Text der Rezension: |
Rezensionen führen
als Gattungsanspruch mit sich, daß sie kritische Besprechungen von
Neuerscheinungen sein sollen, aber gelegentlich verlangen diese Neuerscheinungen
selbst Verstöße gegen die gattungsspezifischen Erwartungen.
Eine Rezension, die sich dem Buch von Johannes Tütken widmet, muß
zuerst als Einladung an den Leser geschrieben werden, sich den Genuß
der Lektüre dieses Buches trotz des zunächst vielleicht abschreckenden
voluminösen Umfangs nicht entgehen zu lassen. Ein solches Lob ist
jedenfalls bereits notwendig, noch bevor der Rezensent seinen klassischen
Pflichten genügt, über Thema und Anspruch, Quellen, Analyse und
Ertrag einer historischen Untersuchung zu berichten. Tütken will zunächst
gelobt, dann gelesen sein, denn er hat in einem Revier, in dem die (deutschsprachige)
historische Bildungsforschung sich relativ wenig bewegt, einen Markstein
gesetzt, an dem wir uns künftig orientieren können und sollen.
Sein Thema ist "das Schulwesen
des 17. Jahrhunderts", seine Ausgangsthese ist nur zu unterstreichen, daß
wir hier "eine Forschungslücke" vor uns haben, seine Arbeit schließt
diese Lücke in der subtilen Analyse eines - wie es sich für die
Zeit gehört - regionalen Exempels. Dabei kann ich darauf verzichten,
die präzise Beschreibung der regionalen Erstreckung seines Untersuchungsgebietes
hier zu wiederholen, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts für Braunschweig-Wolfenbüttel
gilt (Tütken tut das selbstverständlich), wichtiger ist es, seine
zentrale Quelle vorzustellen: Es sind die Visitationsberichte des für
die Zeit von 1649-1678 zum Generalschulinspektor im Nebenamt berufenenen
Professors der Eloquenz an der Universität Helmstedt, Christoph Schrader
(1601-1680). Die Tatsache, daß ein Universitätsmann, also nicht
ein Mann des Konsistoriums und der Kirche, in dieses Amt berufen wird,
ist selbst schon bemerkenswert, Zeichen für die Säkularisierung
der Schulaufsicht" (107), die sich nach dem 30jährigen Krieg abzeichnet.
Schraders für den Zeitraum von 1650 bis 1666 überlieferte Berichte
über seine Visitationen der höheren und mittleren Schulen des
Fürstentums Wolfenbüttel (etc.) sind die Grundlage von Tütkens
Analyse, "im Spiegel" dieser "Visitationsprotokolle" (deren vollständige
Edition angekündigt wird) beschreibt Tütken den Zustand und die
Entwicklung der Schulen. Dabei darf man sich von dem bescheiden formulierten
Anspruch, die regionalen Schulen "im Spiegel" dieser Visitationsprotokolle
zu beschreiben, nicht täuschen lassen. Sie sind zwar die wesentliche
Quelle für Tütkens Analyse, aber er sieht in diesem Spiegel die
Realität der Schulen nur deswegen so gut, weil er nicht allein die
Forschungsliteratur für seinen Zeitraum (die sich dann doch als nicht
so dürftig herausstellt, wie man nach den einleitenden Bemerkungen
zur Lage der Forschung befürchten mußte), sondern auch die Schulverhältnisse
der Zeit nach dem 30jährigen Krieg, sowie vorher und danach, so intensiv
kennt, daß jenseits des regionalen Exempels die Bildungsverhältnisse
der Zeit vor der Aufklärung insgesamt beleuchtet werden. Vor diesem
Hintergrund und mit dieser Quelle liefert Tütken, kurz gesagt, ein
Bild der Schulen, das wir in dieser Dichte und Klarheit bisher nicht hatten.
Nach einer Vorstellung der
Forschungslage und -probleme, nach einer biographischen Einführung
seines Gewährsmannes Schrader und seines Bildungsgangs vom protestantischen
Pfarrhaus bis in die Universität und sein öffentliches Amt, nach
einer Darstellung seiner Arbeit während der Visitationen und an den
Visitationsberichten (Kap. 1. - 3.) sind seine Themen dem Alltag einer
Schule entsprechend geordnet: Kap. 4 stellt "Funktionen und Lehrpläne
der Lateinschulen höherer und mittlerer Art" dar, Kap. 5 "Das Schulsystem
des Herzogtums und seine drei Schularten", Kap. 6 gilt dem "Lehrer: Schulehalten
aus Profession oder als Interimstätigkeit", Kap. 7 der "Bildungswerbung
und Begabungsförderung", also dann auch den Schülern, und Kap.
8 den Themen "Schulbesuch und Schulqualität: Schwankungen und ihre
Ursachen". Nach mehr als 590 Seiten wird der Leser, bis dahin bis zur Erschöpfung
mit der historischen Realität konfrontiert, zugleich aber dank der
Formulierungsgabe des Autors auf das Angenehmste unterhalten, mit einer
"Zusammenfassung" der Ergebnisse und einem "Ausblick" auf die Anschlußthemen
und die Folgezeit belohnt. Für eilige Leser mag es hinreichen, sich
zunächst auf diese Seiten (S. 593-625) zu beschränken, früher
oder später sollte man den Text selbst aufsuchen, um das Vergnügen
und den Erkenntnisgewinn abzurunden. Tütken bietet nämlich zusätzlich
noch hilfreiche Tabellen (Lehrpläne, Organisationsinformationen für
Schulen, Zahlen über Schülerfrequenzen, Lehrerdaten), zahlreiche
schöne Abbildungen und ein überaus feines systematisches und
Personen-Register.
Selbstverständlich
kann ich an dieser Stelle - quasi in einer Zusammenfassung der Zusammenfassung
- weder den Ertrag der Arbeit noch die Einzelergebnisse von Tütkens
Analyse auch nur annähernd wiedergeben. Die Gliederung zeigt an, was
man erwarten darf, die Ausführung hält, was Tütken verspricht,
bis hin zu den Details. Er liefert eine Studie über den relativ erfolgreichen
Versuch, die Qualität von Schulen zu definieren, diese Standards regional
zu implementieren und durch jährliche Visitationen durchzusetzen.
Das sind auch nicht die Standards einer "Schwarzen Pädagogik", denen
der Schulvisitator zur Geltung verhelfen will, sondern die Gütekriterien
eines humanistischen Gelehrten alter Schule, der primär an Sprachen
interessiert ist und letztlich an den Kompetenzen, die in diesem Umkreis
von den Universitäten verlangt und den Schulen vorgegeben werden.
Nebenher wird auch bestätigt, was man inzwischen vermuten darf, daß
der Staat bis zum 18. Jahrhundert zwar Schule aus seinem Handlungskreis
nicht ausschließt, daß vielmehr Regenten wie der Braunschweiger
Herzog August gemeinsam mit dem Inspektor Schrader an Schule sehr interessiert
sind, daß der Staat aber keineswegs zeitlich kontinuierlich und regional
bis zum letzten Ort die Gestaltungsmacht - und -absicht hat, seine Absichten
auch bis in die Einzelheiten hinein durchzusetzen. Der Schulinspektor Schrader
kann mit seinem Engagement aber ausgleichen, was sich dann später
als "Vollzugsdefizit der exekutiven Staatsorgane" unübersehbar zeigt.
Schrader jedenfalls, so zeigt Tütken, setzt noch den Standard der
"Qualität", den er für notwendig hält, durch. Tütken
zeigt in den wichtigsten schulischen Handlungsbereichen Schraders Möglichkeiten,
die relativ groß sind, und auch die Probleme und ihre Ursachen, die
ebenfalls nicht fehlen, bis hin zu den Alkoholproblemen der Lehrer und
Schüler. Für diejenigen Leser, die Epochenkontexte und große
Begriffe erwarten - den Pietismus, gar die frühe Aufklärung -
, sind die Befunde relativ enttäuschend oder, wie man will, für
die Bedeutung regionaler Faktoren sehr erhellend. Angesichts der lokalen
Kultur und des Zeitraums sind solche Spuren schlicht nicht zu finden.
Neben der Konzentration
auf das "Qualitäts"problem, neben den bekannten und gelegentlich auch
den nicht unerwarteten, in diesem Detailreichtum aber seltenen Darstellungen,
z.B. in der Schilderung der Lage der Lehrer, neben der Darstellung der
Lehrplanstrukturen, ihres Wandels weg vom Althumanismus und ihrer Umsetzung
im Unterricht, bietet der Autor seinen Lesern immer neu auch Überraschungen.
Das geschieht nicht nur - eher nebenher, aber kontinuierlich, - durch ironische
Bemerkungen, plausible Aktualisierungen (z.B. im Bezug auf Adornos Lehrerartikel,
S. 462) und nützliche Kommentare (u.a. angesichts eines schlechten
Lateinunterrichts, über den etwas entsetzten Schrader: "Vermutlich
wurde sein feines klassisches Sensorium durch Geruchsspuren von Küchenlatein
irritiert." (S. 254), sondern auch durch die Wahl der Begrifflichkeit.
Für das Schulsystem
wird z.B. die seit D.K.Müllers Arbeiten zum frühen 19. Jahrhundert
schon bekannte These von der "gesamtschulähnlichen Struktur" der Schulen,
hier: der Lateinschulen "als Gesamtschulen", in seine Analyse aufgenommen.
Wenn man berücksichtigt, daß hier - wie schon bei vergleichbaren
Diagnosen für das 19. Jahrhundert - die Elementarschulen nicht mit
gemeint sind, dann scheint mir das eine durchaus produktive Historisierung
eines im Kern ja aktuellen Ausdrucks. Tütken hält damit fest,
daß Lehraufgaben und Schülerrekrutierung in der mittleren und
höheren Schule, einer "Mehrzweckeinrichtung" (S.135), sehr heterogen
waren, auch: auf Bildungswerbung und -förderung regelrecht verpflichtet
(wie Tütken mit viel Sinn für die Funktion des Chorsingens dann
auch schulisch belegt) und sozial offen, mit eigenen Folgeproblemen: "Dadurch
war aber auch das höhere Lernen von unten her durch Ärmlichkeit
und Schmuddeligkeit mitgeprägt und sollte seinen Armeleute-Geruch
[erneut also eine olfaktorische Argumentation, H.-E.T.] erst im 19. Jahrhundert
verlieren." (S.604). Tütken zeigt, wie sich die Schule erst allmählich
funktional spezifiziert, vor allem auf die Erwartungen der Universität
hin, mit geringeren Schülerzahlen in den oberen Klassen, dabei aber
immer auch auf die Interessen eines Publikums Rücksicht nimmt, das
je lokale Erwartungen formuliert bzw. unterschiedlichen Bedingungen folgt,
in der Residenzstadt Wolfenbüttel anderen als in der Universitätsstadt
Helmstedt, in Schöningen ("Schule einer fürstlichen Stiftung")
anderen als in Blankenburg oder Gandersheim ("Schule am Rande des Abstiegs").
Tütken schließt sich auch insofern an die Sprache der jüngeren
regionalen Schulforschung zum 19. Jahrhundert an, wenn er u.a. von der
"Systemlogik des Schulwesens" spricht oder sehr intensiv das Problem der
Klassifikation der Schulen und des Verhältnisses von Schulbezeichnungen
und Schulrealität diskutiert (S. 395 ff.). Mit dieser Analysetechnik
und -begrifflichkeit macht er seine Analysen anschlußfähig an
jüngere Arbeiten und aussagekräftig für die Muster der langfristigen
Schulentwicklung. Dann verdient neben der Hervorhebung der lokalregionalen
Bedingungen selbstverständlich auch die Tatsache Erwähnung, daß
die Mädchen in diesem System die benachteiligte Gruppe darstellen,
obwohl es in diesen protestantischen Lateinschulen, freilich nur in denen
2. Ordnung, gelegentlich auch bereits koedukativen Unterricht gab.
Vielleicht reichen diese
Hinweise, um die Lust auf eine intensive Lektüre zu wecken und die
"heile Lateinschule alten Stils" am Vorabend ihrer Verabschiedung kennenzulernen,
bevor im 18. Jahrhundert die Aufklärung und der Neuhumanismus, aber
auch ein anderer Staat sich in anderer Weise der Schule widmen. Die weißen
Flecken unserer bildungshistorischen Landkarte sind für das Herzogtum
Braunschweig-Wolfenbüttel (etc.) jetzt vorzüglich getilgt. Tütkens
Mahnung sollte aber nicht ungehört verhallen, daß solche Flecken
für viele andere Regionen in dieser Zeit nach wie vor bestehen. Die
Pädagogik beginnt nicht mit Rousseau, die frühe Neuzeit ist reizvoller
als die Pädagogen und Bildungshistoriker anscheinend meinen, und Johannes
Tütken hat beispielhaft gezeigt, welche Entdeckungen hier noch zu
machen sind. Vielleicht gelingt es der künftigen Forschung dabei ja
auch, ein weiteres von Tütken präzise bezeichnetes Forschungsdefizit
zu bearbeiten, "die Rolle von Stadttoren" nämlich. Sie ist "in der
Geschichte der Pädagogik" tatsächlich wenig bearbeitet, für
eine psychoanalytische Interpretation der Theorie Rousseaus scheint ihre
Klärung sogar unverzichtbar. Wir sollten Tütkens einschlägige
Mahnung (S. 117) bei künftigen Forschungen beherzigen; der Mann kennt
sich nämlich bei Forschungsdefiziten, deren Bearbeitung Ertrag verspricht,
offenkundig sehr gut aus.
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