Text der Rezension: |
Von der Größe
der kleinen Reformer
Der von Hanno Schmitt und
Frank Tosch herausgegebene erste Band der "Bildungs- und kulturgeschichtlichen
Beiträge für Berlin und Brandenburg" über "Erziehungsreform
und Gesellschaftsinitiative in Preußen 1789-1840" entstand im Kontext
des an der Universität Potsdam veranstalteten Kolloquiums aus Anlaß
des 150. Todestages der beiden preußischen Schulreformer Bernhard
Christoph Ludwig Natorp und Wilhelm von Türk im Jahr 1996. Die in
ihm versammelten Beiträge haben gemeinsam, daß sie die Berücksichtigung
der Reformpraktiker "neben den allseits zitierten Bildungsphilosophen"
(8) einfordern und die Fruchtbarkeit eines solchen Zugriffs exemplarisch
vorführen.
Im ersten Beitrag entwickelt
Karl-Ernst Jeismann die These, daß die Humboldtschen Reformen nur
dann als eine Zäsur der Bildungsgeschichte erscheinen, wenn sie aus
dem Blickwinkel der pädagogischen Ideengeschichte betrachtet werden
oder der politische Gestaltungswille und verwaltungsmäßige Zugriff
auf die Institutionen Gymnasium und Universität im Vordergrund steht.
Fokussiere man hingegen die zweite Reihe der Reformer, die in unterschiedlichen
Regionen Preußens für Neuerungen auf dem diffuseren Feld unterhalb
der höheren Bildungsanstalten eintraten, ergebe sich das viel kontinuierlichere
Bild eines Prozesses, der noch im 18. Jahrhundert beginnt und weit in das
19. Jahrhundert hineinreicht. Anhand von Leben und Werk Natorps zeichnet
Jeismann nach, wie kleine Reformen im Vorfeld in die Beteiligung am großen
Reformwerk mündeten und anschließend wiederum regional fortgesetzt
wurden. Für einen solchen Dreischritt stehen exemplarisch die Städte
Essen, Potsdam und Münster als die unterschiedlichen Wirkungsfelder
Natorps. Nach dem Studium der Theologie in Halle kehrte er zu Beginn des
19. Jahrhunderts in seine Heimatstadt Essen zurück und formulierte
vor dem Hintergrund der dortigen Verhältnisse mit seinem "Grundriß
zur Organisation allgemeiner Stadtschulen" bereits im Jahr 1804 ein ökonomisch
und (aufklärungs)pädagogisch motiviertes Programm einer Schulreform.
Zwischen 1809 und 1816 wirkte er dann als Regierungs- und Schulrat in der
preußischen Regierung maßgeblich an der landesweiten Neukonzeption
des Elementarschulwesens mit und trug zur Durchsetzung des Seminarprinzips
in der Lehrerausbildung bei, bevor er der Berufung an das Provinzialschulkolllegium
Münster folgte. In dieser Perspektive erscheint das Humboldtsche Reformwerk
als "akzentuierte Aufgipfelung" (26) innerhalb eines langen Prozesses gesellschaftlicher
Initiativen, dessen Erfolg Jeismann mit der "Symbiose von nicht- oder ‚vor`behördlicher,
an verschiedenen Orten gleichzeitig und gleichsinnig laufender ‚Gesellschaftsinitiativen`
mit einer deren Richtungen zusammenfassenden und bündelnden staatlichen
Reformtätigkeit" (15) erklärt.
Heinz-Elmar Tenorths Beitrag,
eine Art Liebeserklärung an Natorp, beschäftigt sich mit dessen
Stil pädagogisch-professioneller Reflexion, die in Bezug auf die eigene
Person und bei allem ernsthaften Engagement auch in Bezug auf die Institution
Schule immer kritisch und zur Ironie fähig geblieben sei. Gerade der
von Natorp gepflegte Wissenstyp habe jedoch vermutlich dazu geführt,
daß er im Zuge der Verwissenschaftlichung der Pädagogik weitgehend
in Vergessenheit geraten sei. Tenorth hingegen plädiert für die
Rehabilitierung der Tradition einer pädagogisch-professionellen Reflexion,
die die Praxis orientieren und reflektieren helfen will.
Hanno Schmitt wertet in
seinen Ausführungen über den Ausbau des preußischen Volksschulwesens
am Beispiel des Regierungsbezirks Potsdam mit den "Acta betreffend die
Übersicht der Fortschritte welche das Elementar- und Bürgerschulwesen
seit dem Jahr 1808 gemacht hat" einen bisher von der Forschung noch nicht
berücksichtigten Quellenfund aus. Die Übersicht basiert auf einem
1827 vom preußischen Kultusministerium in Umlauf gebrachten Fragebogen,
dessen Auswertung trotz fehlender absoluter Zahlen ergibt, daß in
den Städten des Bezirks verglichen mit dem Land mehr neue Lehrerstellen,
Schulneugründungen und neu eingerichtete Schulklassen zu verzeichnen
waren, wohingegen auf dem Land vor allem der Neubau und Ausbau von Schulgebäuden,
die Ausstattung von Schulräumen und die Erhöhung des Lehrereinkommens
zu deutlichen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen an den Schulen geführt
haben dürften. Hatte Natorp bei seiner ersten von Potsdam aus unternommenen
Schulvisitationsreise im Jahr 1809 noch bilanzieren müssen, "daß
das brandenburgische Schulwesen den Stempel der gemeinsten Trivialität
in sich trägt" (42), konnte sein Nachfolger Wilhelm von Türk
bereits etwa 20 Jahre später eine nahezu alle vorhandenen Schulen
umfassende Qualitätssteigerung konstatieren.
Großer Anteil an den
Verbesserungen der inneren Schulstruktur kommt dem am 13. Oktober 1817
eröffneten Potsdamer Lehrerseminar zu, dem sich der Text von Wolfgang
Rocksch widmet. Nach vergeblichen Bemühungen um eine Reform des Heckerschen
Seminars und dem Abrücken vom Konzept der Zellerschen Normalinstitute
entwarf Natorp 1812 den "Grundriß eines Schullehrer-Seminariums für
die Kurmark", an dem er auch dann noch festhielt, als der bestellte Gutachter
Friedrich Schleiermacher in ihm ein "Übermaß an literarischer
Bildung" (56) kritisierte. Als die Einrichtung des Lehrerseminars dann
am 1. August 1816 offiziell angekündigt wurde, war Natorp bereits
aus dem Amt geschieden. Leider geht Rocksch wie zuvor schon Jeismann nicht
auf die Gründe für Natorps Weggang ein, obwohl die Frage in der
Luft liegt, ob der Widerstand gegen sein Konzept der Lehrerbildung ihn
dazu bewog. Jedenfalls trat Wilhelm von Türk Anfang 1817 die Nachfolge
Natorps an. Sein "Plan eines Land-Schullehrer Seminars" datiert aus demselben
Jahr und ist im Anschluß an den Beitrag von Rocksch abgedruckt. Im
Gegensatz zu Gunnar Thiele, der 1912 urteilt, der Türksche Plan "atmet
nicht mehr den freien Geist der großen Reformzeit" (57) und verlaufe
eher als in den von Natorp in den von Schleiermacher gewiesenen Bahnen,
betont Rocksch zunächst die Gemeinsamkeiten der Entwürfe Natorps
und Türks, um dann einzuräumen, die unterschiedlichen politischen
Rahmenbedingungen zur Zeit ihrer Abfassung schlügen sich in ihnen
nieder und Türk habe nicht umhin gekonnt, Schleiermachers Vorgaben
nachzukommen. Der Versuch einer Korrektur des von Thiele abgegebenen Urteils
vermag daher nicht zu überzeugen. Im übrigen mutet der Wettlauf
um den Titel des größeren Reformers doch etwas ahistorisch an.
Bald nach den Karlsbader Beschlüssen kam es zu ersten Auseinandersetzungen
mit dem preußischen Kultusministerium, die Mitte der 20er Jahre zur
Abwanderung des Direktors wie eines Großteils der Lehrerschaft des
Seminars führten. Damit war die Zeit vorüber, "in der das Potsdamer
Seminar im Sinne der preußischen Reformer wirkte" (63).
Der Beitrag Klaus Klattenhoffs
beschäftigt sich mit dem zweieinhalb Jahre währenden Aufenthalt
Türks in Oldenburg, wo er zwischen 1806 und 1808 als Justiz- und Konsistorialrat
tätig war. Er geht zunächst detailliert auf die dort von Türk
gegründete Schule und ihre Lehrpläne für Jungen und Mädchen
ein, um anschließend seine Bemühungen um die Ausgestaltung des
Oldenburger Lehrerseminars entsprechend der von ihm praktizierten pestalozzischen
Unterrichtsmethode zu skizzieren. Sowohl der Erfolg seiner Schule, der
die Stadtschullehrer wie die Privatunterricht erteilenden Gymnasiallehrer
um ihre Einkünfte fürchten ließ, als auch die Widerstände,
auf die seine Methode stieß, beförderten seinen Entschluß,
dem Werben Pestalozzis nachzugeben und Oldenburg in Richtung Yverdon zu
verlassen.
Kurt Adamy eröffnet
seinen Beitrag über Türk als Ehrenbürger Potsdams mit einem
kurzen historischen Abriß des Ehrenbürgerrechts. Da die Magistratsakten
wie die Laudatio über die Verleihung der Ehrenbürgerschaft an
Türk am 26. April 1839 nicht mehr existieren, stützt Adamy sich
in der Frage der Begründung der Ehrung auf einen Vortrag vor dem Geschichtsverein
der Stadt Potsdam aus dem Jahr 1918. Demnach ehrte die Stadt ihn für
seine Verdienste um die Waisen und die Gründung eines Wohltätigkeitsvereins
wie als "Pfleger der Volksbildung, von Kunst, Wissenschaft und Gewerbe"
(114).
Mit den Ausführungen
über Türk als Förderer des brandenburgischen Seidenbaus
nimmt Frank Tosch einen der honorierten Arbeitsbereiche genauer in den
Blick und fragt nach seinen "bildungshistorischen Implikationen" (119).
Höchst anschaulich und mit Liebe zum Detail beschreibt er unter Einbezug
von Türks Autobiographie seine Wandlung von einem entschiedenen Gegner
des Seidenbaus zu seinem unermüdlichen Förderer, nachdem er sich
von seiner Einträglichkeit ebenso überzeugt hatte wie von seiner
Vereinbarkeit mit dem Schulunterricht und seiner gesundheitliche Unbedenklichkeit.
Tosch liefert damit ein überzeugendes Beispiel für die Qualität
des aufklärerischen Wirkens von Türk und die "innere Einheit
von zweckrationalem, mit Vernunft geladenen ökonomischem Denken und
Handeln mit seiner Fähigkeit zu pädagogischer Gestaltungskraft"
(130).
Die beiden letzten Texte
des Bandes gelten nicht länger Natorp und Türk. Heinz Stübig
erläutert den Zusammenhang von Pestalozzi-Rezeption und Nationalerziehungskonzept
bei Wilhelm Harnisch, Hans Jürgen Apel widmet seine Studie Karl Friedrich
August Grashof. Stübig skizziert zunächst, wie Harnisch im Zuge
der französischen Besatzung seines Studienorts Halle politisiert und
bei der Fortsetzung seiner Studien in Frankfurt an der Oder mit Pestalozzis
Schriften vertraut wurde, die er durchgängig nicht methodisch, sondern
politisch rezipierte. In seiner Schrift "Deutsche Volksschulen mit besonderer
Rücksicht auf die Pestalozzischen Grundsätze" von 1812 konzipierte
er Volksschulen als "Schulen zur Entwickelung der Keime eines immer in
sich fortlebenden, innig verbundenen, neben und in einander wohnenden Menschenvereins"
(141). Sein Volksbegriff bezeichnet demnach gerade nicht die gesellschaftliche
Schichtung, sondern die Einheit von Menschen eines Sprachraums als konkreter
Erscheinungsform der sonst unweigerlich abstrakten Menschheit. Neben Vorschlägen
zur Gliederung des Schulwesens nach Verwaltungsbezirken enthält die
Schrift Aussagen zur Ausgestaltung des Lehrplans der Volksschulen, wobei
insbesondere in Harnischs Begründung für eine Beschränkung
auf die deutsche Sprache, der Gestaltung des Turnens im Sinne einer vormilitärischen
Ausbildung und der Anlage des Unterrichts in Vaterlandskunde und Volkslehre
der seinem Erziehungskonzept inhärente Nationalismus zum Ausdruck
kommt. Im Zuge des in den Karlsbader Beschlüsse erlassenen Turnverbots
geriet Harnisch politisch unter Druck und verlor 1822 nach 10 Jahren im
Amt seine Stellung am Schullehrerseminar in Breslau. Leider unternimmt
Stübig nicht den Versuch, die politische Haltung Harnischs mit denjenigen
der um 13 Jahre älteren Reformer Natorp und Türk zu vergleichen,
denen die bei Harnisch vorfindbaren chauvinistische Töne eher fremd
waren. Ein solcher Vergleich hätte zum einen den Beitrag besser in
den Zusammenhang der versammelten Forschungen integriert und andererseits
zu einer deutlicheren politischen Profilierung der unterschiedlichen Reformansätze
beigetragen. Apel beleuchtet im Anschluß an einen Überblick
über Grashofs erziehungstheoretische Annahmen dessen Maßnahmen
zur Reorganisation des höheren Schulwesens im Gouvernement des Nieder-
und Mittel-Rheins sowie in der nördlichen Rheinprovinz um 1814/15,
um dann seine Bemühungen um die Flexibilisierung der Bildungsgänge
des Gymnasiums und die Etablierung von Höheren Bürgerschulen
in den zwanziger Jahren zu rekapitulieren. Seine diesbezüglichen Vorstellungen
gehen in modifizierter Form auch in seine Ausführungen "Über
künftige Reformen in den Lehr- und Lections-Planen unserer Schulen"
aus dem Jahr 1830 ein, in denen er für die Stadt Köln drei Typen
höherer Bildungsanstalten forderte: das altsprachliche Gymnasium,
das Realgymnasium mit Unterricht in Latein und modernen Fremdsprachen und
die Höhere Bürgerschule mit modernem Fremdsprachenunterricht.
In diesem zukunftsweisenden Konzept deutet sich an, wie Grashof die "neuhumanistischen
Ideale" und "aufklärerische Ansätze zur bürgerlichen Bildung"
(179) miteinander zu verbinden suchte. Apel stellt Grashof in eine Reihe
mit Natorp und Türk und nennt sie pointiert "die Exekutive der Reform"
(178).
Im Anschluß an diesen
Überblick über die in den einzelnen Beiträgen vorgelegten
Argumentationen sei abschließend hinsichtlich der Komposition des
gesamten Bandes ergänzt, daß die immer gut und manchmal gar
vergnüglich zu lesenden Aufsätze - hier denke ich vor allem an
die Beiträge Tenorths und Toschs - ein differenziertes und gleichwohl
stimmiges Bild der Lebenswerke Natorps und Türks zeichnen, wenn auch
für letzteren eine an sich wünschenswerte Synthese der einzelnen
Stationen seines Lebens und Wirkens fehlt, wie sie Jeismann für Natorp
leistet. Die Beiträge von Stübig und Apel fügen sich unbeschadet
ihrer Qualität als Einzelstudien nicht oder kaum in den Kontext des
Bandes ein, insofern Harnisch vorrangig politisch argumentiert, was ihn
von den sonst stärker pragmatisch orientierten Reformern unterscheidet,
und Grashof vorrangig auf dem Gebiet der höheren Bildung tätig
wurde. Allerdings erlaubt der Titel "Erziehungsreform und Gesellschaftsinitiative
in Preußen 1789-1840" diese Ausweitung der Fragestellung. Der Band
löst den im Vorwort von den Herausgebern formulierten Anspruch ein,
die Beschäftigung mit den Reformpraktikern als fruchtbaren Forschungsgegenstand
auszuweisen, und wird sicher dazu beitragen, Natorp in Zukunft vor Verwechslungen
à la "Natorp, das ist doch der Neukantianer von 1900?" (34) zu bewahren.
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