Text der Rezension: |
Wenn der Titel des Buches
suggerieren sollte, man möge dem "Jahrhundert des Kindes" entkommen,
so scheint er falsch gewählt. Auch entspricht die in diesem kleinen
Band entfaltete Problematik nicht dem, was mit dieser Überschrift
angedeutet zu werden scheint: daß es nämlich gelte, diese, von
der schwedischen Publizistin Ellen Key als "Jahrhundert des Kindes" angekündigte
Eigenschaft des Säkulums hinter sich zu lassen. Vielmehr wird auf
vielerlei Weise veranschaulicht, daß es eher darauf ankomme, die
mit Ellen Keys pädagogischem Bestseller aus den Anfangsjahren dieses
20. Jahrhunderts - aber auch mit ihren anderen publizistischen Arbeiten,
Büchern, die die Zeitumstände auf der Wende vom 19. Zum 20. Jahrhundert
so eigentümlich und gleichzeitig genau spiegeln - niedergelegten Bestandsaufnahmen
und Perspektiven für ein weiteres Jahrhundert aufzubereiten und der
gegenwärtigen Diskussion zu erhalten. Dies freilich nicht in apologetischem
oder auch musealem Sinne, sondern mit der Absicht, historische Dimensionen
und historische Kritik gleichermaßen in der pädagogischen Reflexion
zu festigen.
Daß es der historischen
(und systematischen) Pädagogik noch immer Schwierigkeiten bereitet,
mit Ellen Key zurande zu kommen, liegt darin begründet, daß
in der Epoche (und lassen wir doch diese Bezeichnung als "Epoche" ruhig
bestehen, man mag hinterher differenzieren, wie man will) der Reformpädagogik
auf eine bislang nicht wieder erreichte Weise die Grundprobleme der pädagogischen
Moderne formuliert worden sind. Einer pädagogischen Moderne, oder
einer Moderne überhaupt, in der wir uns noch immer befinden, in der
es zeittypische Sprech- und Ausdrucksformen gegeben haben mag, deren Grundprobleme
sich aber im Wesentlichen von den uns heute noch beschäftigenden pädagogischen
Grundfragen nicht unterscheiden. Das mag damit zu tun haben (dies jedoch
nur als Andeutung), daß sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts
und in den ersten Dezennien des 20. auf dem Hintergrund der materiellen
und sozialen Entwicklung all jene Paradigmen herausbildeten und in ein
Verhältnis zueinander traten, die unser modernes Bild von der Gesellschaft
und dem Leben der Individuen in ihr auch heute noch prägen. Medizinische
und Naturwissenschaften zugleich mit Gesellschafts- und Individualwissenschaften
flossen - trotz aller systematischen Differenzierung - zu einem Bild der
Moderne zusammen, das zwar in hohem Maß - und dazu noch sektorentypisch
unterschiedlich - differenziert erscheint, in wissenschaftlicher und ästhetischer
Hinsicht tausend Ansichten bietet, auf seinem Grund aber die Idee der Einheitlichkeit
der Verhältnisse anbietet, die allein die Gestaltbarkeit der Zukunft
zu gewährleisten scheint.
Kein Wunder also, wenn in
solch sensiblen Arealen wie dem pädagogischen derlei Monismus ganz
besonders zutage tritt; Pädagogik - zumal wenn sie sich ihrer pragmatischen
Dimension bewußt bleibt - hat sich schon immer ein wenig mehr aus
dem Fenster lehnen müssen als es die vornehmeren Sozialwissenschaften
taten, die ihre allgemeine Intentionalität leichter hinter Methodenarsenalen
verbergen konnten. Das braucht sie sich nicht besonders anzurechnen; jedoch
wohnen etliche ehrenwerte Disziplinen in derlei Glashäusern. Auch
ist ja die mit heftigen Klagen über all das, was es angeblich "nicht
mehr" gebe, geschwellte "Post-Moderne" noch ein Sproß jener Hoffnung
auf die Einheitlichkeit der Verhältnisse - mehr doch nicht. Das sollte
die Autorinnen dieses Buchs über Ellen Key ihre Bezüge auf die
Giddons und Konsorten überdenken lassen: in der Tat brauchen wir sie
nicht; sie sind zu nichts nütze. Erst recht nicht in der Forschung
in historischer Absicht.
Mit dem Monismus tritt nun
aber auch die Disparatheit und die Widersprüchlichkeit der pädagogischen
Positionen, wie sie um die Jahrhundertwende vertreten wurden, deutlich
zutage. Das eine ist nur die Kehrseite des anderen und deshalb - so scheint
es mir - gelingt den Autorinnen auch kein geschlossenes, rundes Buch über
Key, ihre Pädagogik, ihre Frauenbewegtheit, ihre Auffassung von Familie,
Individualität, Freiheit, Entwicklung, Wissenschaft und Nietzsche,
sondern es werden - wie in einer Ausstellung über die Person - verschiedene
Aspekte zusammengetragen. Wir werden darüber informiert, daß
es wichtige Grundlagen gibt: Die Kritik an den Normen und Werten, an den
eingefrorenen Rollenmustern, der Geschlechterunter- und überordnung;
die neue Frauenrolle, die "Frauenkraft" (worin sich umstürzlerische
und mütterliche Elemente mischten) und die Wissenschaft als Leitinstanz;
den "Entwickelungsgedanken" als universales Interpretationsmuster und Zukunftsschau;
eine erneute (und die wievielte!) Aktivierung des unbotmäßigen
pädagogischen Schrifttums von Montaigne bis in die Mäander des
neunzehnten Jahrhunderts; dann: Spencer - und vor allem die Rezeption Nietzsches
in der Pädagogik.
Die ist nun aber auch gleich
wieder eine Entschärfung. Wie soll es auch anders sein. In der Pädagogik
kann Nietzsche nur halbiert auftreten, ist er doch der Antipädagog
par excellence. Gegenüber dem von der Spätform romantischer Ursprünglichkeit
ausgehenden, in Ahistorizität umkippenden Naturalismus muß Pädagogik
immer noch "die Kurve kriegen", um die historische Gesellschaftsfähigkeit
der Individualität nicht in den Strudel der Geschichtsverdammnis reißen
zu lassen; ist doch ihr eigentlicher Saft die Tradition - das Weitergeben
- und ihr Bezug die Zukunft: das Darüber-Hinausgehen - jedoch mit
den Mitteln des Erworbenen. Reformpädagogik (historische, in der Gestalt
Ellen Keys, aber darin steht sie nicht allein) steht so mit einem Bein
auf Nietzsche und den ihn umlagernden Figuren und mit dem anderen auf der
neuen, manchmal noch normativen Soziologie. Eine unbequeme Position - und
die Autorinnen dieses Buchs geben sich gleich gar nicht die (ohnehin aussichtslose)
Mühe, uns durch polierte Interpretationen glauben zu machen, daß
wir es heute besser wüßten, auch wenn uns die heiligen Hügel
vielleicht etwas verstaubter und vertrauter vorkommen.
Auch tritt in diesem Buch
von Andresen und Baader deutlich zutage, wie sich die Wissenschaftsauffassung
in dieser Jahrhundertspanne und wie sich die pädagogischen Bezugnahmen
auf die Wissenschaft - oder was dafür gehalten wird - geändert
haben. Manch eine oder einer mag sich bei der Beschäftigung mit der
historischen Reformpädagogik darüber gewundert haben, daß
so einhellig evolutionistische Eugenik, moralische Präskription (beide
zuammengebunden etwa in der Forderung nach der "Veredelung des Trieblebens")
und das Vertrauen auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse zusammengehen
und daß im Hintergrund wohl sehr vieler reformpädagogischer
Denkmuster (wie bei Key, aber auch beim ganz anders argumentiereden Genfer
experimentellen Pädagogen Edouard Claparède) die Erwartung
geistert, daß mit dem Fortschritt der experimentellen Wissenschaften
die Handlungsmaximen, die der pädagogischen Entwicklungsbetontheit
entspringen, eine den Naturwis-senschaften gemäße Bestätigung
erführen. Dieser Glaube bezieht sich im übrigen ja nicht nur
auf die Pädagogik, sondern prägt teilweise - als Ausdehnung von
der Pädagogik her - auch Gesellschaftsvorstellungen: die wissenschaftliche
Gesellschaftsorganisation erscheint bei Adolphe Ferrière, einem
wichtigen Korrespondenzpartner Ellen Keys in Genf auf dem Felde der "Neuen
Erziehung" und der Erneuerung der Gesellschaft und der bezeichnenderweise
darauf besteht, als Soziologe angesehen zu werden, als einfache Konsequenz
der Tatsache, daß mit der "Neuen Erziehung" der Entwicklung der individuellen
Qualitäten keine "künstlichen" oder sonstigen entwicklungshemmenden
Grenzen entgegengesetzt würden; demnach schäle sich die wahre
Führernatur von selbst in einem Gemeinwesen heraus und führe
zu natürlicher Hierarchie. Prinzipiell dürfte Ellen Key dem nicht
widersprochen haben. Unsere heutige Verwunderung über diesen unkritischen
Begriff der "Höherentwicklung" - gleichsam eine Übertragung der
aufklärerischen "Perfektibilität" auf die Gattung und ihre, wie
die Autorinnen betonen, "lebensphilosophische" Umdeutung hat uns manchmal
etwas unüberlegt die ganze Reformpädagogik beiseite legen lassen,
ohne zu bedenken, daß noch jedes Demokratieverständnis auf diese
Hoffnung nicht verzichten kann. Man mag wie es viele Betrachter der
Reformpädagogik tun, ihre Mythisierung des Kindes und die damit verbundene
Ursprünglichkeitslegende mit Stirnrunzeln hervorheben; den Autorinnen
gelingt es, diesen Verdikten mit dem Hinweis auf den pädagogischen
Pragmatismus Ellen Keys den Wind aus den Segeln zu nehmen, so daß
die historische Plazierung jener Frau wieder sichtbar wird.
Reformpädagogik und
die daran anschließenden Vorstellungen von Individualität, Entwicklung
und sozialem Wandel - das wird in dem Buch der Autorinnen unter anderem
an jenen Stellen deutlich, wo sie die gesellschaftspolitischen utopischen
Elemente Ellen Keys hervorheben - sind als nichts andres zu nehmen denn
als historische Formen gesellschaftlicher Selbstverständigung über
Zukunft. Dies springt einem nicht allein bei der emphatischen Sprache jener
Pädagogen und Pädagoginnen, Zukunftsgestalter/innen wie Ellen
Key ins Auge, sondern leitet auch deren "literarische" Komposition. Deshalb
ist es unnütz, von heute aus jenen Erziehungs- und Gesellschaftstheoretikern
Zensuren zu erteilen, dergestalt, daß sie - und hier Ellen Key -
sich "ihrer Projektionen und Konstruktionen nicht bewußt" gewesen
seien. Hier scheint etwas gefordert zu werden, dessen Nicht-Vorhandesein
ja gerade die historische Substanz ausmacht: hätte Key sich denn "ihrer
Projektionen und Konstruktionen" "bewußt" sein können? Solcherart
Einschätzungen unterlaufen den Autorinnen selten, stören aber
das Ensemble der ausgestellten Stücke umso mehr, als man daraus den
Eindruck bezieht, hier sei hin und wieder eine, der Geschichte enthobene
Supertheorie (und man argwöhnt aufgrund mehrerer Referenzen: die Giddons`sche
Modernisierungstheorie) am Werk.
Noch einmal anders: Mir
scheint, auch von Ellen Key kann man lernen, daß pädagogische,
aufs individuelle und gesellschaftliche Handeln abzielende Texte (aber
wenn man genauer hinschaut auch viele derer, die sich strengeren methodischen
Kriterien unterwerfen) sich nur im Grad der Emphase unterscheiden, wenn
man die historischen Bedingtheiten in Rechnung stellt, jedoch nicht eigentlich
in den Grundlagen, solange sie sich nicht an bestimmte politische Richtungen
binden und Zweckpädagogik werden. Sie sind Botschaften für fernere
Zeiten und aus ferneren Zeiten zugleich und insofern der "postmodernen"
Verfallsdatums-Etikett-Kleberei entzogen.
Der kleine Band von Sabine
Andresen und Meike Sophia Baader über Ellen Key trägt dazu bei,
über eine genauere Betrachtung der Denkformen und utopischen Elaborate
der historischen Figur Ellen Key der reformpädagogischen Derangierung
insgesamt weiterhin Aktualität zu verleihen und diese gesellschaftspolitische,
pädagogische Denkerin in just jene Ahnenreihe unterschiedlicher Qualität
einzustellen, die sie selber beansprucht: Montaigne, Rousseau, Goethe -
na und dann eben auch meinethalben Spencer: wollte denn jemand bestreiten,
daß auch noch die Mißverständnisse der Evolutionstheorie,
als die man diese und jene Pädagogik, diese und jene Gesellschaftstheorie
bezeichnen kann, wenigstens in ihrer einen (besseren) Hälfte dazu
beigetragen haben, in der Gesellschaft und im (pädagogischen) Denken
und Handeln des 20. Jahrhunderts die Zuversicht zu verfestigen, daß
die menschlichen Verhältnisse gestaltbar sind! Keinem von all diesen
"Ahnen", auch Ellen Key nicht, haben wir zu glauben oder zu folgen, sondern
von allen können wir lernen. Und dabei ist die Aspekthaftigkeit des
Buches von Andresen/Baader eher eine Hilfe denn ein Hindernis, weil deutlich
wird, wieviel Problematisches noch in der Reformepoche der Jahrhundertwende
vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert steckt, was uns heute noch
immer beschäftigt.
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