatsächlichen in weiteren Forschungen eine größere
Berücksichtigung erfahre und dass die Kultur der Jugend ergänzt
werde durch eine Geschichte der Jugendkultur. Die "Metageschichte" der
Jugend wäre demnach zu komplettieren durch ihre Geschichte, die "Metaphysik"
durch ihre Physik.
Zwei kritische Anmerkungen
formaler Art sind noch anzubringen. Sie betreffen zunächst die Abbildungen.
Diese sind durchgängig von einer Qualität, die es gerade noch
ermöglicht die Intentionen der Autoren nachzuvollziehen. Damit kann
man sich abfinden. Nicht abfinden kann man sich aber damit, dass ein so
umfangreiches und vielgestaltiges Werk ohne Register herausgegeben worden
ist. So wird die wünschenswerte Rezeption der einzelnen Studien unnötig
erschwert.
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