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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Tenorth, Heinz-Elmar
Rezensiertes Werk: Tütken, Johannes: Höhere und mittlere Schulen des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Herrschaft Dannenberg und der Grafschaft Blankenburg im Spiegel der Visitationsprotokolle des Generalschulinspektors Christoph Schrader (1650-1666). Wiesbaden, 1997, (Wolfenbüttler Forschungen Bd.76), 15 Tab., 31 Abb., 652 S.
Erscheinungsjahr: 1999
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:  
Prof Dr. Heinz-Elmar Tenorth 
Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Allgemeine Pädagogik, Unter den Linden 6, 10099 Berlin 
heinz-elmar.tenorth@rz.hu-berlin.de 

Text der Rezension:

  
Rezensionen führen als Gattungsanspruch mit sich, daß sie kritische Besprechungen von Neuerscheinungen sein sollen, aber gelegentlich verlangen diese Neuerscheinungen selbst Verstöße gegen die gattungsspezifischen Erwartungen. Eine Rezension, die sich dem Buch von Johannes Tütken widmet, muß zuerst als Einladung an den Leser geschrieben werden, sich den Genuß der Lektüre dieses Buches trotz des zunächst vielleicht abschreckenden voluminösen Umfangs nicht entgehen zu lassen. Ein solches Lob ist jedenfalls bereits notwendig, noch bevor der Rezensent seinen klassischen Pflichten genügt, über Thema und Anspruch, Quellen, Analyse und Ertrag einer historischen Untersuchung zu berichten. Tütken will zunächst gelobt, dann gelesen sein, denn er hat in einem Revier, in dem die (deutschsprachige) historische Bildungsforschung sich relativ wenig bewegt, einen Markstein gesetzt, an dem wir uns künftig orientieren können und sollen. 
Sein Thema ist "das Schulwesen des 17. Jahrhunderts", seine Ausgangsthese ist nur zu unterstreichen, daß wir hier "eine Forschungslücke" vor uns haben, seine Arbeit schließt diese Lücke in der subtilen Analyse eines - wie es sich für die Zeit gehört - regionalen Exempels. Dabei kann ich darauf verzichten, die präzise Beschreibung der regionalen Erstreckung seines Untersuchungsgebietes hier zu wiederholen, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts für Braunschweig-Wolfenbüttel gilt (Tütken tut das selbstverständlich), wichtiger ist es, seine zentrale Quelle vorzustellen: Es sind die Visitationsberichte des für die Zeit von 1649-1678 zum Generalschulinspektor im Nebenamt berufenenen Professors der Eloquenz an der Universität Helmstedt, Christoph Schrader (1601-1680). Die Tatsache, daß ein Universitätsmann, also nicht ein Mann des Konsistoriums und der Kirche, in dieses Amt berufen wird, ist selbst schon bemerkenswert, Zeichen für die Säkularisierung der Schulaufsicht" (107), die sich nach dem 30jährigen Krieg abzeichnet. Schraders für den Zeitraum von 1650 bis 1666 überlieferte Berichte über seine Visitationen der höheren und mittleren Schulen des Fürstentums Wolfenbüttel (etc.) sind die Grundlage von Tütkens Analyse, "im Spiegel" dieser "Visitationsprotokolle" (deren vollständige Edition angekündigt wird) beschreibt Tütken den Zustand und die Entwicklung der Schulen. Dabei darf man sich von dem bescheiden formulierten Anspruch, die regionalen Schulen "im Spiegel" dieser Visitationsprotokolle zu beschreiben, nicht täuschen lassen. Sie sind zwar die wesentliche Quelle für Tütkens Analyse, aber er sieht in diesem Spiegel die Realität der Schulen nur deswegen so gut, weil er nicht allein die Forschungsliteratur für seinen Zeitraum (die sich dann doch als nicht so dürftig herausstellt, wie man nach den einleitenden Bemerkungen zur Lage der Forschung befürchten mußte), sondern auch die Schulverhältnisse der Zeit nach dem 30jährigen Krieg, sowie vorher und danach, so intensiv kennt, daß jenseits des regionalen Exempels die Bildungsverhältnisse der Zeit vor der Aufklärung insgesamt beleuchtet werden. Vor diesem Hintergrund und mit dieser Quelle liefert Tütken, kurz gesagt, ein Bild der Schulen, das wir in dieser Dichte und Klarheit bisher nicht hatten. 
Nach einer Vorstellung der Forschungslage und -probleme, nach einer biographischen Einführung seines Gewährsmannes Schrader und seines Bildungsgangs vom protestantischen Pfarrhaus bis in die Universität und sein öffentliches Amt, nach einer Darstellung seiner Arbeit während der Visitationen und an den Visitationsberichten (Kap. 1. - 3.) sind seine Themen dem Alltag einer Schule entsprechend geordnet: Kap. 4 stellt "Funktionen und Lehrpläne der Lateinschulen höherer und mittlerer Art" dar, Kap. 5 "Das Schulsystem des Herzogtums und seine drei Schularten", Kap. 6 gilt dem "Lehrer: Schulehalten aus Profession oder als Interimstätigkeit", Kap. 7 der "Bildungswerbung und Begabungsförderung", also dann auch den Schülern, und Kap. 8 den Themen "Schulbesuch und Schulqualität: Schwankungen und ihre Ursachen". Nach mehr als 590 Seiten wird der Leser, bis dahin bis zur Erschöpfung mit der historischen Realität konfrontiert, zugleich aber dank der Formulierungsgabe des Autors auf das Angenehmste unterhalten, mit einer "Zusammenfassung" der Ergebnisse und einem "Ausblick" auf die Anschlußthemen und die Folgezeit belohnt. Für eilige Leser mag es hinreichen, sich zunächst auf diese Seiten (S. 593-625) zu beschränken, früher oder später sollte man den Text selbst aufsuchen, um das Vergnügen und den Erkenntnisgewinn abzurunden. Tütken bietet nämlich zusätzlich noch hilfreiche Tabellen (Lehrpläne, Organisationsinformationen für Schulen, Zahlen über Schülerfrequenzen, Lehrerdaten), zahlreiche schöne Abbildungen und ein überaus feines systematisches und Personen-Register. 
Selbstverständlich kann ich an dieser Stelle - quasi in einer Zusammenfassung der Zusammenfassung - weder den Ertrag der Arbeit noch die Einzelergebnisse von Tütkens Analyse auch nur annähernd wiedergeben. Die Gliederung zeigt an, was man erwarten darf, die Ausführung hält, was Tütken verspricht, bis hin zu den Details. Er liefert eine Studie über den relativ erfolgreichen Versuch, die Qualität von Schulen zu definieren, diese Standards regional zu implementieren und durch jährliche Visitationen durchzusetzen. Das sind auch nicht die Standards einer "Schwarzen Pädagogik", denen der Schulvisitator zur Geltung verhelfen will, sondern die Gütekriterien eines humanistischen Gelehrten alter Schule, der primär an Sprachen interessiert ist und letztlich an den Kompetenzen, die in diesem Umkreis von den Universitäten verlangt und den Schulen vorgegeben werden. Nebenher wird auch bestätigt, was man inzwischen vermuten darf, daß der Staat bis zum 18. Jahrhundert zwar Schule aus seinem Handlungskreis nicht ausschließt, daß vielmehr Regenten wie der Braunschweiger Herzog August gemeinsam mit dem Inspektor Schrader an Schule sehr interessiert sind, daß der Staat aber keineswegs zeitlich kontinuierlich und regional bis zum letzten Ort die Gestaltungsmacht - und -absicht hat, seine Absichten auch bis in die Einzelheiten hinein durchzusetzen. Der Schulinspektor Schrader kann mit seinem Engagement aber ausgleichen, was sich dann später als "Vollzugsdefizit der exekutiven Staatsorgane" unübersehbar zeigt. Schrader jedenfalls, so zeigt Tütken, setzt noch den Standard der "Qualität", den er für notwendig hält, durch. Tütken zeigt in den wichtigsten schulischen Handlungsbereichen Schraders Möglichkeiten, die relativ groß sind, und auch die Probleme und ihre Ursachen, die ebenfalls nicht fehlen, bis hin zu den Alkoholproblemen der Lehrer und Schüler. Für diejenigen Leser, die Epochenkontexte und große Begriffe erwarten - den Pietismus, gar die frühe Aufklärung - , sind die Befunde relativ enttäuschend oder, wie man will, für die Bedeutung regionaler Faktoren sehr erhellend. Angesichts der lokalen Kultur und des Zeitraums sind solche Spuren schlicht nicht zu finden. 
Neben der Konzentration auf das "Qualitäts"problem, neben den bekannten und gelegentlich auch den nicht unerwarteten, in diesem Detailreichtum aber seltenen Darstellungen, z.B. in der Schilderung der Lage der Lehrer, neben der Darstellung der Lehrplanstrukturen, ihres Wandels weg vom Althumanismus und ihrer Umsetzung im Unterricht, bietet der Autor seinen Lesern immer neu auch Überraschungen. Das geschieht nicht nur - eher nebenher, aber kontinuierlich, - durch ironische Bemerkungen, plausible Aktualisierungen (z.B. im Bezug auf Adornos Lehrerartikel, S. 462) und nützliche Kommentare (u.a. angesichts eines schlechten Lateinunterrichts, über den etwas entsetzten Schrader: "Vermutlich wurde sein feines klassisches Sensorium durch Geruchsspuren von Küchenlatein irritiert."  (S. 254), sondern auch durch die Wahl der Begrifflichkeit.  
Für das Schulsystem wird z.B. die seit D.K.Müllers Arbeiten zum frühen 19. Jahrhundert schon bekannte These von der "gesamtschulähnlichen Struktur" der Schulen, hier: der Lateinschulen "als Gesamtschulen", in seine Analyse aufgenommen. Wenn man berücksichtigt, daß hier - wie schon bei vergleichbaren Diagnosen für das 19. Jahrhundert - die Elementarschulen nicht mit gemeint sind, dann scheint mir das eine durchaus produktive Historisierung eines im Kern ja aktuellen Ausdrucks. Tütken hält damit fest, daß Lehraufgaben und Schülerrekrutierung in der mittleren und höheren Schule, einer "Mehrzweckeinrichtung" (S.135), sehr heterogen waren, auch: auf Bildungswerbung und -förderung regelrecht verpflichtet (wie Tütken mit viel Sinn für die Funktion des Chorsingens dann auch schulisch belegt) und sozial offen, mit eigenen Folgeproblemen: "Dadurch war aber auch das höhere Lernen von unten her durch Ärmlichkeit und Schmuddeligkeit mitgeprägt und sollte seinen Armeleute-Geruch [erneut also eine olfaktorische Argumentation, H.-E.T.] erst im 19. Jahrhundert verlieren." (S.604). Tütken zeigt, wie sich die Schule erst allmählich funktional spezifiziert, vor allem auf die Erwartungen der Universität hin, mit geringeren Schülerzahlen in den oberen Klassen, dabei aber immer auch auf die Interessen eines Publikums Rücksicht nimmt, das je lokale Erwartungen formuliert bzw. unterschiedlichen Bedingungen folgt, in der Residenzstadt Wolfenbüttel anderen als in der Universitätsstadt Helmstedt, in Schöningen ("Schule einer fürstlichen Stiftung") anderen als in Blankenburg oder Gandersheim ("Schule am Rande des Abstiegs"). Tütken schließt sich auch insofern an die Sprache der jüngeren regionalen Schulforschung zum 19. Jahrhundert an, wenn er u.a. von der "Systemlogik des Schulwesens" spricht oder sehr intensiv das Problem der Klassifikation der Schulen und des Verhältnisses von Schulbezeichnungen und Schulrealität diskutiert (S. 395 ff.). Mit dieser Analysetechnik und -begrifflichkeit macht er seine Analysen anschlußfähig an jüngere Arbeiten und aussagekräftig für die Muster der langfristigen Schulentwicklung. Dann verdient neben der Hervorhebung der lokalregionalen Bedingungen selbstverständlich auch die Tatsache Erwähnung, daß die Mädchen in diesem System die benachteiligte Gruppe darstellen, obwohl es in diesen protestantischen Lateinschulen, freilich nur in denen 2. Ordnung, gelegentlich auch bereits koedukativen Unterricht gab. 
Vielleicht reichen diese Hinweise, um die Lust auf eine intensive Lektüre zu wecken und die "heile Lateinschule alten Stils" am Vorabend ihrer Verabschiedung kennenzulernen, bevor im 18. Jahrhundert die Aufklärung und der Neuhumanismus, aber auch ein anderer Staat sich in anderer Weise der Schule widmen. Die weißen Flecken unserer bildungshistorischen Landkarte sind für das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel (etc.) jetzt vorzüglich getilgt. Tütkens Mahnung sollte aber nicht ungehört verhallen, daß solche Flecken für viele andere Regionen in dieser Zeit nach wie vor bestehen. Die Pädagogik beginnt nicht mit Rousseau, die frühe Neuzeit ist reizvoller als die Pädagogen und Bildungshistoriker anscheinend meinen, und Johannes Tütken hat beispielhaft gezeigt, welche Entdeckungen hier noch zu machen sind. Vielleicht gelingt es der künftigen Forschung dabei ja auch, ein weiteres von Tütken präzise bezeichnetes Forschungsdefizit zu bearbeiten, "die Rolle von Stadttoren" nämlich. Sie ist "in der Geschichte der Pädagogik" tatsächlich wenig bearbeitet, für eine psychoanalytische Interpretation der Theorie Rousseaus scheint ihre Klärung sogar unverzichtbar. Wir sollten Tütkens einschlägige Mahnung (S. 117) bei künftigen Forschungen beherzigen; der Mann kennt sich nämlich bei Forschungsdefiziten, deren Bearbeitung Ertrag verspricht, offenkundig sehr gut aus. 

Erfassungsdatum: 31. 08. 1999
Korrekturdatum: 02. 04. 2004