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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Schlüter, Marnie
Rezensiertes Werk: Von der Größe der kleinen Reformer : Hanno Schmitt/Frank Tosch (Hrsg.), Erziehungsreform und Gesellschaftsinitiative in Preußen 1789-1840, Berlin: Weidler, 1999. (Bildungs- und kulturgeschichtlichr Beiträge für Berlin und Brandenburg; 1), 187 S., 48 DM, ISBN 3-89693-128-8
Erscheinungsjahr: 2000
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:  
Marnie Schlüter 
Universität Münster 
E-mail: mschlut@uni-muenster.de 
Text der Rezension:

  
Von der Größe der kleinen Reformer 

Der von Hanno Schmitt und Frank Tosch herausgegebene erste Band der "Bildungs- und kulturgeschichtlichen Beiträge für Berlin und Brandenburg" über "Erziehungsreform und Gesellschaftsinitiative in Preußen 1789-1840" entstand im Kontext des an der Universität Potsdam veranstalteten Kolloquiums aus Anlaß des 150. Todestages der beiden preußischen Schulreformer Bernhard Christoph Ludwig Natorp und Wilhelm von Türk im Jahr 1996. Die in ihm versammelten Beiträge haben gemeinsam, daß sie die Berücksichtigung der Reformpraktiker "neben den allseits zitierten Bildungsphilosophen" (8) einfordern und die Fruchtbarkeit eines solchen Zugriffs exemplarisch vorführen. 
Im ersten Beitrag entwickelt Karl-Ernst Jeismann die These, daß die Humboldtschen Reformen nur dann als eine Zäsur der Bildungsgeschichte erscheinen, wenn sie aus dem Blickwinkel der pädagogischen Ideengeschichte betrachtet werden oder der politische Gestaltungswille und verwaltungsmäßige Zugriff auf die Institutionen Gymnasium und Universität im Vordergrund steht. Fokussiere man hingegen die zweite Reihe der Reformer, die in unterschiedlichen Regionen Preußens für Neuerungen auf dem diffuseren Feld unterhalb der höheren Bildungsanstalten eintraten, ergebe sich das viel kontinuierlichere Bild eines Prozesses, der noch im 18. Jahrhundert beginnt und weit in das 19. Jahrhundert hineinreicht. Anhand von Leben und Werk Natorps zeichnet Jeismann nach, wie kleine Reformen im Vorfeld in die Beteiligung am großen Reformwerk mündeten und anschließend wiederum regional fortgesetzt wurden. Für einen solchen Dreischritt stehen exemplarisch die Städte Essen, Potsdam und Münster als die unterschiedlichen Wirkungsfelder Natorps. Nach dem Studium der Theologie in Halle kehrte er zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seine Heimatstadt Essen zurück und formulierte vor dem Hintergrund der dortigen Verhältnisse mit seinem "Grundriß zur Organisation allgemeiner Stadtschulen" bereits im Jahr 1804 ein ökonomisch und (aufklärungs)pädagogisch motiviertes Programm einer Schulreform. Zwischen 1809 und 1816 wirkte er dann als Regierungs- und Schulrat in der preußischen Regierung maßgeblich an der landesweiten Neukonzeption des Elementarschulwesens mit und trug zur Durchsetzung des Seminarprinzips in der Lehrerausbildung bei, bevor er der Berufung an das Provinzialschulkolllegium Münster folgte. In dieser Perspektive erscheint das Humboldtsche Reformwerk als "akzentuierte Aufgipfelung" (26) innerhalb eines langen Prozesses gesellschaftlicher Initiativen, dessen Erfolg Jeismann mit der "Symbiose von nicht- oder ‚vor`behördlicher, an verschiedenen Orten gleichzeitig und gleichsinnig laufender ‚Gesellschaftsinitiativen` mit einer deren Richtungen zusammenfassenden und bündelnden staatlichen Reformtätigkeit" (15) erklärt. 
Heinz-Elmar Tenorths Beitrag, eine Art Liebeserklärung an Natorp, beschäftigt sich mit dessen Stil pädagogisch-professioneller Reflexion, die in Bezug auf die eigene Person und bei allem ernsthaften Engagement auch in Bezug auf die Institution Schule immer kritisch und zur Ironie fähig geblieben sei. Gerade der von Natorp gepflegte Wissenstyp habe jedoch vermutlich dazu geführt, daß er im Zuge der Verwissenschaftlichung der Pädagogik weitgehend in Vergessenheit geraten sei. Tenorth hingegen plädiert für die Rehabilitierung der Tradition einer pädagogisch-professionellen Reflexion, die die Praxis orientieren und reflektieren helfen will. 
Hanno Schmitt wertet in seinen Ausführungen über den Ausbau des preußischen Volksschulwesens am Beispiel des Regierungsbezirks Potsdam mit den "Acta betreffend die Übersicht der Fortschritte welche das Elementar- und Bürgerschulwesen seit dem Jahr 1808 gemacht hat" einen bisher von der Forschung noch nicht berücksichtigten Quellenfund aus. Die Übersicht basiert auf einem 1827 vom preußischen Kultusministerium in Umlauf gebrachten Fragebogen, dessen Auswertung trotz fehlender absoluter Zahlen ergibt, daß in den Städten des Bezirks verglichen mit dem Land mehr neue Lehrerstellen, Schulneugründungen und neu eingerichtete Schulklassen zu verzeichnen waren, wohingegen auf dem Land vor allem der Neubau und Ausbau von Schulgebäuden, die Ausstattung von Schulräumen und die Erhöhung des Lehrereinkommens zu deutlichen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen an den Schulen geführt haben dürften. Hatte Natorp bei seiner ersten von Potsdam aus unternommenen Schulvisitationsreise im Jahr 1809 noch bilanzieren müssen, "daß das brandenburgische Schulwesen den Stempel der gemeinsten Trivialität in sich trägt" (42), konnte sein Nachfolger Wilhelm von Türk bereits etwa 20 Jahre später eine nahezu alle vorhandenen Schulen umfassende Qualitätssteigerung konstatieren. 
Großer Anteil an den Verbesserungen der inneren Schulstruktur kommt dem am 13. Oktober 1817 eröffneten Potsdamer Lehrerseminar zu, dem sich der Text von Wolfgang Rocksch widmet. Nach vergeblichen Bemühungen um eine Reform des Heckerschen Seminars und dem Abrücken vom Konzept der Zellerschen Normalinstitute entwarf Natorp 1812 den "Grundriß eines Schullehrer-Seminariums für die Kurmark", an dem er auch dann noch festhielt, als der bestellte Gutachter Friedrich Schleiermacher in ihm ein "Übermaß an literarischer Bildung" (56) kritisierte. Als die Einrichtung des Lehrerseminars dann am 1. August 1816 offiziell angekündigt wurde, war Natorp bereits aus dem Amt geschieden. Leider geht Rocksch wie zuvor schon Jeismann nicht auf die Gründe für Natorps Weggang ein, obwohl die Frage in der Luft liegt, ob der Widerstand gegen sein Konzept der Lehrerbildung ihn dazu bewog. Jedenfalls trat Wilhelm von Türk Anfang 1817 die Nachfolge Natorps an. Sein "Plan eines Land-Schullehrer Seminars" datiert aus demselben Jahr und ist im Anschluß an den Beitrag von Rocksch abgedruckt. Im Gegensatz zu Gunnar Thiele, der 1912 urteilt, der Türksche Plan "atmet nicht mehr den freien Geist der großen Reformzeit" (57) und verlaufe eher als in den von Natorp in den von Schleiermacher gewiesenen Bahnen, betont Rocksch zunächst die Gemeinsamkeiten der Entwürfe Natorps und Türks, um dann einzuräumen, die unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen zur Zeit ihrer Abfassung schlügen sich in ihnen nieder und Türk habe nicht umhin gekonnt, Schleiermachers Vorgaben nachzukommen. Der Versuch einer Korrektur des von Thiele abgegebenen Urteils vermag daher nicht zu überzeugen. Im übrigen mutet der Wettlauf um den Titel des größeren Reformers doch etwas ahistorisch an. Bald nach den Karlsbader Beschlüssen kam es zu ersten Auseinandersetzungen mit dem preußischen Kultusministerium, die Mitte der 20er Jahre zur Abwanderung des Direktors wie eines Großteils der Lehrerschaft des Seminars führten. Damit war die Zeit vorüber, "in der das Potsdamer Seminar im Sinne der preußischen Reformer wirkte" (63). 
Der Beitrag Klaus Klattenhoffs beschäftigt sich mit dem zweieinhalb Jahre währenden Aufenthalt Türks in Oldenburg, wo er zwischen 1806 und 1808 als Justiz- und Konsistorialrat tätig war. Er geht zunächst detailliert auf die dort von Türk gegründete Schule und ihre Lehrpläne für Jungen und Mädchen ein, um anschließend seine Bemühungen um die Ausgestaltung des Oldenburger Lehrerseminars entsprechend der von ihm praktizierten pestalozzischen Unterrichtsmethode zu skizzieren. Sowohl der Erfolg seiner Schule, der die Stadtschullehrer wie die Privatunterricht erteilenden Gymnasiallehrer um ihre Einkünfte fürchten ließ, als auch die Widerstände, auf die seine Methode stieß, beförderten seinen Entschluß, dem Werben Pestalozzis nachzugeben und Oldenburg in Richtung Yverdon zu verlassen. 
Kurt Adamy eröffnet seinen Beitrag über Türk als Ehrenbürger Potsdams mit einem kurzen historischen Abriß des Ehrenbürgerrechts. Da die Magistratsakten wie die Laudatio über die Verleihung der Ehrenbürgerschaft an Türk am 26. April 1839 nicht mehr existieren, stützt Adamy sich in der Frage der Begründung der Ehrung auf einen Vortrag vor dem Geschichtsverein der Stadt Potsdam aus dem Jahr 1918. Demnach ehrte die Stadt ihn für seine Verdienste um die Waisen und die Gründung eines Wohltätigkeitsvereins wie als "Pfleger der Volksbildung, von Kunst, Wissenschaft und Gewerbe" (114). 
Mit den Ausführungen über Türk als Förderer des brandenburgischen Seidenbaus nimmt Frank Tosch einen der honorierten Arbeitsbereiche genauer in den Blick und fragt nach seinen "bildungshistorischen Implikationen" (119). Höchst anschaulich und mit Liebe zum Detail beschreibt er unter Einbezug von Türks Autobiographie seine Wandlung von einem entschiedenen Gegner des Seidenbaus zu seinem unermüdlichen Förderer, nachdem er sich von seiner Einträglichkeit ebenso überzeugt hatte wie von seiner Vereinbarkeit mit dem Schulunterricht und seiner gesundheitliche Unbedenklichkeit. Tosch liefert damit ein überzeugendes Beispiel für die Qualität des aufklärerischen Wirkens von Türk und die "innere Einheit von zweckrationalem, mit Vernunft geladenen ökonomischem Denken und Handeln mit seiner Fähigkeit zu pädagogischer Gestaltungskraft" (130). 
Die beiden letzten Texte des Bandes gelten nicht länger Natorp und Türk. Heinz Stübig erläutert den Zusammenhang von Pestalozzi-Rezeption und Nationalerziehungskonzept bei Wilhelm Harnisch, Hans Jürgen Apel widmet seine Studie Karl Friedrich August Grashof. Stübig skizziert zunächst, wie Harnisch im Zuge der französischen Besatzung seines Studienorts Halle politisiert und bei der Fortsetzung seiner Studien in Frankfurt an der Oder mit Pestalozzis Schriften vertraut wurde, die er durchgängig nicht methodisch, sondern politisch rezipierte. In seiner Schrift "Deutsche Volksschulen mit besonderer Rücksicht auf die Pestalozzischen Grundsätze" von 1812 konzipierte er Volksschulen als "Schulen zur Entwickelung der Keime eines immer in sich fortlebenden, innig verbundenen, neben und in einander wohnenden Menschenvereins" (141). Sein Volksbegriff bezeichnet demnach gerade nicht die gesellschaftliche Schichtung, sondern die Einheit von Menschen eines Sprachraums als konkreter Erscheinungsform der sonst unweigerlich abstrakten Menschheit. Neben Vorschlägen zur Gliederung des Schulwesens nach Verwaltungsbezirken enthält die Schrift Aussagen zur Ausgestaltung des Lehrplans der Volksschulen, wobei insbesondere in Harnischs Begründung für eine Beschränkung auf die deutsche Sprache, der Gestaltung des Turnens im Sinne einer vormilitärischen Ausbildung und der Anlage des Unterrichts in Vaterlandskunde und Volkslehre der seinem Erziehungskonzept inhärente Nationalismus zum Ausdruck kommt. Im Zuge des in den Karlsbader Beschlüsse erlassenen Turnverbots geriet Harnisch politisch unter Druck und verlor 1822 nach 10 Jahren im Amt seine Stellung am Schullehrerseminar in Breslau. Leider unternimmt Stübig nicht den Versuch, die politische Haltung Harnischs mit denjenigen der um 13 Jahre älteren Reformer Natorp und Türk zu vergleichen, denen die bei Harnisch vorfindbaren chauvinistische Töne eher fremd waren. Ein solcher Vergleich hätte zum einen den Beitrag besser in den Zusammenhang der versammelten Forschungen integriert und andererseits zu einer deutlicheren politischen Profilierung der unterschiedlichen Reformansätze beigetragen. Apel beleuchtet im Anschluß an einen Überblick über Grashofs erziehungstheoretische Annahmen dessen Maßnahmen zur Reorganisation des höheren Schulwesens im Gouvernement des Nieder- und Mittel-Rheins sowie in der nördlichen Rheinprovinz um 1814/15, um dann seine Bemühungen um die Flexibilisierung der Bildungsgänge des Gymnasiums und die Etablierung von Höheren Bürgerschulen in den zwanziger Jahren zu rekapitulieren. Seine diesbezüglichen Vorstellungen gehen in modifizierter Form auch in seine Ausführungen "Über künftige Reformen in den Lehr- und Lections-Planen unserer Schulen" aus dem Jahr 1830 ein, in denen er für die Stadt Köln drei Typen höherer Bildungsanstalten forderte: das altsprachliche Gymnasium, das Realgymnasium mit Unterricht in Latein und modernen Fremdsprachen und die Höhere Bürgerschule mit modernem Fremdsprachenunterricht. In diesem zukunftsweisenden Konzept deutet sich an, wie Grashof die "neuhumanistischen Ideale" und "aufklärerische Ansätze zur bürgerlichen Bildung" (179) miteinander zu verbinden suchte. Apel stellt Grashof in eine Reihe mit Natorp und Türk und nennt sie pointiert "die Exekutive der Reform" (178). 
Im Anschluß an diesen Überblick über die in den einzelnen Beiträgen vorgelegten Argumentationen sei abschließend hinsichtlich der Komposition des gesamten Bandes ergänzt, daß die immer gut und manchmal gar vergnüglich zu lesenden Aufsätze - hier denke ich vor allem an die Beiträge Tenorths und Toschs - ein differenziertes und gleichwohl stimmiges Bild der Lebenswerke Natorps und Türks zeichnen, wenn auch für letzteren eine an sich wünschenswerte Synthese der einzelnen Stationen seines Lebens und Wirkens fehlt, wie sie Jeismann für Natorp leistet. Die Beiträge von Stübig und Apel fügen sich unbeschadet ihrer Qualität als Einzelstudien nicht oder kaum in den Kontext des Bandes ein, insofern Harnisch vorrangig politisch argumentiert, was ihn von den sonst stärker pragmatisch orientierten Reformern unterscheidet, und Grashof vorrangig auf dem Gebiet der höheren Bildung tätig wurde. Allerdings erlaubt der Titel "Erziehungsreform und Gesellschaftsinitiative in Preußen 1789-1840" diese Ausweitung der Fragestellung. Der Band löst den im Vorwort von den Herausgebern formulierten Anspruch ein, die Beschäftigung mit den Reformpraktikern als fruchtbaren Forschungsgegenstand auszuweisen, und wird sicher dazu beitragen, Natorp in Zukunft vor Verwechslungen à la "Natorp, das ist doch der Neukantianer von 1900?" (34) zu bewahren.  

Erfassungsdatum: 20. 01. 2000
Korrekturdatum: 02. 04. 2004