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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Helmchen, Jürgen
Rezensiertes Werk: Andresen, Sabine/Baader, Meike Sophia: Wege aus dem Jahrhundert des Kindes : Tradition und Utopie bei Ellen Key. Neuwied; Kriftel: Luchterhand, 1998. (ISBN 3-427-03118-2; IV, 140 S.; 29,80 DM)
Erscheinungsjahr: 2000
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:  
PD Dr. Jürgen Helmchen 
Technische Universität Dresden 
e-mail: HuJ.Helmchen@t-online.de 
 

Text der Rezension:

  
Wenn der Titel des Buches suggerieren sollte, man möge dem "Jahrhundert des Kindes" entkommen, so scheint er falsch gewählt. Auch entspricht die in diesem kleinen Band entfaltete Problematik nicht dem, was mit dieser Überschrift angedeutet zu werden scheint: daß es nämlich gelte, diese, von der schwedischen Publizistin Ellen Key als "Jahrhundert des Kindes" angekündigte Eigenschaft des Säkulums hinter sich zu lassen. Vielmehr wird auf vielerlei Weise veranschaulicht, daß es eher darauf ankomme, die mit Ellen Keys pädagogischem Bestseller aus den Anfangsjahren dieses 20. Jahrhunderts - aber auch mit ihren anderen publizistischen Arbeiten, Büchern, die die Zeitumstände auf der Wende vom 19. Zum 20. Jahrhundert so eigentümlich und gleichzeitig genau spiegeln - niedergelegten Bestandsaufnahmen und Perspektiven für ein weiteres Jahrhundert aufzubereiten und der gegenwärtigen Diskussion zu erhalten. Dies freilich nicht in apologetischem oder auch musealem Sinne, sondern mit der Absicht, historische Dimensionen und historische Kritik gleichermaßen in der pädagogischen Reflexion zu festigen. 
Daß es der historischen (und systematischen) Pädagogik noch immer Schwierigkeiten bereitet, mit Ellen Key zurande zu kommen, liegt darin begründet, daß in der Epoche (und lassen wir doch diese Bezeichnung als "Epoche" ruhig bestehen, man mag hinterher differenzieren, wie man will) der Reformpädagogik auf eine bislang nicht wieder erreichte Weise die Grundprobleme der pädagogischen Moderne formuliert worden sind. Einer pädagogischen Moderne, oder einer Moderne überhaupt, in der wir uns noch immer befinden, in der es zeittypische Sprech- und Ausdrucksformen gegeben haben mag, deren Grundprobleme sich aber im Wesentlichen von den uns heute noch beschäftigenden pädagogischen Grundfragen nicht unterscheiden. Das mag damit zu tun haben (dies jedoch nur als Andeutung), daß sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts und in den ersten Dezennien des 20. auf dem Hintergrund der materiellen und sozialen Entwicklung all jene Paradigmen herausbildeten und in ein Verhältnis zueinander traten, die unser modernes Bild von der Gesellschaft und dem Leben der Individuen in ihr auch heute noch prägen. Medizinische und Naturwissenschaften zugleich mit Gesellschafts- und Individualwissenschaften flossen - trotz aller systematischen Differenzierung - zu einem Bild der Moderne zusammen, das zwar in hohem Maß - und dazu noch sektorentypisch unterschiedlich - differenziert erscheint, in wissenschaftlicher und ästhetischer Hinsicht tausend Ansichten bietet, auf seinem Grund aber die Idee der Einheitlichkeit der Verhältnisse anbietet, die allein die Gestaltbarkeit der Zukunft zu gewährleisten scheint. 
Kein Wunder also, wenn in solch sensiblen Arealen wie dem pädagogischen derlei Monismus ganz besonders zutage tritt; Pädagogik - zumal wenn sie sich ihrer pragmatischen Dimension bewußt bleibt - hat sich schon immer ein wenig mehr aus dem Fenster lehnen müssen als es die vornehmeren Sozialwissenschaften taten, die ihre allgemeine Intentionalität leichter hinter Methodenarsenalen verbergen konnten. Das braucht sie sich nicht besonders anzurechnen; jedoch wohnen etliche ehrenwerte Disziplinen in derlei Glashäusern. Auch ist ja die mit heftigen Klagen über all das, was es angeblich "nicht mehr" gebe, geschwellte "Post-Moderne" noch ein Sproß jener Hoffnung auf die Einheitlichkeit der Verhältnisse - mehr doch nicht. Das sollte die Autorinnen dieses Buchs über Ellen Key ihre Bezüge auf die Giddons und Konsorten überdenken lassen: in der Tat brauchen wir sie nicht; sie sind zu nichts nütze. Erst recht nicht in der Forschung in historischer Absicht. 
Mit dem Monismus tritt nun aber auch die Disparatheit und die Widersprüchlichkeit der pädagogischen Positionen, wie sie um die Jahrhundertwende vertreten wurden, deutlich zutage. Das eine ist nur die Kehrseite des anderen und deshalb - so scheint es mir - gelingt den Autorinnen auch kein geschlossenes, rundes Buch über Key, ihre Pädagogik, ihre Frauenbewegtheit, ihre Auffassung von Familie, Individualität, Freiheit, Entwicklung, Wissenschaft und Nietzsche, sondern es werden - wie in einer Ausstellung über die Person - verschiedene Aspekte zusammengetragen. Wir werden darüber informiert, daß es wichtige Grundlagen gibt: Die Kritik an den Normen und Werten, an den eingefrorenen Rollenmustern, der Geschlechterunter- und überordnung; die neue Frauenrolle, die "Frauenkraft" (worin sich umstürzlerische und mütterliche Elemente mischten) und die Wissenschaft als Leitinstanz; den "Entwickelungsgedanken" als universales Interpretationsmuster und Zukunftsschau; eine erneute (und die wievielte!) Aktivierung des unbotmäßigen pädagogischen Schrifttums von Montaigne bis in die Mäander des neunzehnten Jahrhunderts; dann: Spencer - und vor allem die Rezeption Nietzsches in der Pädagogik. 
Die ist nun aber auch gleich wieder eine Entschärfung. Wie soll es auch anders sein. In der Pädagogik kann Nietzsche nur halbiert auftreten, ist er doch der Antipädagog par excellence. Gegenüber dem von der Spätform romantischer Ursprünglichkeit ausgehenden, in Ahistorizität umkippenden Naturalismus muß Pädagogik immer noch "die Kurve kriegen", um die historische Gesellschaftsfähigkeit der Individualität nicht in den Strudel der Geschichtsverdammnis reißen zu lassen; ist doch ihr eigentlicher Saft die Tradition - das Weitergeben - und ihr Bezug die Zukunft: das Darüber-Hinausgehen - jedoch mit den Mitteln des Erworbenen. Reformpädagogik (historische, in der Gestalt Ellen Keys, aber darin steht sie nicht allein) steht so mit einem Bein auf Nietzsche und den ihn umlagernden Figuren und mit dem anderen auf der neuen, manchmal noch normativen Soziologie. Eine unbequeme Position - und die Autorinnen dieses Buchs geben sich gleich gar nicht die (ohnehin aussichtslose) Mühe, uns durch polierte Interpretationen glauben zu machen, daß wir es heute besser wüßten, auch wenn uns die heiligen Hügel vielleicht etwas verstaubter und vertrauter vorkommen. 
Auch tritt in diesem Buch von Andresen und Baader deutlich zutage, wie sich die Wissenschaftsauffassung in dieser Jahrhundertspanne und wie sich die pädagogischen Bezugnahmen auf die Wissenschaft - oder was dafür gehalten wird - geändert haben. Manch eine oder einer mag sich bei der Beschäftigung mit der historischen Reformpädagogik darüber gewundert haben, daß so einhellig evolutionistische Eugenik, moralische Präskription (beide zuammengebunden etwa in der Forderung nach der "Veredelung des Trieblebens") und das Vertrauen auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse zusammengehen und daß im Hintergrund wohl sehr vieler reformpädagogischer Denkmuster (wie bei Key, aber auch beim ganz anders argumentiereden Genfer experimentellen Pädagogen Edouard Claparède) die Erwartung geistert, daß mit dem Fortschritt der experimentellen Wissenschaften die Handlungsmaximen, die der pädagogischen Entwicklungsbetontheit entspringen, eine den Naturwis-senschaften gemäße Bestätigung erführen. Dieser Glaube bezieht sich im übrigen ja nicht nur auf die Pädagogik, sondern prägt teilweise - als Ausdehnung von der Pädagogik her - auch Gesellschaftsvorstellungen: die wissenschaftliche Gesellschaftsorganisation erscheint bei Adolphe Ferrière, einem wichtigen Korrespondenzpartner Ellen Keys in Genf auf dem Felde der "Neuen Erziehung" und der Erneuerung der Gesellschaft und der bezeichnenderweise darauf besteht, als Soziologe angesehen zu werden, als einfache Konsequenz der Tatsache, daß mit der "Neuen Erziehung" der Entwicklung der individuellen Qualitäten keine "künstlichen" oder sonstigen entwicklungshemmenden Grenzen entgegengesetzt würden; demnach schäle sich die wahre Führernatur von selbst in einem Gemeinwesen heraus und führe zu natürlicher Hierarchie. Prinzipiell dürfte Ellen Key dem nicht widersprochen haben. Unsere heutige Verwunderung über diesen unkritischen Begriff der "Höherentwicklung" - gleichsam eine Übertragung der aufklärerischen "Perfektibilität" auf die Gattung und ihre, wie die Autorinnen betonen, "lebensphilosophische" Umdeutung hat uns manchmal etwas unüberlegt die ganze Reformpädagogik beiseite legen lassen, ohne zu bedenken, daß noch jedes Demokratieverständnis auf diese Hoffnung nicht verzichten kann. Man mag  wie es viele Betrachter der Reformpädagogik tun, ihre Mythisierung des Kindes und die damit verbundene Ursprünglichkeitslegende mit Stirnrunzeln hervorheben; den Autorinnen gelingt es, diesen Verdikten mit dem Hinweis auf den pädagogischen Pragmatismus Ellen Keys den Wind aus den Segeln zu nehmen, so daß die historische Plazierung jener Frau wieder sichtbar wird. 
Reformpädagogik und die daran anschließenden Vorstellungen von Individualität, Entwicklung und sozialem Wandel - das wird in dem Buch der Autorinnen unter anderem an jenen Stellen deutlich, wo sie die gesellschaftspolitischen utopischen Elemente Ellen Keys hervorheben - sind als nichts andres zu nehmen denn als historische Formen gesellschaftlicher Selbstverständigung über Zukunft. Dies springt einem nicht allein bei der emphatischen Sprache jener Pädagogen und Pädagoginnen, Zukunftsgestalter/innen wie Ellen Key ins Auge, sondern leitet auch deren "literarische" Komposition. Deshalb ist es unnütz, von heute aus jenen Erziehungs- und Gesellschaftstheoretikern Zensuren zu erteilen, dergestalt, daß sie - und hier Ellen Key - sich "ihrer Projektionen und Konstruktionen nicht bewußt" gewesen seien. Hier scheint etwas gefordert zu werden, dessen Nicht-Vorhandesein ja gerade die historische Substanz ausmacht: hätte Key sich denn "ihrer Projektionen und Konstruktionen" "bewußt" sein können? Solcherart Einschätzungen unterlaufen den Autorinnen selten, stören aber das Ensemble der ausgestellten Stücke umso mehr, als man daraus den Eindruck bezieht, hier sei hin und wieder eine, der Geschichte enthobene Supertheorie (und man argwöhnt aufgrund mehrerer Referenzen: die Giddons`sche Modernisierungstheorie) am Werk. 
Noch einmal anders: Mir scheint, auch von Ellen Key kann man lernen, daß pädagogische, aufs individuelle und gesellschaftliche Handeln abzielende Texte (aber wenn man genauer hinschaut auch viele derer, die sich strengeren methodischen Kriterien unterwerfen) sich nur im Grad der Emphase unterscheiden, wenn man die historischen Bedingtheiten in Rechnung stellt, jedoch nicht eigentlich in den Grundlagen, solange sie sich nicht an bestimmte politische Richtungen binden und Zweckpädagogik werden. Sie sind Botschaften für fernere Zeiten und aus ferneren Zeiten zugleich und insofern der "postmodernen" Verfallsdatums-Etikett-Kleberei entzogen. 
Der kleine Band von Sabine Andresen und Meike Sophia Baader über Ellen Key trägt dazu bei, über eine genauere Betrachtung der Denkformen und utopischen Elaborate der historischen Figur Ellen Key der reformpädagogischen Derangierung insgesamt weiterhin Aktualität zu verleihen und diese gesellschaftspolitische, pädagogische Denkerin in just jene Ahnenreihe unterschiedlicher Qualität einzustellen, die sie selber beansprucht: Montaigne, Rousseau, Goethe - na und dann eben auch meinethalben Spencer: wollte denn jemand bestreiten, daß auch noch die Mißverständnisse der Evolutionstheorie, als die man diese und jene Pädagogik, diese und jene Gesellschaftstheorie bezeichnen kann, wenigstens in ihrer einen (besseren) Hälfte dazu beigetragen haben, in der Gesellschaft und im (pädagogischen) Denken und Handeln des 20. Jahrhunderts die Zuversicht zu verfestigen, daß die menschlichen Verhältnisse gestaltbar sind! Keinem von all diesen "Ahnen", auch Ellen Key nicht, haben wir zu glauben oder zu folgen, sondern von allen können wir lernen. Und dabei ist die Aspekthaftigkeit des Buches von Andresen/Baader eher eine Hilfe denn ein Hindernis, weil deutlich wird, wieviel Problematisches noch in der Reformepoche der Jahrhundertwende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert steckt, was uns heute noch immer beschäftigt. 

Erfassungsdatum: 13. 01. 2000
Korrekturdatum: 02. 04. 2004